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ZEITSCHRIFT
FÜR
DEUTSCHE PHILOLOGIE
HERAUSGEGEBEN
VON
Dr. ernst HÖPFNER
DIRBCTOR D. BBALSCHULE Z. IIBIL. GRIBT
Zu IlRBSIiAU
UND
Dr. JULIUS ZACHER
rnoPESsoR an der Universität
zu HALLE
DRITTER BAND
HALLE
VKBLAG BEB BUCUHANDLUN» DES WAISENHAUSKB
1871
VERZEICHNIS DER BISHERIGEN MITARBEITER.
Dr. Arthur Amelung, privatdocent in Dorpat.
Dr. G. Andresen, privatdocent in Bonn.
Prof. dr. Aug. Anschütz in Halle.
Gymnasiallehrer dr. E. Bernhardt in Elberfeld.
Gymnasiallehrer dr. Ludw. Bossler in Gera.
Dr. J. B rakelmann in Paris, f
Prof. dr. Berthold Delbrück in Jena.
Dr. B. Döring in Dresden.
Gynmasiallehrer dr. Osk. Erdmann in Graudenz.
Gymnasiallehrer dr. Ge. Ger 1 and in Halle.
Redakteur H. Gradl in Eger.
Dr. Justus Grion, director des lyceums in Verona.
Oberlehrer dr. Haag in Berlin.
Director prof. dr. W. Hertzberg in Bremen.
Prof. dr. Moriz Heyne in Basel.
Prof. dr. Rud. Hildebrand in Leipzig.
Director dr. Ernst Höpfner in Breslau.
Oberlehrer dr. Oskar Jänicke in Berlin.
Dr. E. Jessen in Kopenhagen.
Prof. dr. Adalbert von Keller in Tübingen.
Prof. dr. C. Fr. Koch in Eisenach.
Gymnasiallehrer dr. Artur Köhler in Dresden.
Bibliothekar dr. Reinhold Köhler in Weimar.
Dr. Eugen Kölbing in Dresden.
Director prof. dr. Adalbert Kuhn in Berlin.
Dr. Ernst Kuhn, privatdocent in Halle.
Geh. reg. r. prof. dr. Heinrich Leo in Halle.
Staatsrat dr. Leverkus in Oldenburg, f
Prof. dr. Felix Liebrecht in Lüttich.
Oberlehrer dr. Aug. Lübben in Oldenburg.
Prof. dr. J. Mähly in Basel.
Prof. dr. Ernst Martin in Freiburg.
Prof. dr. Kon r ad Maurer in München.
IV VEBZEICHNIS DEB MITARBEITER
Dr. Elard Hugo Meyer, lehrer an der haudelsschule
in Bremen.
Prof. dr. Leo Meyer in Dorpat.
Prof. dr. Theodor Möbius in Kiel.
Prof. dr. G. H. F. Nesselmann in Königsberg,
lleallelirer dr. C. Redlich in Hamburg.
Dr. Max Rieger in Darmstadt.
Prof. dr. Ernst Ludw. Rochholz in Aarau.
Prof. dr. Heinr. Rückert in Breslau.
Staatsrat dr. A. v. Schiofner in Petersburg.
Prof. dr. Richard Schröder in Bonn.
Dr. E. Stein mey er in Berlin.
Gymnasiallehrer dr. B. Suphan in Berlin.
Prof. dr. S. Vögelin in Zürich.
Prof. dr. Wilhelm Wackernagel in Basel, f
Prof. dr. Karl Weinhold in Kiel.
Franz Wieser in Innsbruck.
Oberlehrer dr. E. Wörner in St. Afra bei Meissen.
F. Woeste in Iserlohn.
Prof. dr. Julius Zacher in Halle.
Prof dr. J. V. Zingerle in Innsbruck.
Dr. J. Zupitza, privatdocent in Breslau.
I N H A L T.
-vlU-
Über die Eddalieder. Heimat, alter, ebaructT. Von K. .Icssni 1
Nachträge l>."»1. UH
Die Nithardhandschrift und die eide vi»n Strassbur^. V<in .1. Ilrakrlnian n . s.'»
Brndutfloke aus dem Willelialin von Oran.sf d<.'s Ulricli von iliin 'I'ürliii. Vnn
Haag :»ri
Virgil und Heinrich von Veldeke. Von E. WürntT !<»•'»
Beridit über die neue deutsche niunilartlic)if iittt-ratur. Von II. Kurki-rt Ml
Ein dmckfehlcr in Wieland« werken. Von K. Köhler . . •_*««•
Beiträge zur deutschen nietrik. Von Arthur Am clun;; J.V»
Zn Beinke Voss. Von A. Liibben . ... :*>iir.
Der handschriftliche text des Ludwi^^sliedes nach neuer ali>e}irit't d«s hi-rrn dr.
W. Arndt. Von J. Zacher . J«»7
Über die heimat und das alter eines nnrdi:>chen sagenkrei.M's. Von Lu^'on
Kölbing .;i.;
Die conflaenz der consonanten und die .süddeutschen ]ihibi]ti,i;en. V«»n A. v. Ki-llfr '.\\*\
Altvil Von Leverkus und A. Lübben :;i7
Mnndartliche namen de» cretiuianius. Von K. L. Koch holz :>J1
Zorn yocaUsmus der deutschen dialecte. I)t'r au- laut. Vnn II. <ir;i>ll . . öl'J
Beiträge ans dem niederdeut.-><:hen. Von F. \Vi»este o.'»ti
Znm Beovnlfl Von M. Kiejrer :\^l
Zur Alexandersage. II. Zu .Inlii Valerii >']äx**iu*:. Von .1. Miibly llti
Über Gerhard von Viane. Vou E. H. Meyer {jj
Herders Volkslieder und .bthann v. Müllers ...Stiiiuu-rn der \«dker in lieliTii."
Von B. Suphan !. ^
Goethiana. Von B. K«jbler . ... . . ... ITC*
Vermischtes:
Adolf Holtzmann. Xekrol-^;; von E 51 artin . . ._*'»!
Jnlios Brakelmaun. Nekrolo:: von J. Zacher . . *J<<7
Litteratur:
Lc besant de dieu von Ouillaume le clerc <Je N'^rjuaii-iie . h-.rju.-j:. \"ii E Mji-
tin; angez. von J. I>rakeliriai<n 21"
K. Maurer, die Skidarima : an^ez. v^n TL. 3iöbiua . . . ... sJl
So der wall, huf*'udepokerjia af bveiioka öj'rakets utoildnijj;: : ^uj'.z. v..u Th.
MöbiuB 1*;:^
VI INHALT
K. Weinhold, die gotische spräche im dienste des Christentums; angez. von
E. Bernhardt 236
Deutsches heldenbuch. V. Dietrichs aben teuer von Albrecht von Kemenaten,
herausg. von J. Zupitza; angez. von E. Steinmeyer 237
Haym, die romantische schule; angez. von K. Weinhold ^ . . 244
Otfrid, übersetzt von Joh. Kelle; angez. von J. Zupitza 246
Ph. Dietz, Wörterbuch zu Luthers deutschen Schriften; angez von R. Hilde -
brand 358
Jegor V. Sivers, Herder in Riga; derselbe, humanität und nationalität ;
A. Kohut, Herder und die humanitätsbestrebungen der neuzeit I.; angez.
von B. Suphan 365
Redlich, die poetischen beitrage zum Wandsbecker Bothen; angez. von
K. Weinhold 370
A. Joly, Benoit de Sainte-More et le roman de Troie; angez. v. E. Wörner 372
R. V. Raum er, gcschichte der germanischen philologic; angez. von K. Wein-
hold 481
Jacob Grimm, kleinere Schriften; angez. von 0. Jänicke 483
August Werner, Herder als theologe; angez. von B. Suphan 490
Register von Konrad Zacher 495
• ♦
ÜBER DIE EDDALIEDER
HEIMAT, ALTER, CHARAKTER.
In Scandinavien und Dänemark streitet man sich seit einer reihe
von Jahren über das speciellere anrecht an die sogenannte ^,Edda-poe-
sie." ^ Am wenigsten haben sich die schwedischen gelehrten an diesem
Zwiste beteiligt, der um so hitziger zwischen Dänen und Norwegern ent-
brant ist Norwegische altertumsforscher wollen diese poesie als eine
speciel norwegische angesehen wissen. Ihrer meinung nach wären, •
wenngleich die nachbarvölker ähnliche lieder gleicher form gehabt hät-
ten, doch die Eddalieder, und zwar in der auf uns gekommeneu gestalt,
samt und sonders norwegische producte , von den Isländern bewahrt und
niedergeschrieben. Dieser an und für sich keinesweges extravaganten,
im gegenteil auf den ersten blick sehr plausibeln ansieht wollen die
Dänen (denen sich im ganzen genommen die Schweden, obschon mit
geringerem eifer ; anzuschliessen geneigt sind) durchaus nicht beipflichten.
„Der bewährte Patriotismus der dänischen gelehrten" sträubt sich gegen
etwas so „ antiscandinavisches ," so „unnationales." Meine landsleute
wollen die isländische litteratur so weit möglich in dem einen oder dem
andern sinne zu etwas „gemeinsam -nordischen"* machen, ein bestre-
ben, das sich vor allem auf die Eddalieder richten muss. Die gemäs-
sigteren unter den dänischen patrioten haben sich damit begnügt, den
norwegischen theorien diesen umfänglicheren begriff „Gesamt -Nor-
disch" (auch „Scandinavisch," in solchem sinne genommen, dass es
Dänisch in sich begreift) entgegenzuhalten, ohne den Norwegern einen
anteil am entstehen der Eddalieder geradehin abzusprechen , obschon man
wol ersieht, dass ihnen der vermeintliche dänische anteil mit besonderm
übergewicht am herzen liegt. Der sich fortwährend steigernde „nationale"
eifer der dänischen altertumsforscher hat sich jedoch nicht auf die länge
mit so bescheidener unbestimtheit vertragen können. Mit dem lebhaf-
testen beifall hat man eine lehre aufgenommen, wonach den Norwegern,
und auch wenigstens den eigentlichen Schweden (denen im alten Svea-
1) YgL das bezügliche in den artikehi von Maurer und Möbius im ersten bände
dieser Zeitschrift.
2) „ Fallesnordisk/'
ZB1T80HB. F. DEUT8CHB PUILOL. BD. III. 1
E. JESSEN
rike) , aller anteil am entstehen der Eddalieder abzusprechen wäre , indem
dieselben, und zwar wesentlich in der noch vorliegenden gestalt (gröss-
tenteils sogar „wort für wort" unverändert) einem „litterarischen gol-
denen Zeitalter des älteren und mittleren eisenalters ^ in Südscandinavien
(Dänemark und wol auch das alte Göta-rike)" entstammen sollten,
wogegen den Norwegern ein späteres silbernes Zeitalter einzuräumen
wäre, in welchem andere von den auf Island niedergeschriebenen gedich-
ten entstanden, so wie femer die mythischen erzählungen in der pro-
saischen Edda als norwegische (oder gar zum teil isländische) verzerrte
aUegorisierende Umbildungen von mythen, als Volksmärchen des mittel-
aKers, anzusehen wären.* Gegen meine landsleute habe ich mich (in
ein paar dätiisch geschriebenen aufsätzen) insofern an die Norweger
geschlossen , als ich , ohne überall jede möglichkeit dänischer oder schwe-
discher herkunft durchaus zu läugnen, die eddalieder doch im ganzen
genommen für specielleres eigentum des norwegischen („norrönen") volks-
stammes ansehen muss, jedoch mit der bedeutenden modification, dass
ich die mehrzahl der lieder für isländische bearbeitungen älterer dich-
tung. halte, und nur bei einigen liedern an wesentlich unveränderte Über-
lieferung buchstäblich gesprochen norwegischer producte glauben möchte.
Die gedichte also kann ich nicht „gesamtnordische," noch viel weni-
ger „ südscandinavische " oder dänische nennen; wogegen es sich von
selbst versteht, dass niemand die Verbreitung über den ganzen norden
sowohl der mythologie als der heldensage , die das thema der Eddalieder
abgaben, läugnen könte; was mich indessen nicht davon abhalten kann,
mich auch in dieser beziehung der benennung „gesamt -nordisch" zu
widersetzen, und statt dessen die benennung „ gesamt- germanisch " *
festzuhalten, indem ja die mythologie der deutschen Völker erweislich
wesentlich ganz dieselbe war wie die norwegische, und die sage von
den Welisungen und den Nibelungen nicht nur bekantlich bei den Deut-
schen wo möglich noch verbreiteter war als im norden, sondern, meiner
ansieht nach, sogar erweislich bei den Deutschen entstand, und im nor-
den nur als fremdes gut eingeffihrt wurde, so dass bei dieser sage der
ausdruck „ gesamtgerraanisch " dem norden sogar noch zu viel lässt. Es
mag andere sagen gegeben haben, die über den ganzen norden verbrei-
1) Über die ausdrücke: „stein-, bronce-, erstes, zweites, drittes eisenalter"
der dänisehen ^lehrten vgl. des herrn Verfassers erläotemde bemerkung am ende
dieser abbandlang. Bed.
2) Vgl. rücksicbtlicb dieser nltradäniscben lehre: Mobius in dieser zeitschr. I, 430 f.
3) „ Gesamt -dentscb" würden die nachfoiger J. Grimma sagen. Mir, als
einem Dänen, fällt es nicht natürlich, die benennung „deutsch" auf den norden zu
erstrecken.
ÜBER DIE EDDALIEDER 3
tet, den Deutschen aber fremd waren. leh weiss nicht eben, ob es
jetzt noch möglieh ist, irgend eine heidnische sage als eine solcher
weise entschieden gesamtnordische zn bezek^en , indem es uns jia zu
sehr an näherer kentnis des sagenbestandes heidnischer zeiten in Schwe-
den und in Norddeutschland gebricht Mt den sogenanten EdMiedem
aber berührt sich die frage eigentlich gar nichts indem dieselben, attsser
der mythologie, diejenige heldensage behandeln^ welche man sogar viel«
mehr eine deutsche^ als eine „ gesamtgermanisohe '^ zu benennen hat.*
Ich wünsche meine ideen über diese gegenstände in einei^ verbrei-
tetern (wenngleich mir leider viel weniger geläufigen) sFpraohe als der
dänischen, und somit einem giössern und unparteiischern leserki'eise ais
dem dänischen, vorzulegen. Nur mit dem wünsche nach feststellting
der Wahrheit schreiben , bleibt innerhalb der dänischen litteratur gewölin-
lieh eine mehrfach undankbare arbeit, grossenteils sogar eine unihög-
lichkeit.^
Es sind also zwei hauptansichten, die ich als die meinigen ver-
teidige: 1) dass die heldensage der Eddalieder eine deutsche
sei, 2) dass die Eddalieder „norröne^^ (norwegische und islän-
dische) lieder seien; welche beiden ansichten von einander so ziem^
lieh unabhängig sind. Besonders über die erstere liesse sich ein dickes
buch schreiben. Ich wünsche aber eben besonders bei dieser so kurz
und gedrängt wie nur immer möglich zu sein, also nur hauptmoinente
hervorzuheben, was mich nötigt, kentnis der sage bei dem leser vor-
auszusetzen.^
I.
DIE SAGE DEUTSCH.
Als einleitung zu diesem abschnitt (jedoch auch mit bezug auf den
folgenden) scheint es zweckmässig, einige kurze bemerkungen vorauszu-
schicken, betreffend die norröne heroische sagenlitteratur überhaupt.
1) ,, Deutsch" also in dem sinne gebraucht, dass es Dänisch, Schwedisch und «
"Norwegisch ansschliesst.
2) Nur die drei Helgenlieder enthalten -(obschon durch spätere willkürliche
umdichtung yerschobene) bestandteile allem anschein nach ursprünglich nordischer
heldensage.
3) So begegnete es mir hei dem Eopenhagener historischen verein, der, däni-
sehen zustanden und dem Eopenhagener Cliquenwesen gemäss , unter der leitung eines
Politikers und nicht - historikers steht, dass ich mich in diesem streite in der zeit-
sclirift dieses Vereins des wertes beraubt fand, während man fortfuhr, der den Dänen
schmfeichehide& ansteht d«n räum im vollsten masse oflbn zu halten.
4) Die beste übersicfat der einen baupttenl der sage findet man in der kurzen
erzahlung der Snorra-Edda (deutsch z. b. bei Simrock); die andere hauptform ken-
1*
E. JESSEN
Es wanderten schon im altertum die producte des dichterischen
geistes von einem volke zum andern. Damals, wie jetzt, wurde man
des, alten und bekanten satt, und war hungrig, neues zu gemessen.
Dass auch schon damals die bewohner des nordens eher den Deutschen
etwas entliehen, als umgekehrt, ist der natur der sache gemäss. Wir
haben indessen einen beleg, dass wenigstens ein deutsches volk, näm-
lich die Engländer, nordische sagen nicht verschmähte, darin, dass das
angelsächsische gedieht Beowulf nur nordische sagen behandelt. Die
Angeln und Sachsen werden in demselben auch nicht einmal genant,
wogegen es sich um drei nordische Völker, jedes unter seinem könige,
handelt: 1) um das der Dänen unter den Schiltungen (Scyldingas) , als
Halbdan, Eoan, Helge, Kolf (Healfdene, Hrödgär, Hälga, Hrödulf),
welches sich, mit derselben ausdehnung wie in spätem zeiten^ bis an
die Friesen erstreckt, und schon damals, als diese sage mit der aus
Saxos und der Isländer Überlieferung genugsam bekanten namenreihe
nach England gelangte, nur ein reich, und nicht mehrere kleinere, aus-
machte ; 2) um das der Gauten (Geätas = der schwedischen form Götar),
zu welchem der held des gedichtes, Beowulf, gehört; 3) um das der
Schweden (Sweön = Svear in specieller bedeutung) , unter dessen köni-
gen wir die namen Ottar und Adils (Ohthere, Eadgils) widererkennen.
Die sage ist aus Dänemark oder aus Gautland nach England gebracht,
und zwar zu einer zeit, als sie noch nicht die gestalt erreicht hatte, die
wir bei Saxo und in der Eolfs-saga vorfinden. Andererseits ist diese
sage aber von englischen christlichen dichtem, wol zu widerholten malen,
so umgebildet worden, dass sie dennoch eine unursprunglichere gestalt
trägt als in der nordischen Überlieferung. Es ist auf den ersten blick
sehr auffallend, dass wir in der äusserlich betrachtet reichen angel-
sächsischen poetischen litteratur auch keine einzige behandlung specifisch
englischer heldensage, hingegen ein grosses gedieht über fremde sagen
finden. Es lässt sich aber dies aus politischen Verhältnissen erklären.
Die Streitigkeiten der untergegangenen kleinen angelsächsischen reiche
waren nicht mehr ein passendes thema für den sänger, der am hofe des
herschers über ganz England sein unterkommen zu suchen hatte. Die
einheimischen angelsächsischen heldenlieder musten in Vergessenheit
geraten.
Im norden muste ein ähnliches Schicksal die einheimische nor-
wegische heldensage treffen. Dass diese eine reiche gewesen ist,
nen deutsche leser aus dem Nibelungenliede. Deutsche hilfsmittel {W, Grimm , Rasz-
mann usw.) wäre es kaum nötig zu nennen. — Von den unzähligen abhandlungen
möchte ich etwa diejenigen von Müllenhoflf (Haupts zeitschr. bd. 10 und 12) hervor-
heben, an die ich mich näher als an irgend andere mir bekante schliessen kann.
ÜBEB DIE EDDAIilBDEB 5
brauchen wir nicht im geringsten zu bezweifeln. Aber nur ziemlich
weniges hat sich gerettet: in der Halfs-saga, in verschiedenen bestand-
teilen der Fridthjofs-saga, der örvarodds-sagÄ, sowol als mehrerer
anderer von den in den beiden letzten teilen der „ Fornaldarsögur " ent-
haltenen märchen und romanen; ferner in der Helga kvida Hjorvards-
sonar,^ und wol auch in dem zur heroischen sage gehörenden ramen des
Qrinmismäls. Auch die Ynglinga - saga (was man nun auch inmier von
der authentie des zu gründe liegenden gedichtes halten mag) ist zunächst
nur als eine norwegische familientradition aufzufassen, und keinesweges
als ein excerpt schwedischer königssage, obschon es immerhin möglich
ist, dass diese familientradition wirklich einzelne aus dem vielleicht nicht
nur vorgeblichen stamlande mitgebrachte sagenelemente möchte fest-
gehalten haben. Ob die älteren bestandteile der ersten hälfte der Her-
vararsaga hieher gehören , ist disputabel , indem der kämpf auf Samsö
(der insel im Kattegat) auch von Saxo (und in einer „Ksßmpevise") erzählt
wird. Samsö und Läsö spielen auch anderwärts in der phantasie norrö-
ner dichter, was sich aus der Vertrautheit norwegischer schiffer mit die-
sem fahrwasser leicht genug erklärt, so dass in der nennung dieser insel
kein beweis dänischen Ursprunges liegt. An schwedischen Ursprung
möchte ich durchaus nicht glauben, indem, abgesehen von möglicher-
weise acht schwedischen elementen* in der familientradition des norwe-
gischen Yngling- geschlechtes (wohin diese sage schwerlich gehören könte),
kaum irgend eine uralte sage oder irgend ein lied aus Schweden in die
norröne litteratur eingedrungen ist. Da sowol bei Saxo als in der Her-
vararsaga der kämpf Hjalmars und Angantys auf^Samsö mit der doch
offenbar norwegischen sage von Örvarodd verwoben ist, möchten wir hier
nicht ohne Wahrscheinlichkeit an eine entlehnung des ganzen aus Norwe-
gen nach Dänemark denken. Die liederreste in der ersten hälfte der
Hervararsaga könten jedenfalls in keiner unverändert dänischen (oder
1) Helge ist ein Norweger (siehe eins der prosas tückchen: Hjörvaräi konungi
iNoregi; und str. 31: hvai kanntu, segja nj/rra spjaJJa orNoregi); vieUeicht speciel
ans Rogaland (c£r. str. 43 Bogheims ä vit?). Dass die prosastückchen kriege in den
„südlanden," speciel im „Schwabenlande" erwähnen, Widerspricht dem nicht, aber
beweist, dass wir eine späte gestaltnng der sagte vor uns haben, ans der zeit, wo
man es lichte den Schauplatz ins enorme zu erweitern, wie das in der Hervararsaga
und andern Fomaldarsöq%t/r geschieht.
2) Zu diesen möchte gehören die sage von GeQon, wie sie „Seeland" aus
dem Mälar herauspflügt. Dies Seeland ist nämlich offenbar das schwedische Seeland
(= Roslagen), die meeresküste nördlich des Mälars. In Norwegen oder Island hat
man die sage später aus misverständnis und Unwissenheit auf das dänische Seeland
übergeführt, so in der strophe (gleich anfangs in der Snorra- Edda) , die man dem
vorgeblichen „Brage Skald dem Alten" zuschrieb.
E. JESSEN
schwedischen) redaction vorliegen, wie das aus folgender stelle her-
v^geht :
hetr pykkjunisk ek Besseres meiae icJi,
Imälungr hafa König, erlang zu haben,
enn pö Noregi als wenn ich erreichte
ncßäak öUum ganz Norwegen
was natürlich nur ein norwegischer (oder isländischer) dichter , nach Ver-
einigung Norwegens zu einem reiche, in das gedieht hineinbringen konte.
Einiges haben also die Isländer doch von der altnorwegischen helden-
sage bewahrt Das können aber nur fragmente sein von dem ganzen grossen
vorrate. Als in der letzten hälfke des 9. Jahrhunderts die vielen kleinen
norwegischen reiche durch eroberung zu einem grossen norwegischen
reiche wurden, büssten sofort die einheimischen heldenlieder gröstenteils
ihre lebensiS.higkeit ein. Die in den nächsten Jahrhunderten mehrmals
eintretende Verbindung Norwegens mit Dänemark und das politische
interesse der norwegischen könige, als sprösslinge auch des „Kagnar-
LodbroMschen geschlechtes" zu gelten, führte dänische königssagen bei
den Norwegern ein. So finden wir die sage von Koar, Helge und Kolf
Krake, ferner die von Harald Hildetann, endlich die von Eagnar Lod-
brok, in isländischen sagas behandelt, und zwar in einer gestalt, die
sich zu der von Saxo überlieferten solchermassen verhält, dass einerseits
an eine entlehnung ^ direct aus Dänemark erst zur zeit der isländischen
sagaproduction nicht zu denken ist, andi'erseits eine entlehnung „im
altern oder mittlem eisenalter" vollends undenkbar ist, indem sowol die
Isländer als Saxo di« gesamte dänische sagengeschichte mit sachsenkrie-
gen, englandszügen und nordhumbrischen eroberungon durchwoben sein
lassen, ein beweis, dass die dänische sagengeschichte auf dem wege
durch die eigentliche sogenante Wikingszeit (ungefähr 850 bis 1030*)
eine gänzliche Umgestaltung durchlebte, und erst in dieser jüngsten
gestalt nach Norwegen (und Island) gelangte, wogegen die dänischen
kömgssagen im Beowulf früher nach England gelangten, nämlich vor
dieser Umgestaltung , früher also , als die grossen kriege mit den Deut-
schen und die grossen züge nach England und eroberungen daselbst
auf die gestaltung der dänischen sagengeschichte einwirkten. Norröno
dichter erlaubten sich an der eingeführten dänischen sage willkürlich
erdachte änderungen und zutaten, namentlich in bezug auf die Kagnar-
1) Des ganzen. — Eins und das andere mag natürlich sogar spät im mittel-
alter direct importiert sein.
2) Die eroberungen in England fiengen erst nm 870 an. — Saxo lässt schon
seinen ersten Frode den Rhein hinauf segeln!
ÜBER DIE EDDALIEDER 7
Lodbroksche genealogie, also zu einer zeit, wo solche änderungen und
zutaten noch praktisches interesse haben konten. So machten sie eine
der frauen Bagnars zur tochter Sigurds des drachentöters , und Bagnar
selbst zum söhne jenes schwedischen königs (Bing, oder, wie er in nor»-
röner umtaufung heisst , Sigurd Bing) , dem der dänenkönig Harald Hildfe-
tann in der sagenhaften Braavalla- Schlacht erlag. — Auch die sage
von den goldmalenden riesenweibem Penja und Menja erscheint in der
norrönen litteratur in einer gestalt, die sie nur in Dänemark erreicht
haben kann, nämlich mit der speciel dänischen königsreihe verweben.^
Da diese sage bei dem norrönen stamme nur als eine fremde auftritt,
sich aber bei den Deutschen ^ widerfindet , haben wir sie also jedenfalls
nicht als eine ursprünglich „gesamtnordische" aufzufassen, sondern am
ehesten als eine deutsche, in Dänemark eingeführte, und daselbst mit
einheimischen dänischen sagen verwobene (was natürlich nicht verbietet,
das „ Grotten -lied" für eine norröne production über ein zunächst däni-
sches thema zu halten).
Die norröne heroische sagenlitteratur enthält also ungefähr eben so
viele aus Dänemark importierte sagen , als einheimische norröne. Weder die
einen noch die andern liegen uns in den „Eddaliedern'^ (liedern der
sogenanten „Sämunds-Edda") vor, nur allein die sage von Helge Hjör-
vards söhn ^ abgerechnet. Keiner der beiden Codices dieser lieder (Codex
Begius 2365. 4 ; Codex Amemagnaeanus 748. 4) enthält sonst etwas direct
hieher gehöriges. Das „Grottenlied" ist andei-swo (in einer handschrift der
Snorra-Edda) aufbewahrt; es ist in dem einen der beiden metra der Edda-
lieder abgefasst, entfernt sich aber sonst nicht unbedeutend von der manier
der in der „Sämunds-Edda" aufbewahrten heroischen lieder. Es unter-
liegt indessen keinem zweifei , dass alle jene sagen urspi-ünglich in liedern
derselben formen wie die Eddalieder überliefert worden sind , was wir denn
auch schon daraus ersehen, dass mehrere dieser sagas bruchstücke von
liedern solcher form liefern, vor allen die erste hälfte der Hervarar-fiaga,
so wie auch hie und da alliteration durch die prosa hervorsticht, wie im
heldenverzeichnis zur Braavallaschlacht , woselbst ein wirklich in Däne-
mark verfasstes lied zu gründe liegt, da nämlich Saxo* bei dem ent-
sprechenden Verzeichnis in seiner geschichte ganz dasselbe lied benutzt,
ein lied aus späterer zeit als die colonisation Islands, indem es in bei-
den beeren Isländer („ Thylenses ") aufführt, und diese offenbar schon
im liede da waren , ehe dasselbe zum norrönen stamme hinüber wanderte,
1) Vgl Grottasöngr str. 19. 21.
2) Vgl. J. Grimms Mythologie: fanegolt, manegolt.
3) and die wenigen hieher gehörenden atrophen des Grimnismäls.
4) Zu anfang des 8. buchs. Vgl. FörnaUarsögwr bd. 1. s. 379 f.
8 E. JESSEN
obschon der isländische sagaverfasser die vier Isländer im schwedischen
beere * gänzlich verschweigt, ohne allen zweifei um Isländer nicht gegen
einander kämpfen zu lassen, während er den Isländer in Haralds beer
(Blend oder Blceng), so wie auch den Jomswiking (Toke) stehen lässt,
aber ohne bezeichnung des heimortes, ein deutlicher fingerzeig,
dass ihm in diesen beiden fällen der im liede genannte heimort anstoss
erregte, indem er gewohnt war, sich die Braavalla- Schlacht vor der
entdeckung Islands und vor der gründung der Jomsburger republik zu
denken.
Der norröne stamm hat also einerseits, zufolge der politischen Ver-
hältnisse, von dem schluss des 9. Jahrhunderts an, seine eigne alte
heroische liederpoesie in verfall und gröstenteils in Vergessenheit geraten
lassen, ohne eine neue zu producieren, andrerseits, und zwar ebenfalls
offenbar zufolge politischer Verhältnisse, und frühestens vom 10. Jahr-
hundert an, dänische königssagen aufgenommen und festgehalten, zum
teil willkürlich bearbeitet, nicht aber incorporiert, nicht zu norwegischen
königssagen umgeschmolzen, ^ im gegenteil fortwährend als nur fremdes
gut betrachtet. Die bezüglichen lieder haben die Isländer beinahe samt
und sonders zu gründe gehen lassen, die eingeführten dänischen noch
mehr als die einheimischen norrönen.
Dennoch haben uns die Isländer eine samlung heroischer lieder
schriftlich überliefert, nämlich in der „Sämunds Edda." Diese lieder,
die von den Welisungen und Nibelungen, behandeln einen Sagenkreis,
dem die Isländer ausdrücklich grösseres interesse als allen andern
heroischen sagen , norrönen oder dänischen , zugestehen , den aber weder
die Isländer noch der Däne Saxo jemals als einen norrönen noch als
einen dänischen wollen betrachtet wissen, sondern als einen deutschen,
weshalb Saxo auch nicht das mindeste über die beiden dieser beiden
geschlechter in seine sagengeschichte aufhimt Die heutigen nordischen
gelehrten dagegen wollen diesen Sagenkreis teils für einen „norrönen,"
teils für einen „ südscandinavischen ," teils für einen „gesamtnordischen"*
1) Mar ruf US e Mithfirthi; Gronibar annosiis; Gram Brundelucm; Chrim ex
oppido Skierum.
2) jedoch mit einer ausnähme (Guäröär)^ wovon später.
3) Für die Verbreitung dieser sage auch in Schweden haben wir zwei ziemlich
alte Zeugnisse in den bildern zweier runensteine aus christliche^ zeit (Bamsund-B'erg
und Gök-Sten), Die bilder beider steine stellen die tötung des drachcns und des
Schmiedes Begin dar. Säve hat eine abhandlung hierüber geschrieben. [Jetzt eben
auch in deutscher Übersetzung erschienen: Zur Nibelungensage. Siegfriedbilder,
beschrieben und erklärt von prof. Carl Saeve. Aus dem Schwedischen übersetzt und
mit nachtragen versehen von J. Mestorf. Mit 4 tafeln abbildungen. Hanib. Meiss^
ner 1870],
ÜBER DIE EDDALIEDER 9
erklären. Betrachten wir also in möglichster kürze den stand dieser
fragen.
Die eine form dieser sagen, die isländische oder sogenante „nor-
dische," liegt in den Eddaliedern vor, wobei wir nicht bestimt wissen,
wie viel von den kleinen prosaausfuUungen direct von verlorenen Stro-
phen und liedern herstamt. Die erzählung in der „jungem Edda" (Snorra-
Edda) ist ein kurzes excerpt aus den liedern. Die Wölsunga-Saga ist
eine in die breite sich dehnende, nicht eben talentvoll geschriebene
erzählung auf grundlage der lieder (mit benutzung einiger jetzt ver-
lorener).
Bei den Deutschen liegt die sage in fast unzähligen quellen vor,
von etwa dem 9. Jahrhundert an bis auf den heutigen tag, jedoch so, dass
die ältesten quellen , so das Hildebrandslied (niedergeschrieben im 9, Jahr-
hundert, oder im 8.?), und angelsächsische gedichte, (niedergeschrieben
etwa im 9. bis 10. Jahrhundert) , nur bruchstücke der sage, oder gar nur
andeutungen , liefern. Weiter zurück in der zeit reichen das biirgundische
gesetz (aus dem 6. Jahrhundert), welches die Nibelungen - namen als
burgundische fürstennamen aufführt , und der geschichtschreiber Jornan-
des (6. Jahrhundert), welcher jedoch nicht die Nibelungensage selbst
erwähnt, sondern nur die anderwärts mit derselben in Verbindung
gebrachte von Ermenrich und der Schwanhild. Die hauptquellen sind
aber erst das Nibelungenlied und die Dietrichs - Saga , welche letztere
isländisch, wol im 13. Jahrhundert, nach deutschen gedichten und sagen
abgefasst wurde. Die armut an älteren norddeutschen quellen ist bei der
Untersuchung des gegenseitigen Verhältnisses der beiden hauptformen der
sage sehr empfindlich. Die so eben erwähnte Dietrichssaga hat nord-
deutsche quellen benutzt, und beruft sich in der tat ausdrücklich auf
solche; es werden aber, wenigstens für die eigentliche Nibelungensage,
solche norddeutsche gewesen sein, die unmittelbar dem hochdeutschen
Nibelungenlied entstamten.* Ähnlich steht es um die „Kaempoviser"
über Sivard Snarensvend , Didrik af Bern usw.
Nur die isländische form der sage, d. h, die in den Eddas und der
Wölsungasaga vorliegende form, ist von nordischen gelehrten als eine
„nordische," eine nicht aus Deutschland her entliehene sage in schütz
genommen worden. Ähnliche rettung der Dietiichssaga und der Ksem-
peviser * ist nicht einmal in frage gekommen , indem sich dieselben eben
an die gewöhnliche deutsche , und nicht an die isländische form der sage
1) Vgl. die abhandlung von Döring im zweiten bände dieser zeitschr.
2) Nur drei ausgenommen, von denen später.
10 E. JS8SEN
aQ£»chliesBeii , ibren stoff also je<ieHfalls aus Deutschland entliehen haben.
Die mehrzahl der deutschen forscher ist übrigens geneigt, auch die islän-
dische form als eine aus Deutschland, jedoch weit früher eingeführte zu
betrachten.
Die isländische sagenform nent einen könig Weisung, söhn des
Rere, söhn des Sige. Wölsung ist vater des Sigmund, der besonders
durch die Untaten berühmt wird , die er zusammen mit Sinflötle , zugleich
seinem söhn und schwestersohn , ausübt. Der söhn Sigmunds, Sigurd,
wird nach dem tode des vaters und in fremdem lande (Dänemark?)
geboren. Dieser Sigurd nun tötet jenen drachen, bemächtigt sich des
drachenschatzes , besucht die Brynhild, Schwester des königs Atle, komt
danach zu den Gjukungen (Gunnar, Högne, Guttorm,^ welche in ein par
liedern Niflungar genant werden); hier vergisst er die Brynhild, und
heiratet die Schwester der Gjukunge, welche bei i&a Isländern Gudrun
heisst, während ihre mutter den namen Grimhild fahrt. Femer verhilft
er seinem schwager Gunnar zur heirat mit der Brynhild , aber durch eine
list, welche diese dadurch rächt, dass sie die Gjukunge zur ermordung
Sigurds antreibt, was auch von dem jüngsten der brüder, Guttorm,
bewerkstelligt wird, nach einigen liedern, als Sigurd im bette schläft,
nach andern, während er auf eine jagd ausgeritten ist; womuf Brynhild
sich selbst tötet. Gudrun wird mit dem könig Atle verheiratet. Dieser
lockt die Gjukunge zu sich, und vernichtet sie. Gudrun tötet zur räche
seine beiden söhne (von welchen der eine Erp heisst^), und hernach ihn
selbst, und dies letztere zwar (dem Atlamäl zufolge) mit beihilfe eines
sohnes des Högne. Zum dritten mal verheiratet sie sich, mit dem könig
Jonakr. Ihre und Sigurds tochter, Swanhild, wird die gemahlin des
gotenkönigs Jörmunrek, welcher in einem anfall von eifersucht die Swan-
hild von*pferden zertreten lässt. Nun treibt Gudrun ihre und des Jonakr
beiden söhne, Hamde und Sörle, und den söhn Jonakrs aus früherer
ehe, Erp, zur räche wegen dieser untat an; auf dem wege mri Erp von
seinen Stiefbrüdern erschlagen, welche selbst im angriffe auf Jörmunrek
umkommen, nachdem sie diesem bände und füsse abgehauen haben.
In der nicht -isländischen sagenform heisst Sigurd: Siegfried,^ und
Gudrun: Grimhild, Krimhilt; wogegen ihre mutter unter andern namen
vorkömt. Hagen (= Högne) ist nur in einigen der hieher gehörigen
1) Guttorm wird im Hyndlalied Stiefsohn des Gjoke genannt
2) Wie in der Dietrichssaga.
3) Jedoch nicht in der Dietrichssaga und den Kaempcviser. Weil Siegfried ein
im norden ungebräuchlicher namc ist, setzt auch die Dietrichssaga st^tt dessen gewöhn-
lich den norrönen namen Sigurd, und die Kaempeviser die entsprechende dänische
form Siward.
ÜBER DIE EDDALIEDER 11
quellen bruder Günthers (= Gunnar), ist aber überall ein genösse der
Nibelunge.^ Brynhild ist nicht mehr Schwester des Atle, Etzel.
In den ereignisseu gibt es folgende hauptabweichungen: Der anfang,
von den vorfahren Sigmunds, ist in Vergessenheit geraten (wogegen ein
angelsächsisches gedieht noch die Übeltaten Sigmunds und Fitelas erwähnt).
Nicht Godomar (= Guttorm), sondern Hagen erschlägt den Sigfrid, als
dieser im walde vom pferde gestiegen von einer quelle trinkt (aber nach
Hans Sachsens darsteUung , als er im walde schläft). Nicht Etzel , son-
dern Grimhild (== Gudrun) strebt den Nibelungen nach dem leben, indem
sie, gegen den willen Etzels, ihren ersten gatten rächen will. Dies
gelingt, zunächst durch die hilfe Dietrichs von Bern, der (von Sibich,
oder vonOtacher, oder von Ermenrich , je nach den verschiedenen berich-
ten) vertrieben, sich an Etzels hofe aufhält. Nach dem kämpfe gerät
Dietrich in zorn über die grausamkeit der Grimhild, und haut sie mit-
ten durch. Ein söhn Hagens übt räche an dem ziemlich unschuldigen
Etzel. Die dritte heirat „Gudruns" fehlt also in dieser sagenform, so
dass Gudrun mit dem tode Ermenrich s (= Jöimunrek) nichts zu tun
hat, und nicht mutter der gebrüdor Hamadeo und Sarulo ist; die tra-
gische geschichte dieser brüder und ihrer Schwester ist den deutschen
stammen bekant gewesen (schon Jemandes erwähnt ja diese sage) , wird
aber selten berührt, und ohne solche nähere Verbindung mit der eigent-
lichen Nibelungensage. Viele der Edda gänzlich unbekante geschich-
ten, besonders von Dietrich und Ermenrich, werden dagegen angeknüpft,
(z. b. die von der tötung der Harlunge durch ihren Oheim Ermenrich).
Man ist darüber einverstanden, dass die isländische gestaltung der
sage in ereignissen und in verwantschaftsverhältnissen der personen
gewöhnlich das ursprünglichere besitzt, so wenn nach derselben Guttorm
den Sigurd erschlägt, Brynhild sich selbst tötet, Atle die Gjukunge ver-
nichtet, dass also in solchen fallen die sage bei den Deutschen verhält-
nismässig jüngere Umbildungen erlitten hat. Doch ist man darüber wol
allgemein einig, dass wenigstens Gudruns dritte heirat, also die nähere
Verbindung mit der Schwanhildensage, im norden erfunden ist.
Eins von dreien nun muss man sich denken: 1) entweder ist die
sage im norden entstanden, und von da zu den deutschen Völkern
gelangt; 2) oder umgekehrt bei den Deutschen entstanden, und bei den
nordischen Völkern in altertümlicherer gestalt eingefühi-t, als sie sich in
Deutschland bewahrt hat; 3) oder keins von beiden, sondern so unge-
heuer alt, dass sie, in allen gemeinschaftlichen zügen, schon bei dem
gemeinschaftlichen germanischen urvolke, ehe sich dieses in die deut-
1) Vgl. Grimms heldensage no. 96.
12 E. JESSEN
sehen und nordischen Völker zerteilte, ausgebildet war. Die unter nr. 1
aufgestellte alternative wird wol kaum von irgend jemand offen vertei-
digt, und mag im folgenden aus dem spiele bleiben. Die zweite ist die
vorhersehende ansieht deutscher forseher, und die dritte die der nordi-
schen, insofern übrigens diese letzteren es wagen, ihre „nordische" lehre
bestimter zu formulieren. Es fragt sich also zunächst: lässt sich irgend
etwas anführen , was die eine der beiden letztern ansichten (nr. 2 und
nr. 3) verbietet, und somit die andere bestätigt?
Wenn beide gestaltungen der sage entweder den norden oder
Deutschland zum Schauplatz der begebenheiten machen, dann ist die
sage keine gemeinsame urgermanische. Ehe es deutsche und nordische
Völker gab, konte die sage auf kein einzelnes deutsches oder nordisches
volk übertragen werden. Das urgermanische volk konte die sage nicht
in den noch unbekanten Wohnorten künftiger völkerzweige localisieren.
Nun ist in beiden gestaltungen der sage Sigfrid (Sigurd) deutscher
fürst; das Eheinland („die fernen felsen des Kheins"^) Schauplatz der
hauptereignisse vor Sigfrids tode, und Etzels (Atles) land nach demsel-
ben. Es ist also durchaus unmöglich, dass die sage eine in solcher
gestalt urgermanische sein könte ; ^ es ist ganz undenkbar , dass sie nicht
eine deutsche sein sollte ; es ist gewiss , dass sie bei den nordischen Völ-
kern nur eingeführt ist.
Nach den deutschen quellen zusammengenommen, und zurück bis
zu den ältesten (den ►angelsächsischen liedern,* dem Hildebrandslied,
dem Burgundengesetz), rücksiehtlich des Ermonrich bis zu Jemandes
zurück, ist:
Ermenrich könig der Goten (in der Dietrichssaga nach Rom ver-
setzt).
Dietrich könig in „Bern" (Verona) in Italien.
Etzel (Atle) könig der Hünen; diese wohnen in den ungarischen
ländem.
1) Vgl. Völundarkvida str. 14. Sigurdkv. III. 16. Brot af Brynhkv. 11, usw.
2) Damit ist naturlich nicht gcLängnet, dass die sage urgermanische, ja sogar
urindogermanische demente enthalten kann, ja enthalten muss, in ähnlicher weise,
wie z. b. die Lodbrokssage urindogermanische demente enthält, und dennoch in der
isländischen aufzeichnung keine von jeher auch beim norrönen stamm erhaltene sage
ist , sondern eine aus Dänemark importierte und mit ein paar norrönen zutaten erwei-
terte. Urgermanische grundelemcntc beweisen durchaus nicht, dass eine sage not-
wendig eine bei allen germanischen Völkern von jeher erhaltene, somit eine nicht von
dem einen zu dem andern germanischen volke importierte sei.
3) Siehe W. Grimm: Heldensage s. 18.
ÜBER DIE EDDALIEDER 13
Günther könig der Burgunden (bisweilen der „Franken," was sich
daraus erklären lässt, dass der wohnsitz um Worms später fränkischer
boden ward, und zudem die Burgunden überhaupt den Franken Untertan
wurden,^)
Sigmund fränkischer könig in irgend einer Rheingegend.
In den Eddaliedern ist:
Jörmunrek könig der Goten.
Thjodrek (Gudrkv. III.)?
Atle im ersten Gudrunenlied und in der Atlakvida könig der Hünen;
sonst bleibt sein volk in blanco stehen.
Qunnar der Atlakvida zufolge könig der Burgunden; sonst wird er
„Gotenkönig" tituliert, was nicht eben einen Widerspruch zu bilden
braucht, da die Burgunden wol zugleich Goten waren.
Sigmunds söhn Sigurd ein „hunischer könig."* (In den prosaaus-
füllungen heisst Sigmund aber könig im Frankenlande, welches, vielleicht
nur zufällig, in den liedern * nicht vorkömt.) (Im Hamdismäl reiten
Hamde, Sörle und Erp auf „hunländischen" pferden).
Also sind die ethnographischen Verhältnisse in den liedern einiger-
massen verwischt und unklar geworden , offenbar hauptsächlich , weil man
über die Hünen keinen rechten bescheid wüste. Man mag von mehr als
einem „Hunenlande" gehört haben. Oder man mag dem Sigurd wegen
der Verbindung mit der hunischen prinzessin Brynhild gelegentlich in
irgend einem nexus die bezeichnung „hunisch" beigelegt und somit eine
Verwirrung veranlasst haben; wenn Brynhild im „Wallande "^ wohnt,
widerspricht das durchaus nicht dem Hunenlande, welches eben ein
„Walland," ein „wälsches," fremde zunge redendes land war. War
erst Sigurd zu etwas „Hunischem" geworden, kam man mit der
nationaütät Atles in Verlegenheit, wie wir denn auch sehen, dass die
lieder hierüber gern schweigen. — Dass die nordischen gelehrten es
vorziehen müssen, umgekehrt die ethnographischen Verhältnisse der
Eddalieder für die ächten, und die der deutschen quellen für verzerrt
zu halten, folgt von selbst.
Auch die nicht isländische form, so die darstellung der Dietrichs-
saga, und auch anderer quellen, .wie die des Nibelungenliedes, zieht
1) Siehe W. Grimm : Heldensage s. 66.
2) In der Wölsnngasaga heisst das reich Wölsnngs und Sigmunds ein ,, Hnnen-
land" (vielleicht als teil des Frankenlandes anfgefasst?).
3) Die Walachei? (als teil des Honenlandes betrachtet?).
14 E. JESSEN
Dänemark und die Dänen in die sage hinein, was also nicht erst durch
nordische dichter bewerkstelligt wurde , obschon diese solches wol weiter
ausgeführt haben mögen: so wenn sie die mutter Sigurds nach Däne-
mark (? ^) entführen und daselbst den Sigurd gebären , und wenn sie
Gudrun nach Dänemark entfliehen lassen. So kann es aber auch schon
die norddeutsche sage erzählt haben. — Im norden, und zwar in nor-
röner bearbeitung, ist die sage von Helge dem Hundingstöter angeknüpft
worden.
Nach den deutschen quellen zusammengenommen, und zwar aber-
mals zurück bis zu den angelsächsischen,^ so wie auch dem Hildebrands-
liede, dem Burgundengesetze , und, rücksichtlich des Ermenrich, dem
Jemandes, wird:
Ermenrich eins mit dem geschichtlichen gotenkönig Ermanarik.
Dietrich eins mit dem geschichtlichen gotenkönig Theodorik.
Etzel (Atle) eins mit dem geschichtlichen Hunenkönig Attila, so
wie diesen die nicht allerältesten noch zuverlässigsten berichte darstel-
len. (Auch in der Dietrichssaga Wlt er niit diesem Attila zusammen,
indem seine frau Erka heisst, und „herzog Blodlin," = Bleda, an sei-
nem hofe sich aufhält).
Günther eins mit dem burgundischen könige Gundahar, den Attila
437 vernichtete, und dessen namen zusammen mit den übrigen Nibelun-
gennamen wir im burgundischen gesetze in dieser namenreihe widerfin-
den: Gibika, Godomar, Gislahar, Gundahar (= Gjuke, Guttorm, Gisel-
her, Gunnar, von welchen Giselher in der isländischen sagenform aus-
gefallen ist^).
Also wurden geschichtliche personen, die nicht gleichzeitig waren
(Ermanarik, Attila, Theodorik), von der sage als gleichzeitig zusammen-
gestellt, was schon im mittelalter deutsche schriftsteiler bemerkten.*
Es sind natürlich diese identificationen entweder so zu fassen, dass
die sagen wirklich von anfang an um diese geschichtlichen namen (auf
dieselbe weise wie die sagengeschichte von Carolus Magnus) emporwuch-
sen, und zwar möglicherweise so früh, dass sie erst in späterm Sta-
dium mit einander in Verbindung gebracht wären; oder aber so, dass
1) So nach der Wölsnngasaga ; es möchte aber das auf späterm misyerständ&is
beruhen.
2) Diese schliesscn sich gänzlich an die hochdeutschen an , bis auf einen dispu-
tabebi punkt, wovon später.
3) Man könte übrigens an und ftir sich, mit Zurücksetzung anderer rück-
sichtcn, die Burgundcnfärsten nach den sagenfürsten benant sein lassen.
4) W. Grimms Heldensage s. 37.
ÜBER DHE EDDALIEDER 15
9ich die identificationen erst in den schon ausgebildeten sagen einfanidcfii,
weil die »amen znf&llig passten: was jedoch um so unwahrscheinlicher
würde, je mehr die sagen schon im voraus mit einander verknüpft wären,
indem es schwerlich eintreffen würde , dass eine die mehrzaM der haupt-
personen eines combinierten Sagenkreises umfassende namenreihe auf eine
bestirnte klasse historischer fürsten passen könte. Da nun sowol die
Identification der personen, falls diese übrigens eine unursprüngliche ist,
als die Verknüpfung der sagen bei den Deutschen müste bewerkstelligt
worden sein, muss in der Edda sowol die Verknüpfung als die identifi-
eation, wo letztere durchblickt, ' als unwiderleglicher beweis deutschen
Ursprunges gelten. Die Identification min ganz isoliert für sich genom-
men wäre freilich aus den eddaüedem für sich genonmien schwerlich zu
erhärten , ausgenonmien für das dritte Oudrunenlied , wo der name Herkja
(^ Erka) Identification Atles mit Attila beweist, womit denn auch die
Identification Thjodreks mit dem könig Theodorik folgt; jedoch ist fer-
ner auch für die beiden letzten lieder (Oudrünarhvöt und Hamdismäl)
Jörmunrek, wie das von selbst folgt, mit dem bekanten Ermanarik
eins;^ wären aber diese drei lieder nicht da, würden wir von der iden-
tification an und für sich nicht weiter etwas erhebliches anführen können.
Die Identification ist aber eben nicht isoliert fär sich in anschlag zu brin-
gen; denn sie ist schon in der Verknüpfung der sagen impliciert. Die
Zusammenstellung Gunnars, Atles und Jörmunreks (und, im dritten Gudru-
nenlied,* Thjodreks) als gleichzeitiger personen, um so mehr, wenn sie
obendrein als könige respeotive der Burgunden, Hünen und Goten auf-
treten, ist beweises genug, dass dieser sagenformation ganz derselbe
hinblick auf die geschichtlichen personen beigewohnt hatte, als der
gewöhnlichen deutschen sagenformation. — Dass endlich ursprüngliche
identität der sa^enhelden und der geschichtlichen fürsten (oder einiger
von diesen), d. h. im eigentlichsten sinne historische grundlage der
sagen (was mir als das bei weitem plausibelste vorkomt), deutschen
Ursprung implidert, bedarf auch nicht einmal der erwähuung.
So durchgreifend« sind diese Verhältnisse, dass es ganz vergeblich
sein würde, um doch wenigstens etwas „nordisches" zu vindicieren,
eine nach deutschen quellen vorgenommene xmiarbeitung der sagenver-
hältnisse einzuräumen (was natürlich schon an und ftlr sich die abfas-
sung der bewahrten lieder in sehr späte zeit herabsetzen würde); man
1) Nämlkli mit d«m Ermanarik des Jemandes; also femer inaofern eins mit
d^m historischen des Ammian, wie es der des Jemandes ist.
2) Anch, und wol nicht durch misrerständnis , in der prosaeinleitung zum
zweiten.
16 E. JESSEN
müste in solcher absieht als anächte und deutsche zutaten abzi^en : die
anknupfung der hauptpersonen an deutsche und andere fremde Völker
und länder (Pranken, Burgunden, Goten, ^ Hünen, Walland), sowol als
die Verlegung der scene an den Khein; Sigurds tötung unter oflfenem
himmel; den söhn Högnes als mitwirkend bei der erschlagung Atlas;
ferner den Thjodrek und die Herkja. Die Zusammenstellung und gleich-
zeitigkeit Gunnars, Atles, Jörmunreks (und Thjodreks) wäre nach so
enormen auf Opferungen noch unversehrt, und müste gleichfalls aufgeopfert
werden. Die gleich zu erwähnenden sprachlichen Verhältnisse würden
ferner nötigen, auch den namen Sigurd als den des drachentöters zu
opfern. Und was bliebe dann übrig? Auch nur ein zehntel solcher
berichtigungen und Vervollständigungen nach deutschen quellen würde ja
eben dartun, dass man im norden selbst die ganze sage nicht als eine
einheimische, sondern eben als eine deutsche betrachtete. Und freilich
gibt es Zeugnisse genug , dass sowol die Isländer als Saxo die geschichte
der Welisunge und Nibelunge dem Norden absprachen , und die vollstän-
digste auskunft über dieselbe bei den Deutschen zu finden meinten.
Die linguistischen indicien deutschen Ursprungs der sage sind von
deutschen gelehrten^ dargelegt worden. Schon das mag man als ent-
scheidend betrachten, dass eine anzahl der hieher gehörigen namen
bei den Deutschen in allgemeinem gebrauch waren oder noch sind , ohne
es zugleich im norden zu sein; so besonders: Welisung, Nibelung (Nebe-
long), Sintarfizilo, Sibicho, Heimo, Dankrat, Hilperich, Schade, Brede;
ferner Wieland (Weland); denn auch die allen deutschen und nordischen
Völkern bekante Wielandssage ist linguistischen Zeugnissen zufolge deut-
schen Ursprunges. Das nordische Völundr ist derselbe name wie Wie-
land, entspricht aber demselben dennoch nicht lautgerecht; wäre der
name seit urgermanischen zeiten im norden überliefert , könnte ihm kein
deutsches Wieland, sondern nur ein Waland gegenüberstehen; entlehnte
Wörter und namen werden leicht entstellt ; eine entlehnung aus dem nor-
den nach Deutschland kömt auch nicht einmal in frage. Das Verhältnis
bestätigt sich ferner im namen Hlödv^r der Völundarkvida (und der
zweiten Gudrünarkvida) ; dies ist offenbar eins mit dem deutschen Hlöd-
wic, Hluodwic, Ludwig; aber dem H16d- würde in ursprünglich gemein-
samen formen ein nordisches Hlöd-,^ nicht ein Hlöd- entsprechen; letz-
teres stellt sich als entstellende reproducierung fremder ausspräche her-
1) Godpjod im Helr. Br. und Guctrhv. (Gotnar, Gotar für sich könte auch
nur menschen bedeuten).
2) J. Grimm, MüUenhoflf, Raszmann.
3) cf. Hlodyn,
ÜBBB DIB EDDALIEDER 17
aus. Unter den namen der Welisunge sieht Sin^ötli dem Sintarfizilo
gegenüber wie eine verstümmelte form aus; und das Verhältnis zwischen
Sigurdr (dänisch Siward) und dem Sigfrid der deutschen quellen ist noch
weit entscheidender. Der dem Sigurdr (aus Sigvardr) entsprechende deut-
sche name ist Sigwart; dennoch nennen die Deutschen den sagenhelden
Sigfrid; dies war ein im norden ungebräuchlicher name, und wurde des-
halb mit einem andern nicht unähnlichen vertausclit. Unter den Nibe-
lungennamen trägt Guttormr (Guthormr) eine befremdende form; es ist
vom nordischen Gudormr (Gormr) offenbar verschieden, und möchte
blosse entstellung von Godomar sein. Übrigens ist der name Guttoimr
(so wie auch Hlödvör), vielleicht eben durch einfluss der eingeführten
sagen, in Norwegen in gebrauch gewesen. Aus dem letzten teil des
Sagenkreises hat man die drei namen Jönakr, Erpr und ^amdir als ver-
dächtig angeführt. Jönakr scheint auch mir durchaus unnordisch. Erpr
kann man, obschon es natürlich eine nordische form sein könte, wenig-
stens gegenüber den constanten formen jarpr, jai-pi, Jarpi, Jarpulfr, irpa,
als verdächtig bezeichnen. Hamdir würde als aus dem deutschen Hami-
deo entstellt gelten können , falls Bugge es nicht mit recht in eine ältere
form Ham|)6r zurückcorrigiert , welche correct nordisch sein würde. —
Unter den völkernamen ist God - pjöd * offenbare misdeutung eines deut-
schen gotdiet (gutl)iuda).
Es stellt sich die frage, wie früh die sage nach dem nor-
den gelangte. Schwerlich wird sich dies je mit bestimtheit entschei-
den lassen.
Falls wir nur die geschieh te Sigurds, Gunnars und Atles übrig
hätten, würden wir wol behaupten, die sage sei wahrscheinlich aus
einem schon längst christlichen lande hergekommen, indem nicht eigent-
lich die heidnischen götter, sondern fast nur das tragische Schicksal wal-
tet. Der frühere teil der sage aber, der in den deutschen quellen feh-
lende teil, ist mit den germanischen göttern um so vertrauter, könte
also in dieser gestalt nur aus einem lande hergebracht sein , wo es jeden-
falls noch nicht zur gründlichen tilgung der Vorstellungen von den göt-
tern gekommen war. Aber andrerseits erhebt sich die kaum zu beant-
wortende frage, wie viel von der einmischung der götter auf die rech-
nung nordischer bearbeitung komme, ob z. b. die Wanderung der drei göt-
ter, Odin, Hone, Loke ^ eine zutat sei. Das blosse auftreten eines „ein-
1) Heh. Br. und Gudrhv.: volk der Goten; sollte Got-{)j6d heissen.
2) Prosaeinleitung zur zweiten Sigurdarkvida. — W. Grimm (Heldensage s. 385)
sagt: „die götter sind eingeschoben."
SBIT80HB. F. DBXJT8CHB PHILOLOGIE. BD. UI. 2
18 1^. j;b8sen
ä^ugigen alten*' hätte sich wol leichter dem befestigten Christentum zu
trotz erhalten können.
Eben so ^enig hilft uns hier die vergleichung der beiden haupt-
formen der sage, indem wir nicht wissen, wie früh die den deutschen
quellen eigentümlichen änderungen der namen und ereignisse eintraten,
da über diese punkte eben die altem deutschen quellen nichts enthalten.
Natürlich kam die sage nach dem norden , bevor Hagen (statt des Godo-
mar) die tötung Sigfrids, und bevor Sigfrids wittwe (^tatt des Atle) dßn
verrat an den Nibelungen übernahm; aber wir wjlssen eben nicht, wie
früh es die Deutschen so erzählten. Und falls die Isländer in der ver-
weudi^ng der naiven Gudrun und Grimhild das ursprünglichere bewahrt
haben» hat die sage ihre wapderuug nacli dem norden begonnen, ehe
Sigfridp weib den namen Grimhild erhielt; wie früh sie aber bei den
Deutschen so hiess, ist uns eben unbekani^
Die angelsächsischen quellen, so dürftig sie sind, schliessen sich
doch deutlich genug zunächst an die hochdeutschen an. Zweifelhaft bleibt
jedoch diese Übereinstimmung in den zeilen im Beowulf, wo die Wel-
sunge erwähnt werden.* Nach der natürlichsten erklärung der wocte
wäre hier eine nicht -Übereinstimmung, welche eine obschon nur relative
Zeitbestimmung implicieren würde. Es wird nämlich (natürlich gemäss
der damaligen englischen form der sage) erzählt, wie ein Sänger den
hofleuten vorträgt: „Was er gehört hatte von Sigemunds taten, von
den weiten fahrten und missetaten Wälsings, worüber man genaueres
niclit erfaliren, ausser nur Pitcla mit ihm; diese unterhielten sich bis-
weilen darüber, der oheim und sein neffe, wie sie bei allerhand unfug
kameradcn gewesen, und manche der „Eoten** [was Juten, a))er auch
riesen bedeuten köntej erschlagen liatten. Dem Sigemund entsprang
grosser rühm nach dem tode, indem der kampfderbe den wurm, des
hortes hüter, tötete. Er, der edelingssolm , wagte allein, unter dem
grauen felsen, die kühne tat; nicht war Fitela mit ihm; doch gelang es
ihm den wurm zu durchbohren, dass das schwort im walle stand, und
der drache starb. Der Wüterich hatte es durch kühnheit erreicht, dass
1) übrigens wäre es ja mogUch, dass diese frau einst beide namen, Gudnin
und Grimhild, führte (wie ja Brynhild auch als Sigrdrifa auftritt), und dass dld
Deutseben den erstem fallen liessen , die Norweger den letztem auf die mutter über-
trugen.
2) V. 1753 — 1805 in Thorpes ausgäbe (bei Grein v. 875-900). V. 1806 ff.
(901 ff) reden offenbar nicht mehr von Sigmunds Irrfahrten, sondern von denjenigen
eines Hcremod, die als wo mögUqh noch merkwürdiger bezeichnet werden. So ver-
steht es auch Grein; und ebenfalls W. Grimm, indem er (Heldensage s. 15) mit
V. 1805 abbricht.
ÜBEB DIE EDDALIEDEB 19
er den schätz frei gebrauchen konte. Er, der sprössling Wälses/
lud die blinkenden kleinode auf das schiff. Er war bei weitem der
berühmteste landflüchtige wanderer." Hier ist also Wälsing correcter
weise so viel als söhn Wälses und eins mit Sigemund, was natür-
lich ursprünglicher ist als der norrönen erzählung „Sigmundr Völsungs-
sonr/* Hierüber ist kein zweifei möglich. Sonst aber hat man die ganze
stelle auf zweierlei art aufgefstsst. Entweder sind der „Wälsing" und
der „kampfderbe sprössling Wälses" zwei personen (Sigmund und Sig-
firid), so dass der sinn wäre: „dem Sigmund entsprang nach seinem tode
rühm durch die tat seines sohnes , welcher , und zwar sogar allein , ohne
beihilfe eines Fitela, den drachen zu töten vermochte;" nach welcher
erklärung hier kein wesentlicher unterschied von den andern Überliefe-
rungen der sage wäre.* Oder auch ist „Wälsing" und „ sprössling Wäl-
ses" eins und dasselbe, beides bezeichnung des Sigmund, der sonst den,
Pitela bei sich hatte, jedoch demnach nicht bei der tötung des^drachen;
und dann fehlt also Sigfrid in der geschlechtsreihe , ist also noch gar
nicht erfunden (indem wir hier jedenfalls ein älteres stadium der sage,
nicht ein jüngeres, vor uns haben). Und ferner würde folgen, dass der
norröne stamm die sage aus Deutschland her erhielt, erst nachdem man
in Deutschland den söhn Wälses in zwei beiden zerteilt hatte, indem
man nach Sigmund einen Sigfrid einschob, dem man die tötung des
drachen zuteilte. Die Sprechweise des letzten angelsächsischen bearbei-
ters der Beowulfsage ist nicht eben immer sehr präcis. So auch nicht
hier. Und obgleich die letztere erklärung wol den werten gemäss die
natürlichere wäre, dürfte man doch vielleicht nicht zu fest auf dieselbe
bauen.
Wir können wol annehmen, dass die norwegische geschichte schon
mit Harald Schönhaar, in der letzten hälfte des 9. Jahrhunderts , anfangt,
wenigstens in manchen dingen, einigermassen zuverlässig zu sein, woge-
gen für die zeit vor ihm norwegische geschichte auch nicht einmal exi-
stiert. Unter den namen der söhne dieses königs nun finden wir (bei
Snorre) Guttormr* und Sigfrödr. Inwiefern man diese namen (correcte
Überlieferung derselben vorausgesetzt) als indicien deutschen einflusses,
und wol eben als indicien des Vorhandenseins der deutschen heldensage
in Norwegen im 9, Jahrhundert, anerkennen will, liängt davon ab, wie
viel gewicht man auf die oben ))esproclienen Verhältnisse legt, welche
1) Wälses eafora. Dies wort eafora wird in d«Mi Wörterbüchern durch proleSj
fiUus übersetzt.
2) Nicht eben wesentlich ist es, dass es hier nicht (wie in der Wölsungasaga)
die Ganten , sondern wahrscheinlich die Juten sind , gegen die Sigmund kämpft.
3) So soll übrigens auch schon ein oheim Haralds geheissen haben.
2*
20 B. JESSEN
es unwahrscheinlich machen könten, dass diese namen einheimische nor-
dische wären. Das gewicht dieser Verhältnisse aber zugegeben, müste
man femer zugeben, dass der so ungewöhnliche name Sigfrödr ein indi-
cium abgeben müste, dass die sage damals nicht schon lange in Norwe-
gen bekant war, indem er andeuten würde, dass man dem sagenhelden,
nach welchem Harald diesen söhn benant hätte, noch den fremden
namen (Sigfrid) belassen hatte , und erst nach Haralds zeit mit dem nor-
rönen namen Sigurd vertauschte, ein Umtausch, der ja offenbar um so
schwieriger ausführbar geworden wäre , je längere zeit die sage mit samt
dem fremden namen gehabt hätte, einzuwurzeln und über ganz Norwe-
gen sich zu verbreiten.
Es würde nun ferner mit diesen indicien übereinstimmen, wenn
man aus dem 9. Jahrhundert (und dem anfange des 10. *) norwegische
Skaldengedichte hätte, welche hindeutungen auf die sage enthielten.
Nun finden wir freilich in der Skalda, in der Heimskringla und hin und
wider in andern sagas, einige gedieh te oder bruchstücke von gedichten,
die den „Skalden Haralds Schönhaar" zugeschrieben werden, so beson-
ders dem Thjodolfr liinn hvinverski, der das Ynglingatal sogar noch
vor der regierung Haralds, also schon um die mitte des Jahrhun-
derts, sollte verfasst haben. In diesem Ynglingatal^ werden Winge'
und Jonakrs söhne genant. Solche Zeugnisse müssen aber meines
erachtens wegfallen, indem überhaupt an die autheutie der gedichte
„der Skalden Harald Schönhaars" nicht zu glauben ist, und speciel
das Ynglingatal sicherlich nicht aus dem 9. Jahrhundert herstam-
men könte, sondern erst aus einer zeit, wo die geschichtlichen Ver-
hältnisse des 9. Jahrhunderts in der norrönen sage, unter dem ein-
fluss späterer politischer Verhältnisse, eine gründliche Umgestaltung erfah-
ren hatten; aus einer zeit, wo man die wol frühestens im 10. Jahrhun-
dert eingeführten dänischen königssagen in norwegischem interesse corri-
gierte. Der berühmte dänische könig öudfred (Godofridus) (in norröner
form Gudrödr), welcher während der Streitigkeiten Dänemarks mit Carl
dem Grossen im jähre 810 durch verrat eines dienstmannes getötet wurde,
ist im Ynglingatal in die reihe der norwegischen Fylkesköuige aus dem
Ynglinggeschlechtc eingefügt; weshalb die Ynglingasaga auch nicht die
mindeste ahnung davon hat, dass er könig von Dänemark war.* Dass
1) Harald starb nämlich erst uin 930, iu sehr holiem alter.
2) In Snorres Ynglingasaga cap. 2G und 39.
3) Der Vingi des Atlamäl.
4) Ynglingasaga cap. 53. — um deren glaub Würdigkeit zu erretten , hat man
eine, besonders durch Munch ausgebildete, theorie erfunden, dass diese Ynglinge
Südschleswig erobert hätten, und von da aus das kaiserreich bekriegten, indem man
ÜBER TiTR EDDALIEDER 21
eine solche gänzliche Umwandlung und Verschiebung des geschichtlichen
schon binnen 40 jähren nach seinem tode, als noch viele seiner Zeit-
genossen lebten, zu stände gekommen sein sollte, ist natürlicli eine
Unmöglichkeit. — Noch weniger respect würden dann vorgebliche noch
frühere vorharaldinische Skaldenstücke verdienen. In den bruchstücken
einer Ragnars dräpa lodbrdkar* (in der Skalda), welche unter dem namen
„Brage Skald des Alten *^ passieren, werden die Wölsunge, Jörmunrek
und Jonakrs söhne erwähnt. Es scheint mir sehr naiv, diesen „ältesten
namhaften Skalden Norwegens" des dagewcsenseins auch nur für verdächtig
zu halten. Schon sein göttlicher name , der name eben des Skaldengottes,
sollte ihn solches verdachtes überheben,* obschon, „der wolunterrichteten
Egilssaga" zufolge, der tod ihn noch bis ums jähr 830 sollte verschont
haben. Er soll sich in den dienst „Ragnars Lodbrok" begeben haben.
Aber damit ist schon ein blosser sagenkönig, ein typus der Wikingszeit,
bezeichnet, welcher wol erst im verlauf des 10. Jahrhunderts aus dem-
jenigen Regner (in deutschen quellen Reginfridus) , nebenkönig eines
Harald (Harioldus), hat emporwachsen können, welcher dem zuverlässi-
gen berichte Einhards zufolge, im jähre 814, nach zweijähriger unmerk-
würdiger regierung, in einem bürgerkriege umkam. Erst nachdem die
dänische sage ihn zu etwas übergrossem erhoben und ihm den beinamen
Lodbrok (vielleicht einer andern uralten sage entlehnt) zugeteilt hatte,
erhielt er mit der nach Norwegen wandernden sage bedeutung für die
Norweger ; und dann mögen sie ihm wol sogar die nörröne Skaldenkunst
in diesem „Brage Skald dem Alten" zugesellt haben, wie es denn viel-
leicht auch nicht ganz zwecklos war, den beherscher der halben weit
und sein ganzes geschlecht hie und da zu gunsten der norrönen Interes-
sen zu bearbeiten. (Aus den bruchstücken dieser kaum sehr alten drdpa
ersieht man übrigens nicht, ob mit dem daselbst genanten Ragnarr der
sagenkönig Ragnarr lodbrdk gemeint ist, was wir aber immerhin auf das
wort des Verfassers der Skalda glauben können.)
Die sonderbare naivetät, womit nordische gelehrte diese Zeugnisse
behandeln, zeigt sich am grellsten in bezug auf „das alte Bjarkamdl ,'*^
voraussetzt, Dänemark sei in mehrere königreiche zerfallen gewesen. Aber die ein-
stimmige aoffassung Einhards , Kimberts. Adams, Saxos, Snorres usw. beweist, dass
Dänemark damals nur ein reich bildete, das natürlich nicht norwegischen gauköui-
gen Untertan war, sondern umgekehrt oft norwegische küstenstriche beherschte,
wodurch erbansprüche entstanden, welche, sowol als die noch spätem dänischen
anspruche auf ganz Norwegen, die Norweger durch genealogische fictionen beseitigen
wollten.
1) „er kann orti um Bagnar lodbrok'^ (Snor. Edda I, 370. 436).
2) Die existenz zugegeben, wäre damit nicht die authcntie gegeben. Man
konte ihm eben wie dem Ragnar, dem Bjarke, dem Starkad lieder andichten.
22 B. JB88EN
welches man als uraltes , und zwar dänisches , zeugnis für die Nibelun-
gensage citiert. Die beiden in der Heimskringla ^ mitgeteilten atrophen,
zur Kolfssage gehörend, mögen immerhin einem ächten heldenlied, sogar
einem aus Dänemark eingeführten, entlehnt sein; natürlich in solcher
gestalt, wie sie die lieder von den dänischen königen in der Wikingszeit
erhielten; dass die Kolfssage einst eine ganz andere gestaltung gehabt
hatte, ersieht man, wie oben erwähnt, aus dem Beowulf. Diese beiden
Strophen nun enthalten nichts von den Nibelungen. In der Skalda dage-
gen finden wir als benennungen des goldes: „des Rheines roterz," „der
Nibelunge streitursache ," „Granes ladung," „Pafnes erde," in drei
andern Strophen, welche als zum Bjarkamäl gehörend citiert werdjen.
Diesen Strophen aber sieht man es auf den ersten blick an , dass sie gar
nicht demselben gedichte wie jene zwei ^ entnommen sind. Sie haben
ein anderes und jüngeres metrum. Sie haben offenbar nie einem ächten
lieldenliede zugehört. Sie sind ein blosses Verzeichnis von kenningar
(Umschreibungen) des goldes; ein Verzeichnis, dem man mit einer den
Isländern sehr geläufigen freiheit den alten namen Bjarkanidl zugeteilt
hat, indem man es, durch solche kenningar veraiüasst, unter den ver-
schiedenen sagen auch auf die Rolfssage spcciel beziehen konte.
Bündige Zeugnisse für das dasein der deutschen heldensage bei dem
norröuen stanmie im 9. jalirhundert wären also schwerlich aufzutreiben.
Die besten wären noch immer jene beiden namen Sigfrödr und Guttormr ;
und besonders über den letztern Hesse sich immer noch streiten ; einer von
beiden ohne den andern hätte hier wenig gewicht; und dann müssen wir
noch correcte Überlieferung voraussetzen. Aus dem 10. Jahrhundert, so
wie auch aus dem 11. haben wir einige Zeugnisse aus Skaldengedichten, ^
deren authentie, wenigstens zum teil, geringerem zweifei unterworfen wäre.
Wir können indess immerhin zugeben, dass es doch wahrscheinlich ist,
dass die sage niclit erst so spät (nicht erst nach Harald Schönhaars zeit)
zum uoirönen stamm gelangte.
Über den weg, den die sage wanderte, wissen wir nichts. Es ist
nicht eben ausgemacht, dass sie über Dänemark nach Noi-wegen kam.
Sie könte aucli dircct aus Deutscliland oder England hergebracht wor-
den sein. Dass die aus der isländischen littoratur bekante form der
sage aucli in Dänemark gegolten liabc , lässt sich nicht dartun , im gegen-
satz teilweise widerlegen, indem gar niclit zu bezweifeln ist, dass 1) die
anknüpfung der sage von Uelge dem Huudingstöter , 2) die speciellere
1) Saga Olafs helga cap. 220.
2) AUc fünf sind in den Foryuddarsögur I s. 110 f. zusammengestellt.
3) Das Eiriksmdl; Egül Skallagrimssonr ; IlaUfredr vatidrcedaskdld usw.
ÜBEB DIB BDDALIEDEB 23
verknftpfüng der Nibelangensage tmd der Jörmünrekssage durch Äie dritte
heirat Gudruns, 3) die anknüpftmg der foignar Lodbrokssage {Welche
letztere anknfipAing jedcych iti keinem bewahrten Eddaliede vorkönit) , das
werk der norrönen bearbeitung ist. Saxo hat die Helge - Hütodingstöter-
sage und die Jarmerikssage , ohne irgend etwas von der Nibelun^ensage
zu haben. Er stimt also insofern mit didt deutschen sage, uhd zWa^
im bewahren des altem , überein , als -ei* vob der specielleren a^kki^pfUWg
der Ermenrichssage nichts weiss, und die fernere dennoch durchblicken
lässt, in^m 4<er name JBüdle (anfangs in d^r erzählung) auf gteichzei-
tigbeit JarMeriks und des (bei Saxo ^fehlend^n) Atle zurückdeutet. ^ Diasd
Saxo den hexennamen Gudrun hat, bleibt ein neutrales Verhältnis, indem
man dies^ namen sowol für anlass der norrönen formation^ als für
nachwirkung derselbeh gelten lassen kann.
Es fragt sich demnach zunächst nur, ob man einst in Dänemark
insofern miW der norrönen form übereiiistinlte , dass man 1) Guttorm *
den SiWard töten liess , 2) Atle die Nibeluhg^ vernichten liess , 3) Siwaris
weib Gudrun und nicht Grlttihüd nante (W^nn übrigens wirklich Grim-
hild erst spätere- entstellüng ist). Die bekiante stelle beim Saxo von
dem deutschen sänger, der in Däni^ark den Enud Laward dadurch
warnte, dass er „die allbekante treulosigkelt Grimhilds gegen ihre brü-
der*' vortrug, enthält einen belege dass den Dänen im 12. Jahrhun-
dert die nicht - isländische darstellung dieser Verhältnisse „allbekant^*
war. Alle bekeflfenden „ Kaempetisör " schliessen sich ferner der nicht-
isländischen formation an, nur eine wol ausgenommen^ die no. 4 in der
Sv. Grundtvigschen ausgäbe, welche einen verrat besingt, der demjeni-
gen Atles an den Nibelungen ähnlich sieht, jedoch mit ganz andern
namen, was ich so erklären möchte, dass dies eine norröne E^mpevise
wäre , in welcher man eben deshalb die namen alle änderte , weil sie der
den Dänen bekanten erzählung zuwiderliefen.^ Es fehlt denmach durch-
1) Saxo erwähnt auch die tötoig der neffen Jarmeriks (der Harlunge), wovon
die tiorröne form schweigt.
2) Der name Guttorm komt ein par tnal bei Saxo Tor, and müste ja^ falls er
ein fremder ist, ans Deutschland oder ans Norwegen her in gebrauch gekommen sein.
Ist er ans der NibelungeAsage her in aafbafaine gekommen, so wäre damit noch nicht
erwiesen, dass man in derselben Guttorm als den mörder Sigfrids kante. Die
DietrichBsaga hat ja den Guttolin, aber nicht als den mdrder.
8) Sv. Gnmdtvig (in seiner atisgabe der „ Polkeviser ") versucht auch no. 2
und no. 8 der „nordkchen sage'' zu Tindicieren. Bei no. 2 beruft er sich auf das
daselbst erwähnte pferd Siwards; dasselbe kömt aber auch in der Dietrichssaga vor,
und bewiese ja dennoch nichts , weil das blosse fehlen eines dctails in den späten
deutschen qnelleii ffir die altern verlornen nicht« beweist. Die no. 3 soll „nordisch"
24 E- JESSEN
aus an beweisen, dass die norröne formation (in diesen drei oder zwei
punkten) jemals zugleich die dänische (und schwedische) war. Dass
wenigstens die Helgelieder und die Jörmunrekslieder der Edda eine nur
norröne formation enthalten, dürfen wir jedenfalls als ausgemacht betrach-
ten. Wie es aber nun auch immer um die redactionsform der sage in
Dänemark mag ausgesehen haben, ist und bleibt der ganze Sagenkreis
ein deutscher und kein nordischer.
Ob auch die eddische göttersage, neben den urgermanischen,
deutsche demente enthält, wird sich vielleicht nie mit völliger gewis-
heit entscheiden lassen.
Dass die Vorstellungen von dem untergange der weit bei den Deut-
schen wesentlich ganz dieselben waren wie bei dem norrönen stamme,
ersieht man besonders aus dem „Muspill," worüber ich mich hier nicht
zu verbreiten brauche. Falls die hieher gehörigen vorst^lungen dem
christentume entstanmien, wären sie auch aller Wahrscheinlichkeit nach
von Süden nach norden gewandert (etwa um die zeit der Völkerwande-
rung). Ich weiss, dass die annähme christlichen Ursprunges bei den
altertumsforschern nicht in gunst steht, kann mich aber nicht erwehren,
dem verdachte nachzuhängen. Die Übereinstimmung der norrönen lehre
und der durch das alte gedieht Muspill sichtbaren deutschen teils mit
einer der letzten reden Jesu,^ teils mit einem abschnitte in der Oflfen-
barung Johannis ^ scheint mii' zu gross, um nur zufällig zu sein,
sein, weil Siward im saale getötet wird, und weil die königinnen sich am flusse
zanken ; aber solches bleibt bei der armnt an norddeutschen quellen ohne gewicht.
In dem ersteren punkte schwanken ja auch die P]ddalicder. Weit entscheidender ist
es, dass in diesem liedc (no. 3) die eine heldin Signild heisst (aus Grimhild, nicht
aus Gudrun entstellt), dass Hagen den Siward tötet, und dass die andere heldin,
also freilich eben die Brynhild (durch ein zusammenziehen und verschieben der züge
der „unnordischen" sagenform) mitten durchgehauen wird. — übrigens ist bei den
„ Kaempeviser " norröner einfluss immer möglich.
1) Mt. 24. Mr. 13. Lc. 21. — Brüder werden sich befeinden , Völker sich bekrie-
gen .... ein grosser angriff auf Jerusalem .... Die sonne verfinstert sich , die sterne
fallen .... Messias in seiner kraft steigt als richter herab . . . usw. (Vgl. in der
Völuspä : hrceär munu herjask .... söl mun sortna . . hveifa af himni heiäar stjör-
nur usw.).
2) 19„0 — 21. — „Das tier" wird ergriffen und in den feuersee geworfen (vgl.
Fenrir), „ Die schlänge '' (satan) wird ergriffen und auf tausend jähre in den abgrund
geworfen (vgl. Miägardsormr), Nach den tausend jähren bricht sie los, mit „Gog
und Magog** (vgl. die riesengeschlechter) , gegen „die heilige stadt" (vgl. Asgarär),
über „die ebene der erde" (vgl. die ebene Vigridr) vorriickend. Es fallt feuer vom
himmel und verzehrt sie (vgl. das feuer Surts). Himmel und erde vergehen (vgl. bei
ÜBER DIE EDDALIEDER 25
obschon ich mir andrerseits nicht verhehlen kann, dass es wol einige
Schwierigkeit hat, sich vorzustellen, wie das gedieht eines mit christ-
lichen Vorstellungen vertrauten, und dennoch heidnischen Sängers sich
als Volksglaube über ganz Deutschland und den norden hätte verbreiten
können. Man müste solches denn eben der gigantischen kraft seines dich-
tergenies zuschreiben.
n.
DIE LIEDER NORRÖN.
Obschon die heroischen sagen der „Sämunds-Edda** deutsche
sagen sind, versteht es sich von selbst, dass die lieder, die heroischen
sowol als die mythischen, nordische lieder sind, ebenso wie derBeo-
wulf ein englisches gedieht ist, obschon die sagen, von denen es handelt,
nicht englische sagen sind. Es fragt sich nun, inwiefern man (in Ver-
bindung mit einer bestimmung des alters) noch specieller bestimmen
kann, ob diese lieder, wie man es der auf Zeichnung auf Island zufolge
erwarten müste, norröne (norwegische und isländische) lieder sind, und,
dies zugegeben, ferner dann auch, ob man irgendwie norwegische
und isländische bearbeitung unterscheiden könte. Es wäre natür-
lich viele mühe gespart, falls, wie beim Beowulf, die spräche der lie-
der sogleich den ausschlag gäbe.
Die sprachliehen yerhSItnisse haben wir demnach zuerst in
erwägung zu ziehen.
Noch im 9. und 10. Jahrhundert war offenbar der sprachliche unter-
schied zwischen den stammen des nordens so unerheblich, dass man
nicht, wie jetzt, von verschiedenen nordischen sprachen, sondern nur
von dialecten hätte reden können. Kaum irgend ein grammatischer
unterschied würde in den liedem durch die isländische aufzeichnung her-
vorblicken, als nur etwa ein solcher, der die alliteration (also den con-
sonantischen anlaut) afficierte , indem jeder andere , ohne beeinträchtigung
des metrums, wol einfach durch mechanische einsetzung der isländischen
wortformen würde verwischt worden sein. Die bezüglichen alliterations-
Snorre : brendr er hinUnn ok jörä). Das grosse gericht wird gehalten (vgl. in der
Völuspä: pd kemr in riki at regindomi). Ein neuer himmel und eine neue erde
erscheinen (vgl. öäru sinni jörä or csgi) , und ein neues Jerusalem aus gold und edel-
steinen (vgl. Gimle). — Dass auch der norrönen Vorstellung nach, Heiheim und
NastrÖnd auch nach dem Bagnarök bewohner haben ^ must^n , folgt teils aus dem
regindomi, teils daraus, dass der grosse brand nur die im Ginnungagap entstandene
vergängliche weit verzehren konte, nicht aber Muspelheim und Nebelheim, also auch
nicht die Wohnorte im letztem.
26 E. JES8BK
veriiältnisse berühren übrigens eben so wol, zum teil noch mehr, das
alter als den helmort der gedichte.
Im ganzen norden ist der urgennanische anlant j^ weggefal-
len, und ebenso der anlaut v (: w) vor o, w, y, o, <b, ti, 3^,* und
zwar ganz bestirnt nicht erst im 9. Jahrhundert; wie viel früher aber,
lässt sich nicht eigentlich feststellen. In den von Bugge gelesenen®
inschiiften (denen mit den altern runen) aus „dem altern und mittlem
eisenalter" stehen solche anlaute noch, ganz bestimt das w (Wodurid
usw.) , vielleicht das j (jah ?) , was also , falls wir hier ein älteres Sta-
dium der jetzigen nordischen sprachen selbst hätten, einen entscheiden-
den beweis abgeben würde, dass die Eddalieder in ihrer aufbewahrten
gestalt samt und sonders erst aus einer weit späteren zeit stammen,
ind^m sie samt und sonders diese anlaute nicht darbieten, und Wörter
wie z. b. dr (ursprünglich jdr), ulfr, ödinn (ursprünglich vidfr, Vödinn)
nur vocalisch alliterieren lassen. Ich vermag indessen nicht einzusehen,
wie die von Bugge aus diesen Inschriften herausgelesene sprachform ein
directes, obendrein so später zeit angehöriges mutterstadium sämtlicher
nordischen sprachen, oder auch irgend einer derselben, sein könte, und
kann andrerseits aus historischen gründen nicht an eine hinlänglich grosse
und überwältigende nordische Völkerwanderung erst im 8. Jahrhundert
glauben, welche die jetzigen nordischen sprachen eingeführt hätte, sehe
mich also gezwungen, in diesen inschiiften die spräche eines, später
absorbierten, eingedrungenen herscherstammes ^ zu erblickeni, die sich ein
paar Jahrhunderte hindurch der spräche der grundbevölkerung zu trotz
erhalten hätte, so dass diese Inschriften eine ähnliche Stellung einneh-
men würden wie die nordischen in Grossbritannien. Ich für meinen teil
sehe mich also genötigt , auf ein so bestimt abgränzendes chronologisches
kennzeichen, wie das den inschiiften zu entnehmende wäre, verzieht zu
leisten. Da aber doch kaum jemand annehmen würde, dass die nordi-
schen sprachen schon „im altern eisenalter" das w verloren hätten, so
würden die lieder sich doch jedenfalls selbst ausserlialb der gränzen so
alter zeit stellen. — Es könten ein paar stellen in den liedern nadi-
wirkung des anlautes vo, vu zu enthalten scheinen, nämlich
1) Was man in isländischen bnchem, der neuem ausspräche gemäss, als j
druckt (jörä z. b.), war vormals ein vocal und alliterierte durchaus vocalisch.
2) Nur in verbaler flexion kann angleichung das v wider einsetzen , z. b. vinna
vann unninn und auch vunninn.
3) Es dürfen meine w^rte nicht als eine Gutheissung sämtlicher deutungen
Bugges gelten, von welchen sehr viele überaus problematisch bleiben, was aber in
der natur der Inschriften liegt
4) Man .könte etwa an die Eruier denken?
ÜBBB DIB BDDALIEDEB 27
Lokas. 2 ^ mangi er per i ordi vinr
10 ristu pd Vidarr
ok Idt tdfs födur
Härbardsl. 24 Oämn d jdrla
pd er i vai faUa
was solchenfalls also so zu erklären wäre, dass hie und da ein vers
unverändert aus weit altern gedkhten herübergewandert wäre, natürlich
mit hintansetzung der fui- die uns vorli^enden lieder gültigen allitera-
tionsregeln. Aber auch nicht einnml das lässt sich kraft dieser paar
beispiele behaupten. Die beiden erstem lassen sich gar zu leicht aus
blosser Unachtsamkeit eines Schreibers erklären: engl statt mangi, ^ und
ein upp (upp ristu Vidarr) überheben diese zeilen des verdachtes eines
dahinter steckenden voräi und vulfs. Und was das beispiel auß dem
Harbardslied betrifft , so ist dies gedieht sowol metrisch als in der allite-
ration viel zu locker, um ganz abnorme sprachliche Verhältnisse (so wie
ein Vödinn) erhärten zu können.*
Der anlaut vr hat sich in Schweden, Dänemark und einem gros-
sen teile des südlichen Norwegens (so in Buskerud, Thelemark, Robyg-
delag,^ meines wissens auch in der bis IßbS norwegischen provinz
Bohuslen oder Viken^) bis jetzt erhalten. Längs der ganzen Westküste
Norwegens, und ebenso auf Island (das eben aus diesem küstenlande
bevölkert ¥nirde) ist das v dieses anlauts gänzlich geschwunden ; ob schon
im 9. Jahrhundert, lässt sich kaum dartun; aber wol jedenfalls im 10.;
jedoch konte die Veränderung nicht auf einmal längs der ganzen Unge-
heuern strecke am ocean eintreten. Da der schwund des v seit dem
9. — 10. Jahrhundert nur hat zunehmen können, dürfen wir annehmen,
dass damals überhaupt das „Sendenfjddske" (d. h. das land im Südosten
des höchsten gebirgsrückens), oder jedenfalls das ganze land zu beiden selten
des Skageraks , das vr wahrscheinlich noch unversehrt wird gehabt haben.
Aber auch falls schon damals das gebiet des vr dieselbe begränzung
hatte, wie heutiges tages, würde das vorkonmien dieses anlautes ein
gedieht nicht aus dem norrönen gebiete verweisen; auch nicht dann,
1) Die citate in meiner abhandlung passen, wo anderes nicht bemerkt wird,
zu den in Deutschland verbreitetsten ausgaben, denen von Lüning und Möbius.
2) In Lokas. 2 könte man wol auch ein beispiel der freiheit erblicken , die drei
Zeilen in\ Ijöäahdttr mit einander alliterieren zu lassen (wie in Lokas. 14, Häram. 79),
wobei die dritte nur einen stab erhält.
3) Übrigens findet man gelegentlich die alliteration der beiden ersten zeilen
der dreizeiligen halbstrophe (IßäähcMr) Tersäumt, z. b. Sölarljöd 76 (beide halb-
strophen), grade ein sehr correctes lied.
4) Wo man vreV, vrak, vrang, mc, vrüit sagt.
5) Vgl. Ortsnamen wie Yraingebäck, Yrangvatten.
28 E. JESSEN
wenn das gedieht erst dem 9., 10. oder 11. Jahrhundert angehören
könte; es könte ja eben von einem Sänger herrühren, dessen dialect
das V noch bewahrte. Aber auch dichter, in deren ausspräche es ver-
schwunden war , werden es wol gelegentlich als willkürlichen archaismus
verwendet haben. Einen beleg liefert das späte und christliche gedieht
Solarijod ^ in diesen zeilen:
26 (v)reiäiverk
pau er pü vunnit hefir.
Ferner citiert die grammatische abhandlung des Olafr Hvitaskald^ als
beispiel des vr eine zeile, die er dem Isländer Egill Skallagrfmssonr
beilegt:
vröngu varar Gungnis
und Olaf sagt hierüber: „jetzt heisst das in der dichtkunst: alter gebrauch
des V " (nü er pcU Jcallat vindaiidin forna i skaldskap). Aus den vor-
geblichen gedieh ten „Brage Skalds des Alten" citiert die Skalda:^
vüdiä vröngum ofra
vdgs hyrsendir cegL
Den Brage dachte man sich nun ireilich als zu einer zeit (anfangs
des 9. Jahrhunderts) lebend , von der wir nicht wissen können , wie es
um das vr stand. Mir aber, der ich die „ Bragenlieder " für spätere
und wol isländische produete halte, ^ ist das vr in vröngum natürlich ein
willkürlicher archaismus. — In den Eddaliedern nun, welche durch neu-
bearbeitung älterer dichtung entstanden sind, könte das vr noch ausser-
dem auf eine andere weise blosser archaismus sein , indem dieselben nicht
selten zeilen und Strophen aus altern gedichten unverändert herüberneh-
men, so dass ein vr hier für die altern lieder, viel mehr als für die
Eddalieder selbst, belege abgeben könte, obschon man natürlich auch,
und eben vorzüglich in gedichte dieser antiksten form, das vr mit
absieht als passenden archaismus hineinbringen konte. In den Edda-
liedern nun hat man 8 unzweifelhafte beispiele* des bewahrten vr auf-
gefunden :
1) Ist nicht zu den „Eddaliedern" zu rechnen, steht auch in keiner der bei-
den handschriften.
2) Snorra Edda, Arn. Magn. ansg. II. 132. 134.
3) Snorra Edda 1 , 504.
4) Ebenso wie z. b. das dem Kagnarr lodbrok angedichtete Kräkumäl , welches
aus christlicher zeit herrührt (vgl. odda messu in str. 11).
5) In diesen gedichten können natürlich weder für noch gegen das vr solche
Zeilen ala beweise gelten , welche (wie in pryraskv. 1. Lokas. 18. 27. Atlakv. 13.
Rigsm. 1. Sigrdr. 37) auch, sei es ohne oder mit dem w, den nötigen stab schon
haben. Ein nebenstab ist ja der regel eben so gut gemäss^ wie es zwei sind.
ÜBRB DIB EDDALISDEB 29
Hävam. 31
en at vidi (vjrekask
Vaf|)iüan. 53
pess mun Vidarr (v)reka
Lokas. 15
vega pü gakk
efpü (v)reiär ser
Fä&isTTi. 7
scei maär pik (v)reiäan vega
17
hvars skclu (v)reiäir vega
30
hvars skolu (v)reiäir vega
Sigi-drff. 27
hvars skclu (v)reiäir vega
AÜakv. 2
vin i Valhöllu
(vjreiäi sdsk peir Hüna
also nur für die beiden Wörter reka und reidr (nebst reidi), und so dass
fünf dieser acht beispiele die uralte alliterierende formel (vjreidr vega
enthalten, drei derselben sogar buchstäblieh gleich lauten. Andrerseits
finden sich mehr als doppelt so viele beispiele des vor r abgeworfenen v.
Das sieht zusammen so sonderbar aus, dass ich darin nicht einmal direct
kennzeichen einer Übergangsperiode oder der Verschiedenheit norwegischer
dialecte erblicken möchte, sondern vielmehr in den fällen mit vr nur
willkürliche archaismen, indem ich mir die sache so denke, dass ein
paar stehende, von altersher alliterierende formein mit (v)reidr und
(vjrdca, die man nicht als solche aufgeben mochte, das bewustsein der
altern ausspräche bei diesen beiden Wörtern erhielten, und ferner zu
willkürlich archaisierendem gebrauch der beiden Wörter auch ausserhalb
der formein anlass gaben, während solches bei andern Wörtern aus der
Ursache unterblieb, weil man sich bei denselben der altern ausspräche
nicht mehr erinnerte. Doch läugne ich nicht (z. b. bei Vafl)rü(ln. 53)
die möglichkeit unveränderter herübernahme einer zeile aus einem altern
gedieht. -— Beispiele nun des r statt des ursprünglichen v^- sind fol-
gende aufgefunden:
Hävam. 5 vUs er pörf
Peim er vida ratar^
17 sd einn veit
er vida ratar
lOG Rata^ munn letunik
rums um fd
1) Hier, und 17, und Alvism. 6 würde die 2. zeile einen stab zu viel haben,
wenn man die ursprüngUche ausspräche vrata gelten liesse. vida vrcUa ist eine
ursprfingUch aUiterierende formel; dass sie dennoch jedesmal in zweiter zeile steht,
beweist ausdrücklich, dass das v geschwunden war.
2) Borer, eigentUch schnirkler, aus derselben wurzel wie rata; cf. das däni-
sche vraade et hjul (die nahe durchbohren).
30
E. JUSSSV
Lokas. 55
Grimnism. 32
Alvfsm. 6
Helgakv. Hjörv. 6
20
21
kann raär rö
Peim er rcegir her
Ratatoskr^ heitir ikomi
er renna shal
Vingpörr ek heiti
ek hefi vida ratat
rikr rog-apcddr
ne Röäuls völlum
poU Jm heßr reina^ rödd
reini nrnn ek per pikkja
ef pü reyna kndtt
Helgakv.Hund.il. 26 at pü at rogi
rikmenni vart
vilkat ek reiäi
riks pjöäkonungs
ratar^ görliga
rdä SigurSar
mtm fyr reiäi
rik hrüdr viä pik
Rin skal rdäa
rog-malmi skatmi
röndum sleginn
ok rög-pornum^
rthiar nam at rista
rengdi pcRr Vingi
röskr ^ tök at rceda
pött kann reiär vceri
also für die Wörter reiär (nebst reiäi) ^ rata (nebst Rati, Ratatoskr),
rengja, reini, rög (nebst rcegja). Bäcksichtlich des roigja ist zu bemer-
ken, dass es auch im Schwedischen röja heisst, welche form während
Gripissp. 26
Atlam.
36
49
Atlakv. 27
29?
51
1) Rata ist genitiv von Bali; toskr ist stosszahn (Bugges derivation aus rota
ist falsch).
2) Siehe hierüber die noten in Bugges ausgäbe; (v)retni bedeutet hengst.
3) Kaum für hruiar , da in diesen liedern r statt hr fast nie vorkömt; Bugge
in seiner ausgäbe s. 174 weiss nur ein beispiel anzuführen: ran statt hras: Havani.
152. — Im 9.— -10. Jahrhundert stand das hr wol im ganzen norden fest, jeden-
falls in Norwegen , schwand aber nicht viel später , ausgenommen auf Island , wo es
sich bis jetzt ziemlich fest gehalten hat.
4) Siehe hierüber Bugges ausgäbe s. 432.
5) röskr hiess vielleicht ursprünglich vröskr (verschieden von ra^kr); da aber
nur ein nebenstab nötig ist , können wir hier weder str. 51 noch 50 noch 58 zum
strengen beweise für den abfall des v gebrauchen. (Ebenso verhält sich Bigsm. 1).
ÜBXB DIB B9DAXJEDER Sl
der Union mit Norwegen im 14. Jahrhundert könte eingeführt worden
sein. Hätte aber das Schwedische unabhängig vom Norwegischen das
V dieses wertes eingebflsst, so entstünde die frage, ob solches so früh
geschehen wäre, dass es in den liedern nur ein chronologisches, nicht
zugleich ein örtliches kennzeichen wäre. Dass ein roegja jedenfalls nicht
„dem altern und mittlem eisenalter" angehört hat, versteht sich von
selbst — In einigen liedern (Hävamäl, Lokasenna, Atlakvida) findet
sich, wie wir sehen, beides: vr, und r statt vr. In vielen fehlen bei-
spiele sowol des einen als des andem.^ — Es versteht sich von selbst,
dass r statt t;r norrönes kennzeichen ist, und dass bewahrtes vr hier neu-
tral bleibt, indem ja das südliche Norwegen das vr noch jetzt kent, und
dieser anlaut auch in sehr alten westnorwegischen gedichten stehen
müste, und in Jüngern westnorwegischen oder isländischen als archais-
mus stehen könte (welches letztere, wie ich schon gesagt habe, ich
wenigstens für die mehrzahl der fälle als meine erklärung festhalte).
Das Harbardslied abgerechnet, enthalten sämtliche lieder beider
Codices den postpositiven artikel kaum über drei oder vier mal
(wo er obendrein von Schreibern könte hineingebracht worden sein).
Anders im Harbardslied; es gebraucht oft den artikel ungefähr eben so
frei, wie es isländische prosa tut, characterisiert sich also dadurch auf
doppelte weise als ein spätes product, indem es erstens einer zeit ange-
hört, wo in der täglichen rede der artikel wenigstens eben so häufig
war, was den runensteinen nach* keine heidnische zeit wird gewesen
sein; und zweitens einer zeit angehört, wo man darauf verfallen konte,
in einem liede den eigentlichen poetischen styl (dem der artikel wider-
strebt) aufzugeben. Natürlich ist der artikel direct nur ein chronologi-
sches kennzeichen. Aber je jünger ein lied ist, um so unwahrschein-
licher wird es ein nicht -isländisches oder gar ein nicht -norrönes sein
können.
*
Ganz ebenso verhält es sich mit einem andern und nicht granmia-
tischen kenzeichen später zeit, nämlich fremdwörtern, wie besonders
dreki (Völusp.), kalkr (H^misk., Sigurdarkv. III, Atlakv.), kista (Völdkv.,
Sigrdrf., Atlam.). Es gibt lateinische eindringlinge, wie z. b. ketill,
söäull^ vin, solche, .die mit dem handel oder mit dem römischen heer-
wesen in Verbindung standen, welche schon zur zeit der Völkerwande-
rung oder gar früher zu den Deutschen gelangt sein köuten, und viel-
1) Wie das denn auch nicht anders sein konte , da es der wurzeln mit vr nicht
viele gibt.
2) Auch in den alten dänisohen und schwedischen gesetzen ist der artikel noch
verhältnismässig unhäufig. — Im Harbardslied steht er 20 mal.
32 B. JESSEN
leicht nicht Jahrhunderte nötig hatten, um nach dem norden zu wandern.
Aber dreki^ würde keinesfalls so alt eingebürgert sein, und kallcr und
histtty besonders das erstere, erregen verdacht, dass sie mit dem Chri-
stentum hereingekommen seien.
Lexicalisches, das über norrön und nicht norrön entscheiden könte,
wird sich übrigens schwerlich auftreiben lassen. Der Wortschatz der
Eddalieder muss natürlich als der norröne epische Sprachschatz gelten.
Inwiefern er aber speciel dänische (oder schwedische) demente enthalten
könte, und inwiefern der dänische (und der schwedische) epische Sprach-
schatz von dem norrönen verschieden war, wird sich aus der Ursache
nie dartun lassen, weil wir keine so alte dänische (noch schwedische)
dichtungen in einheimischer Überlieferung haben.
Ergiebiger an entscheidungsmitteln als die sprachlichen Verhältnisse
sind diejenigen, woraus wir ersehen können, welche landes - natnr die
phantasie der Verfasser dieser und der dahinter liegenden altern lieder
erfüllt hat. Einiges, obgleich nicht vieles, Hesse sich wol auch aus
noch andern in den gedichten hervortretenden lebens Verhältnissen folgern.
Norwegen und Island sind felsenl ander, Dänemark ein nie-
driges land. (Auch die uralten hauptwohnsitze der Gauten in West-
und Ost-Gautland sowol als gröstenteils die der eigentlichen Svear um
den Mälarsee sind nicht eigentliche gebirgsländer ; Westgautland ist
eine grosse, ziemlich hoch liegende ebene, wol mit einigen „bergen,"
aber keinesweges ein felsenland; Schweden ist uns indessen hier gleich-
gültig, indem alles daraufhindeutet, dass schwedische dichtung, inclu-
sive sogar westgautische königs- und heldensago, dem norrönen stamm,
jedenfalls der norrönen litteratur, fremd blieb). Ebenfalls rücksichtlich
der Vegetation ist der gegensatz zwischen Dänemark und Norwegen
bedeutend (wogegen sich hierin der grösto teil Schwedens an Norwegen
schliesst.)
Das blosse erwähnen von bergen ist nun natürlich nicht genug,
um hier irgend welchen ausschlag zu geben. Auch die Dänen mögen
sich das Jötunland (riesenland) als ein gebirgsland gedacht haben, so
dass derartige Vorstellungen nicht sofort hinreichen, um Dänemark die
prymskviäa abzusprechen. Wenn die Helgakvida Hjörvardssonar von
Norwegen als von einem gebirgslande redet, beweist auch das an und
für sich nichts, da auch ein Däne so von Norwegen reden würde. Auch
„ die felsen des Rheins " in der Völundarkvida und der Atlakvida werden
1) Mass wie die andern aus romanischen ländem hergekommen sein, obschon
ursprünglich ein griechisches wort.
ÜBER DIE EDDALIEDER 33
wol, SO wie die hunischen ebenen (Atiakv. 13), auf künde der wirklichen
geographischen Verhältnisse beruhen. Wenn aber in den Helgenliedern
Dänemark und andere Ostseeländer als ächte gebirgsländer auftreten, so
ist das ein entscheidender beweis, dass diese lieder keine dänischen sein
können; die norröne phantasie hat sich hier der, übrigens den Norwegern
wolbekjjnten, Wirklichkeit nicht erinnert, und statt derselben norwegische
natur eingesetzt, was natürlich kein Däne getan hätte. Und wenn über-
haupt in den liedem die gebirgsnatur einen offenbar norrönen charac-
ter hat, darf dies als entscheidender beweis norröner phantasie gelten.
Der ausdruck der J)ryinskYida: björg „hrotnuciu'' bedeutet hier schon
etwas, wie auch in der Lokasenna das „fjoll^' oll skjalfa, indem in bei-
den fällen nicht nur der berg, sondern speciel der felsen, der steinberg
hervortritt; der norrönen phantasie waren felsenspalten und herabgestürzte
felsblöcke etwas alltägliches. Die alltägliche Vertrautheit mit norröner
gebirgsnatur blickt aller orten durch. Mit dem erwähnten „zerbersten
der berge" und „erbeben der felsen** vergleichen wir ferner grjöthjörg
ijnata (Völusp.) „die steinberge stürzen." Der zwerg wohnte auch dem
Dänen im „berge" (hügel); in diesen liedern noch specieller im „steine":
d eh undir steini staä (Alvfsm. 3), hinter der steinwand und der steinernen
tür, aus der er herauskömt: stynja dvergar fyr steindurum, veggbergs visir
(Völusp.). In der einleitung zum Grfmnismdl, sowie auch im Hyndlu-
Ijöd, wohnt die riesin im hdlir (steinhöle), und die im Helreid Bryn-
hildar kömt aus dem stein hervor (hriiär 6r steini: 3) und hat ein auf
dem gestein ruhendes gehöfte (grjöti stttdda garda mina: 1). Auch der
Däne hätte vielleicht den Skirne über „berge" reiten lassen ; die norröne
phantasie lässt ihn (Skfmism. 10), und ebenso die söhne der Gudrun
(Hamdism. 11), über „die nassen felsen" (ürig fjoll) ziehen (vgl. das
tirgar hrautir des Bfgsm. und des Fjölsvm.) , eine Vorstellung , die offen-
bar dem westlichen abhänge des norwegischen gebirges entnommen ist
(und wol auch auf Island passt). Über die „ reifbedeckten felsen " (heltig
fjöll) reitet Sigurd (PäMsm. 26), und ebenso Rfgr jarl „den dunkeln
weg über die reifbedeckten felsen" (Rfgsm. 34). Im Grögaldr-Fjölsvinns-
mäl (falls man übrigens von diesem gedichte in Verbindung mit den
Eddaliedern reden kann) wird von zaubermitteln gegen „den frost auf
dem hohen felsen" (frost d fjalli ha: Grog. 12) geredet; und in einem
Zusätze zu einer strophe im Hävamäl (89) von der Übeln aufgäbe „auf
dem tauenden felsen ein renntier^ holen zu sollen" (eda shjli haltr
1) Das remitier uod der „weissbär^' (Atlain. 18) wären wol die einzigen tür
uns hier nicht neutralen tiere der lieder, indem in jenen Zeiten auch die vielen „zie-
genheerden" dänischen Verhältnissen nicht unangemessen sein möchten.
ZBIT8CHR. P. DEUTSCHS PHILOL. BD. III. 3
34 E. JESSEN
henda hrein i pdfjalU). Dem Hävamäl ist der reisende speciel ein über
die felsen reisender (wo er durchnässt wird): matar ök vdäa er manni
porf peim er hefir um fjall farit (str. 3 : „ essen und kleider sind dem
manne nötig, der über den felsen gereist ist"); noch bezeichnender stellt
str. 117 fahrt über fels und fjord^ zusammen, was ja eben auf das nor-
wegische kfistenland passt: ä fjalli eäa firdi ef pik fara tidir, fdstu ai
virdi vd („must du fahren über fels oder Qord, versieh dich mit nah-
rung wol"). Im ersten Helge -Hundingstöter-liede lassen Granmars
söhne den Svipud und den Svegjud entlang „tauige täler und dunkle
bergesabhänge " laufen {dcda döggötta, dökkvar Midir: 46); und im zwei-
ten klettert Gudmund in „steilen bergesklüffcen " (brattar bergskorar:
20), und laufen die ziegen vor dem wolfe erschrocken den felsen herab
(af ßaili: 35). Einen am ehesten wol isländischen eindruck möchte wol
die H^miskvida machen mit ausdrücken wie hölkn (steinland), hrey^i
(steinmassen) , Äo/^ridta Ä«;err (waldige bergschlucht), hraunhvalir, hraun-
Mar (bewohner der stein- oder lavamassen), bergbüi (bergesbewohner;
von dem (Egir)^ bergdanir (bergesleute) , hdfjcdl skarar (des haares
hochfels, d. i. haupt), nebst den hreingalkn, entweder einer art unholde,
die in ihrer gestalt zum teil renntier waren, jedenfalls irgendwie mit
renntieren zu tun hatten, oder auch kenning (Umschreibung) für wölfe
(ungetüme, Verfolger der renntiere); also jedenfalls eine norröne Vorstel-
lung. Die von der gebirgsnatur bedingten fasse (wasserföUe) geben
gleichfalls anlass zu bildern, die ein gar undänisches gepräge haben.
So fängt, in der einleitung zum zweiten Sigurdsliede, Otter den lachs
im fischreichen fosse; und in str. 2 sagt der von Loke im foss gefan-
gene hecht: margan hefik fors um farit („durch manchen foss bin ich
gedrungen"); wie ja auch in der erzählung in der Snorra-Edda von der
gefangennehmung Lokes dieser als lachs zwischen dem meere und dem
foss^ auf und ab schwimt. Und nun gar das gemälde in der Völuspä
von der nach dem Ragnarök verjüngt emporsteigenden erde; wie stellt
sich die dem äuge des dichters dar? „Es fallen fosse, über denen der
adler schwebt, zwischen felsen fischend" (falla forsar, flygr örn yfir^
sd er d fjalli fiska veidir). Auch das Skfrnismal hat über den adler
einen der dänischen phantasie ungeläufigen ausdruck, in dem ara piifa
(27), das die felsenspitze bezeichnet, wo sich der adler zu setzen pflegt;
in Dänemark setzt er sich auf die höchsten baumgipfel, indem ihm hier
die erde keine hinlänglich hohen Sitzplätze darbietet.
1) Langer schmaler meereseinschnitf.
2) Also einem, der zu hoch oder zu steil war um entweder hinüber zu sprin*
en oder hindurch zu dringen. Die kleineren oder sanfteren halten den lachs nicht auf.
ÜBER DIB EDDALIBDEB 35
Die dänischen wälder sind buchen wälder ; doch gibt es eichenwald,
und vormals war die eiche häufiger als jetzt. Noch sparsamer finden
sich andere laubhölzer: birken, espen, eschen, ulmen usw. Nadelhölzer
fehlen durchaus und fehlten wol schon vor dem „ broncealter " ; was man
jetzt von solchen antrifft, ist alles in neuester zeit angepflanzt worden.
Auf der skandinavischen halbinsel wächst die buche sehr wenig ausser-
halb der Provinzen Schonen, Bleking und Hailand, ^ nämlich, obschon
mit geringer Verbreitung, in Götarike, und ausserdem an ein paar orten
im südlichen Norwegen in der gegend am Christiania - Qord. Längs der
norwegischen Westküste fehlt sie durchaus. Die laubwälder Schwedens
und Norwegens bestehen meist aus birken. Nächst der birke ist die
espe das verbreitetste laubholz. Eichen sind recht häufig. Linden,
ulmen, ahorne, eschen, wilde apfelbäume usw. wachsen, wie in Dänemark,
sparsamer, und nicht in nördlicheren gegenden (in Norwegen ungefähr
in der einen hälfte des landes). Die nadelhölzer, nämlich gran (fichte)
und fyrr oder tall (kiefer) haben das übergewicht über die laubhölzer. Die
fichte ist jedoch in einem grossen teile Norwegens unhäufiger , und fehlt
fast durchaus im ganzen Bergenstift, und überhaupt längs der küste
des oceans südlich des 62. grades; ist ja auch ein dem menschen unwich-
tigerer bäum als die kiefer. Als brennholz dienen besonders die kiefer
und die birke (in Dänemark aber die buche). — Die betreffenden Ver-
hältnisse nun in den Eddaliedern deuten entschieden auf die skandina-
vische halbinsel, und wol besonders auf die südlichere hälfte der norwe-
gischen Westküste, indem die buche und die fichte {gran) nicht vorkom-
men, dagegen ungefähr alle andern norwegischen hölzer,* so mehr-
mals die kiefer, und als brennholz diese und die birke (Völundarkv. 9.
Gudrkv. IL 12), doch bei der Verbrennung einer fürstlichen leiche ein
Scheiterhaufen von eichenholz, als kostbarer und vornehmer (Gudrhv. 20) ;
ferner als gewöhnliches material zum dachdecken die birkeurinde (ncefr:
Hävam. 59), welches auf Dänemark nicht passt, indem einerseits die
birke viel zu unhäufig ist, um hiezu das gewöhnlichste material abgegeben
zu haben , andrerseits heidekraut und stroh nicht (wie letzteres in Skan-
dinavien) zu kostbar für solchen gebrauch war. Unter den erwähuungen
der kiefer wäre noch besonders hervorzuheben Hävamdl 49: hrornarpöU
sü er stendr porpi d, hlyrat henni börkr ne harr („ es verdorrt die kie-
fer, die auf dem hofe steht; nicht rinde noch nadeln schützen sie"),
weshalb ihr der freundlose mann verglichen wird. Diese kiefer also ver-
Die Knytlingasaga erwähnt die buchen- und eichenwälder Hailands.
2) Die meisten bleiben ja neutral, nur nicht die nadelhölzer, die buche, noch
auch die birke, falls diese als ein vorhersehender bäum auftritt.
3*
36 " li. JBSSEM
kümmert, weil die andern kiefern umher weggehauen sind. Das passt
schlecht auf Schweden und die inneru teile Norwegens, indem die wenig
empfindsame Mefer daselbst auch ohne den schütz anderer bäume gedei-
hen kann. Es wird diese stelle nur auf die äussere, den winden des
oceans am meisten ausgesetzte westliche küste Norwegens passen.
Auch aus dem ackerbau hat das Hävamäl etwas charakteristisches,
nämlich (str. 87): akri drsdnum trüi engl rnaär, ne tu snenima syni
(„dem frühe besäten acker traue niemand; so auch zu früh nicht dem
söhne"). In Norwegen (und einem grossen teile Schwedens) kömt die
frühlingssaat freilich bestimt genug hervor, wächst auch empor, ist aber
danach der grösten gefahr ausgesetzt, indem der oft schon zur emte-
zeit oder vor. derselben eintreffende frost alles verderben kann. Sehr
zutreffend sagt dies Sprichwort daher: „so auch zu früh nicht dem söhne."
Uns Dänen föllt das treffende weg , und steht die strophe in bedeutungs-
armer unbestimtheit da, indem bei uns die frühlingssaat nur geringer
gefahr ausgesetzt ist, speciel nicht der erwähnten vor dem reifwerden,
wol aber natürlich dem schaden durch hagel und zu schweren regen,
der ja aber ebensowol die Wintersaat trifft. — Im Harbardslied (3)
nent Thor als seine kost auf der reise „häringe und hafer." Die häringe
passen eben so gut zum seeländischen und schonischen küstenlande am
öresund als zum norwegischen , und die hafergrütze ist ^ ebensowol
schwedische als norwegische alltägliche kost des gemeinen mannes; aber
eben beides zusammen möchte man wol den norrönen indicien zuzäh-
len. — Als das gewöhnliche körn nent übrigens das Alvissmäl die gerste
(zum hier und zum brod angewendet ; vgl. lagastaf und ceti). Roggen *
wird in den liedern nicht erwähnt , auch sonst sehr wenig in isländischen
Schriften, wol aber, nebst weizen, in den alten noi-wegischen gesetzen.
Der weizen kömt in der Ssemundar - Edda nicht vor; dagegen aber im
ßfgsmäl, jedoch nicht als auf dem felde wachsend, sondern als dünnes
„flachbrod" (neben dem weine) auf dem tisch bei „Jarls" vater, d. h.
in den vornehmsten und reichsten häusern. Die sagas erwähnen die starke
einfuhr von weizen aus England. — Andere in den liedern erwähnte
gewächse (als heidekraut, gras, lauch) sind neutral.
Es ist zu bemerken, dass die den Verfassern der lieder vorschwe-
bende Vegetation nicht blos die isländische ist, indem die mehrzahl der
genanten bäume auf Island nicht gedeiht (wogegen getreidebau vormals
auf Island gelingen konte). Falls unter diesen liedern isländische bear-
beitungen norwegischer poesie vorkommen, hielten also die Isländer die
1) Wenigstens in änuerh gegenden in Schweden, so in Wermland.
2) In Dänemark ist bekantlich der roggen das hauptnahrungsmittel.
ÜBER DIE EDDALIEDER 37
ihnen so vertrauten norwegischen Verhältnisse fest, indem sie sich gewöhn-
lich erinnerten , dass keins dieser lieder auf Island spielte. Von der im
südlichen Norwegen vorkommenden schmarotzei-pflanze mistiUeinn begeg-
net uns eine gegen autoptische kentnis derselben zeugende erwähnung,
wovon später.
Ausserhalb der Vegetation kömt wenigstens eine speciel isländi-
sche Vorstellung vor, nämlich im iiveralundr derVöluspä; hverr (kessel)
ist benennung der heissen quellen auf Island; das hvera lundr (wo
Loke gebunden liegt) bezeichnet einen ort voll derselben, beweist also
eine isländische Weiterbildung des „ vulcanischen " mythus von dem
gebundenen Loke,* und stempelt die Völuspä als ein isländisches lied. —
Gletscher sind ja in Norwegen und Island sehi* häufig, aber natürlich
in Dänemark (und den alten Wohnsitzen der Gauten und Schweden)
unbekant , weshalb jökull , welches in der isländischen litteratur eismasse
jeder beliebigen grosse bezeichnet, in den entsprechenden dänischen und
schwedischen (jetzt nur provinciel vorkommenden) formen egel, ikhd
nur eiszapfen bedeutet. Dies jöJcull nun steht zweimal in den Eddalie-
dern, und man ist darüber sehr uneinig, wie grosse eismassen es daselbst
bezeichne. Die eine stelle ist Hymiskv. 10: gekk inn i sal, glumdu
jöklar; var karls er koni kinnskogr frerinn („er, der rieseHyme, gieng
in den saal; es erdröhnten die jöklar; der „backenwald" des hereinkom-
menden alten war gefroren"); die jöklar hier verstehen einige von eis-
zapfen entweder am gefrornen backenbarte oder draussen am dache; in
beiden fUllen scheint mir das glunidu unpassend; glynija bezeichnet in
den liedem einen gewaltigen, die sinne erschütternden laut; es ist den
umständen weit angemessener , an die riesigen eiszapfen des felsigen rie-
sensaales, an die dröhnenden eis- und schneegletscher zu denken, was
auch darin eine stütze findet, dass dieser riese nicht eigentlich Hymir,
sondern Y7mr hiess; Ymir ist aber „der dröhner." • Hymir war ein
anderer riese, mit dem Thor bei einer andern gelegenheit es versucht
den mittelgartswurm (Midgardsormr) zu fangen. Die Verwechselung der
beiden namen lässt sich schon in der aufzeichnung der erzählung bei
Snorre bemerken, hat aber in diesem oflFenbar sehr späten und dem
SnoiTe unbekanten liede zur zusammenschmelzung der beiden mythen'
geführt. Bei der andern stelle , Sigurdkv. III , 8 , möchten die gletscher
zweifelhafter sein, scheinen mir jedoch auch hier den angemessenem
sinn hervorzubringen. Es heisst: opt gengr hon innan iUs um fylld isa
ok jöUa aptan hvern, wo isa und jöMa sowol genitiv als accusativ sein
'^
1) Es könte übrigens überhaupt das vtilcanische dieses mythus von den Islän-
dern herrühren.
38 B. JESSEN
köüte. Im erstem fall ist der sinn: „oft geht sie (Brynhild) mit bösem,
mit eismassen und eiszapfen, im innern angefüllt, jeden abend," wo das
bild sich ferner so variieren lässt, dass ihr inneres entweder einer wil-
den felsengegend voller eis und gletscher, oder auch einem mit eismas-
sen angefüllten mcere^ verglichen würde, so dass diese erstere construc-
tion nicht eben an die bedeutung „ eiszapfen " gebunden wäre. Ich ziehe
aber, mit Lüning und mehrern andern, hier die accusativische construc-
tion vor: „oft wandert sie, im innern mit bösen gedanken erfüllt, über
eisfelder und gletscher, jeden abend," ein bei weitem natürlicherer
gedanke, wie wir denn wol auch voraussetzen dürfen, dass die sage sie
nicht jeden abend hätte wandern lassen, ohne zu wissen, wo sie wan-
derte. Bei dieser letztern erklärung würden wol übrigens die gletscher
und eismassen alpeiigletscher sein, und könten somit schon der deut-
schen sage angehört haben, würden sich aber natürlich leichter in nor-
röner als in dänischer Überlieferung erhalten haben.
Sociale yerbältnlssc , * die uns hier fingerzeige geben könten , sind
in den mythischen liedern nicht wol zu erwarten.
Die heldenlieder haben hie und da etwas, das auf gar verdächtige
weise an das Christentum erinnert. Das Sigrdrifumdl rät von räche an
verwanten ab, weil nach dem tode verzeihen heilsam werde {pat Jcveäa
dauäum duga: 22), und spricht von begraben im sarge (34: dar i Jcislu
fari; und doch gleichzeitig im hügel); obendrein mit der wunschformel,
es möge der tote „selig schlafen" (oh biäja scelan sofa). So verspricht
auch im Atlamäl Gudrun dem sterbenden Atle einen „gemalten sarg*'
und ein „gewachstes tuch" für seine leiche (101: histu steinda, vexa
vel hl(BJu; und doch gleichzeitig die leiche in ein schiff zu legen!*).
Das Grögaldr-Fjölsvinnsmäl spricht geradezu von einem „christenweibe"
{kr istin dauil Jcona: Grog. 13).
Auf die eigentliche wikingzeit weist im 2. Gudrunenlied (16) der
„kämpf südlich in Fife" (suär d Firn) in Schottland, wo „südlich**
zugleich einen norrönen Standpunkt verrät. Nicht letzteres, wol aber
die beziehung auf die wikingzüge würde durch die correctur siiär d
Fjöni (südlich in Funon) wegfallen.* Auch durch die Helge - Hundings-
1) Vgl. land isa als Umschreibung des meores , und jöklagangr von dem trei-
ben der eisberge und eisschollen.
2) Vgl. Maurer in dieser Zeitschrift II, 443.
3) Das schiff und die kista muss sie „kaufen," kann aber das tuch wol selbst
wachsen.
4) Was Bugge (s. 424) von der auffassung sagt, wonach man „von Schonen
südlich nach Seeland, von Seeland südlich nach Füneu reiste," beruht auf einer aus-
schliesslich norrönen (für Dänemark durch die Sprechweise Saxos widerlegten) vor-
ObSB DIB SDDALIEDSB 99
töter -lieder, jedenfalls das erste, blickt der einfluss der grossen wiking-
zöge auf die dichtung hindurch, und zwar, wie mir (in abweichung
von Lüning) scheint, noch weit entschiedener als durch das Atlamäl
str. 96 — 97. Es versteht sich, dass solcher einfluss der wikingzüge
lange nach ihrer eigenen zeit fortdauern konte.
*
Das Hävamäl ist isländischen Verhältnissen unangemessen, indem
es dem „ königskinde " (fjöäans harn: 14) rat erteilt, der Verfasser sich
rühmt, mehr lieder zu wissen^ als „des königs gemahlin" (pjöäans
kona: 147), und malplacierte liebschaften als eine gewöhnliche veran-
lassung kent, „der rede des königs" in der volksversamlung (pjödans
mal: 115) nicht die gebührende auftnerksamkeit zuzuwenden, wie er sich
denn überhaupt in seinen Verhältnissen und seiner art als einen hofmann
beurkundet, und zwar als einen, obschon wol etwas ältlichen, doch kei-
neswegs überaus altertümlichen , falls wir nicht viel zu hohe begriflFe von
der einfachheit und sittenreinheit des fernen altertums haben. Das
gedieht ist entschieden noiTön, und entschieden für Norweger, nicht für
Isländer gedichtet, wol zu einer zeit, als Norwegen schon 6in reich
war. — Das fiigsmäl (um dies mitzunehmen) mit seinem vermeintlich
aus dem Jarltum emporstrebenden kleinkönigtum, dem das stärkere und
als ein fremdes bezeichnete dänische königtum, „Dans'' reich (45), als
nachahmenswertes muster vorgehalten wird, enthält eine zum teil theo-
retisierende betrachtung norwegischer Standesverhältnisse, welche betrach-
tung, trotz ihres i-ückblicks auf die zeit vor dem Harald Schönhaar,
auch ein Isländer hätte anstellen können. — Die socialen Verhältnisse
geben zum teil mehr aufschluss über das alter als direct über die hei-
mat der lieder. Umgekehrt steht es mit den physischen.
Die besprochenen realverhältnisse , physische und sociale, geben
indessen zusammen ein entschieden norrönes bild. Da die gedichte so kurz
sind , kann jedes far sich natürlich hiervon nur wenig liefern , manche
nichts. Die heldenlieder sind hieran reicher als die mythischen (doch
nicht die Hymiskvida und die Völuspä, die so wolversehen sind), am
reichsten aber unter allen liedem das Hävamäl, wie ja zu erwar-
ten stand.
steUungy dass Jütland die südlichste dänische provinz sei, welche Vorstellung dadurch
aufgekommen sein wird, dass die norwegischen schiffer auf ihrem wege nach' dem
dänischen (und jütischen) haupthandelsplatz Hedeby (Schleswig) natürlich von nor-
den her immer erst zwischen den dänischen Inseln vorhei , und dann von diesen süd-
lich nach Jütland kamen.
1) Genaue kentnis der mythologie bezeichnet er (160) als etwas ungewöhn-
liches !
40 E. JESSEN
Versuchen wir demnächst zu bestimmen, was, in bezug auf die
uns vorliegenden fragen, dem Charakter und andern llttcrarlsehen
Verhältnissen der lieder zu entnehmen wäre.
Bemerken wir im voraus, dass in der Völuspä die anwendung des
stcf^^ und in einigen liedern die versification jüngeres Stadium
bezeichnet. Das Atlamäl ist im tmlaJmUr ^ abgefasst , so auch , obschon
mit nicht so strenger durchführung , die Atlakvida, wie auch ferner im
Hamdismäl diese jüngere abart des epischen fornyrädlag stark auftritt,
übrigens in allen drei liedern so unangenehm stolpernd und tactlos , dass
unser ohr kaum verse vernimt. Ein gar unantikes potpourri ist die
regellose, an keine strophenform gebundene Vermischung verschiedener
versarten im Härbardsljöd. Endlich ist auch die straffere (der art des
Ynglingatal ^ sich etwas annähernde) behandlung des achtzeiligen fornyr-
dalag in der Hymiskvida gleichfalls zeichen nicht sehr alter zeit. Es
versteht sich, dass diese lieder sich nicht hiedurch sofort als die jüng-
sten beurkunden, indem ja die beiden alten reinen formen, das ächte
achtzollige fornyräalag ^ und der Ijöäahdttr fortbestanden , wie das auch
schon das Sölarljöd, das Grögaldr-Fjölsvinnsmäl und verse in mehreren
Fornaldarsögur bezeugen.
Auch der stil jener fünf Eddalieder deutet auf späte zeit, der im
Harbardslied duich eine , übrigens ungleichmässig verbreitete annähenmg
an die art der täglichen rede zur zeit des Verfassers, der in den vier
andern hingegen vorerst durch seine gesuchte, gekünstelte, nach dem
ungewöhnlichen strebende art. Es stellen sich hier, wie in der versifi-
cation, die beiden Atlenlieder und auch das Hamdeslied näher an einan-
der , so auch darin , dass das künsteln eine gewisse annäherung an prosa,
jedoch anderer und schwerfälligerer art als im Hdrbardsljöd , nicht aus-
schliesst; während das Hymeslied auch wider hier mehr für sich steht.
In andern liedern tritt kein so decidiert durchgeführter modemer stil
auf. Indessen stehen sie sich keinesweges ganz gleich. Namentlich
1) Siehe hierüber Möbius in dieser Zeitschrift bd. I s. 4 1 0 , 435.
2) Wo die vier hebungen regelmässig alle überall ansgefiillt sind, die vierte
gewöhnlich nur mit einem nebenton.
3) Die in meiner metrik (s. diese zeit^chr. 11, s. 142, 146) geäusserte Vermutung,
dass das abgestumpfte fornyräalag (me im Ynglingatal und Haleygjatal) unter die
benennung galdralag mit hingehöre, ist zu unsicher. Aus einer papierhandschrift
des Hatt-atal ersehen wir bestirnt nur , dass der vorletzten strophc daselbst (Ijodabättr
mit kehrversen) der name galdralag im 17. Jahrhundert beigelegt wurde. Ob dieser
name auch auf die letzte strophe (abgestum])ftes fornyräalag)^ der kein neuer bei-
gelegt ist, zu erstrecken sei, ob man also zwei arten galdralag anzunehmen habe,
ersieht man nicht.
4) Bisweilen Starjcaäarlag genannt; auch JcHäuhättr?
ÜBEB DIE EDDALIEDER 41
möchte ich das prätentiöse erste lied von Helge dem Hundihgstöter als
unantik bezeichnen, so auch verschiedenes in andern heldenliedem, und
nicht ganz weniges in der Völuspä, so zum teil die Strophen von Balder
und Loke und von dem letzten kämpfe.' Den reinsten stil haben die
mehrzahl der mythischen lieder und die Völundarkvida. Ich werde spä-
ter meine gründe geben, die Vegtamskvida für eins der allerjüngsten
lieder zu halten, obgleich der stil keinesweges modemer ist als der so
vieler anderer. Denn es versteht sich, bewahrung alten epischen stiles,
die ja begabtem dichtem auch später gelingen konte, beweist nicht
sofort höheres alter. Das alter der lieder ordnet sich nicht ohne weite-
res nach dem stil.
Dies gilt auch in bezug auf eine specialität des stils, die um*-
Schreibungen, y,kenningarJ'^ Es versteht sich übrigens, dass es
Umschreibungen gibt, die jedem Zeitalter angemessen sein möchten. Es
wird wol auch schon in den fernsten zeiten natürlich gewesen sein , z. b.
das schiff durch „seehengst," oder das meer durch „ wogenstrasse " zu
bezeichnen.^ In allen sprachen werden wol manche nomina propria
Zusammensetzungen sein , die innerhalb des isländischen begriffes kenning
fallen. Es gibt unzählige Umschreibungen, z. b. solche wie „Odins söhn,"
„Friggs mann,"* welche natürlich erst dann als kenningar auftreten,
wenn anhäufung derselben bewustes vermeiden directer benennung kimd
gibt. Die norrönen dichter trieben bekantlich die lust zum umschreiben
bis ins enorme, jedoch nicht in allen dichtarten, sondern nur in denje-
nigen, jyo sie auch den reim anwendeten {drottkvcßär hdttr und run-
hcfida^), auch in der Jüngern abgestumpften abart des fornyräalag (wie
im Ynglingatal) ; dagegen regelmässig nicBt im epischen stile, und
besonders nicht in den beiden uralten versarten (der epischen achtzei-
ligen und der dialogischen sechszeiligen ^). Anhäufen und künsteln ,der
kenningar hat sich also eben ausserhalb dieser beiden antiken dichtarten
entwickelt , so dass sich die Eddalieder keineswegs schon aus der Ursache,
dass sie viel weniger kenningar haben und das enorme zusammenpacken
1) Str. 37, 38, 39, 53, 54 bei Lüning; 37, 39, 40, 54, 55 bei Möbius.
2) Nicht alles, was wir Umschreibung nennen mögen, ist „kenning.**
3) Aber natürlich gibts weitere Variationen solcher bilder , die späteres Sta-
dium bezeichnen, z. b. flotbrüsi (fiiessbock), hlunngoti und hlunnvigg (schiffsrollen -
hengst), seglvigg (segelross), stagstjörnmarr (rudertau - lenkungs - pferd).
4) Aber Friggjar angan ist schon an und für sich künstelnde bezeichnung.
5) Denselben also, wobei man, sowol wegen der grossem Schwierigkeit, als
wegen ihrer eigenschaft als loblieder auf mächtige männer, Überlieferung des verfas-
sernamens für wichtig hielt.
6) Der mdldhdttr bringt in Eddaliedern nicht merkbar häufigere anwendung
der kenningar mit sich , namentlich nicht im Atlamäl. Die Atlenlieder sind ja auch
in eminentem grade episch. Anderwärts kömt decidierter mälahdtir wenig vor.
42 E. JESSEN
derselben vermeiden, in eine viel ältere zeit als die der speciel soge-
nanten „ Skaldenpoesie ^^ hinstellen könten. Es dienen uns hier wider
das Sfölarljöd, das Grögaldr-Fjölsvinnsmäl und andere anerkantermassen
sehr späte producte (so auch unter den Eddaliedern das Atlamäl, auch
das dritte Gudrunslied, über deren späte entstehung fast alle einig sind)
zum sichern masstab, und zum unwiderleglichen beweis, dass man auch
in dieser beziehung die dichtarten wol zu unterscheiden hat, dass es
ganz unkritisch wäre, dieselben in einen häufen zusammenzuwerfen und
wegen der kenningar z. b. die gedicht'e in der Egilssaga oder das Yng-
lingatal sofort für jünger als sämtliche Eddalieder zu erklären. Dage-
gen innerhalb ein und derselben dichtart, innerhalb der eddaliedersam-
lung selbst, kann auch der gebrauch dieser Umschreibungen etwas zu
bedeuten haben. Es haben die kenningar der Eddalieder nicht eben ein
sehr altertümliches, primitives gepräge, das über die „Skaldenpoesie**
hinaus zurückdeuten könte, sondern vielmehr zum grossen teil eben ein
solches, dass wir mit fug annelmien können, sie seien aus der manier
einer den Verfassern geläufigem dichtart in diese antikem dichtungsfor-
men eingedrungen , wo sie , meinem gefühle , im ganzen genommen recht
geschmacklos , unmotiviert und klotzig dastehen. Obschon ich einräume,
dass Umschreibung und indirecte bezeichnung gewissermassen aller poe-
sie zugehört, würde ich doch nicht der epischen poesie „des altern und
mittlem eisenalters" solche abgeschmacktheiten zutrauen, wie z. b.
„fliessbock" (flotbrüsi) für schiff, „zweigv erderber" (sviga l<e) für feuer,
„kampfbaum," „ kampfapfelbaum " (hüdimeiär, rögapaldr) ojjier gar
„apfelbaum des panzergedinges " (brynpings apaldr) für kämpfer, „fiiss-
sohlenzweig" (ükvistr) für zehe usw. Es ist hiebei von gewicht, dass
bei weitem nicht alle Eddalieder mit dergleichen wol versehen sind. Es
gibt eine anzahl derselben, die der eigentlichen kenningar fast gänzlich
entbehren, nämlich die meisten götterlieder, das Hävamäl und die Völun-
darkvida * (so auch das Kigsmäl). Unter den götterliedern haben nur
die Völuspä* und noch weit mehr die Hymiskvida^ stärkeren hang zu
1) Doch heräaklettr (Lok. 57), heimis haugar? (Härb. 44), alfrödull (Skirn. 4
Vaf[)r. 47); jötna vegir (Häv. 106). — Das pjödvitnis fiskr (Grinin. 21) und das
(pjöddr oder) porp meyja mögprasis (Vaf{)r. 49) stehen wol in interpolierten, und
von derselben band interpolierten Strophen.
2) sviga la, aldrnari, galgviär? (gagl-?), vald^r, nioldpinurr; veggbergs
visir?; Fenris kindir? (nämlich falls diese wölfe eben nicht voniFenre stammen). —
hvedrungs mögr, yggjungr dsa, Friggjar angan, mögt Hlödynjar , Fjörgynjar bu/rr,
Midgards veurr, bani Belja, Baldrs andskotiy brödir ByleistSy Ods mey, u. a.,
welche durcli die anhäufung den neutraleren Charakter verlieren.
3) hdfjcUl skaraTy hätün hortia, hjahnstofn , hlunngoti, flotbrüsi, lögfdkr,
brimsvin, vinfertU, ölkjöU, lögvelUr, kinnskögr, hoUrida hverr, mögr miskorbünda,
ÜBEB DIE EDDALIEDER 43
diesem putze; abgesehen davon, dass das Alvfssmäl wesentlich eben nur
ein Verzeichnis von kenningar und andern heiti (dichterischen benennun-
gen) ist Die heldenlieder über den Nibelungen - Sagenkreis sind mit
kenningar, und zwar grossenteils recht geschmacklosen und sehr unpri-
mitiven ^ ausgeputzt. Die zahl lässt sich verschieden berechnen , steigt
aber ^ in diesen heldenliedem mindestens weit über 100 hinauf, wovon
freilich fast ein viei*tel auf das jüngere (1.) lied von Helge dem Hun-
dingstöter komt. Nicht eben am ärmlichsten versehen sind solche lieder
(oder bruchstücke), welche doch sonst im vergleich mit andern dieses
kreises ein weniger unprimitives gepräge tragen, so das zweite Helge -
Hundingstöter - lied , das zweite Sigurdslied, auch Fäfnismäl,^ in deren
gj^gjar gnetir, brjötr bergdana, hafra dröttinn, purs rädbani, ornis einbani, Sifjar
verr, Yggs barn, Hrungnis spjalli, dttrunnr apa, ulfs hnitbrödir, wngjörd allra
landa; nach Bugge ferner hreingaUcn (für wolf) und eürarmnheiäir (39) ,, giftwarm-
verderber" (für Winter).
1) So eggleiks hvötuär, naddels bodi, dafa Darradry dolgrögnir, brynpings
apaldr, hüditneidr, hrottavieidr, dolgoidr, hvassa vdpna hhjnfy skjaldar börr, hialni-
stafr, auästafr^ hringdrifij geirmimiry geirnjördr, geirniflungr, hjalmgtinnar (kein
eigenname); feikna faedir; vdr gullSy hörgeffij menskögul , mörk menja, Unnvengis
bü; stagstjornmatY, hlunnüigg, seglvigg, seglmarr; rakka hjörtr; vefnisting; hlid-
farmr Grana, eldr oriubeds , ognar Ijouii , lindar logi; lindar vddi, herr als vidar ;
betüogij benvöndr; ükvistr; mödakarn; skökr bituh ; hölkvir hvilbedjar?; grati
alfa; Crunnar systra gögl; langr lyngfiskr lands Haddingja; Kolgu systir; Mistar
marr; neit Menju göd?; gränstod Gridar; hälu sker^ ; Hugins barr, hrafns hroß-
lundir? usw. (Vgl. auch Jheiti wie z. b. gylfi, csgir). Das meiste hievon ist noch
um ein bedeutendes unprimitiver als die angelsächsischen kenningar (J. Grimm meint
mit recht , diese seien im ganzen frischer und kräftiger als die nordischen). Andrer-
seits finden sich in den eddischen Nibelungenliedern auch minder gesuchte , der unmit-
telbaren anschauung näher verwante Umschreibungen^ z. b. hringbroti, vägmarr,
valstefnaf hjörping. Oft aber wird eine scheinbar bescheidnere kenning docli im
contexte anstössig und abgeschmackt, so z. b. das insipide skidijäm (scheideeisen,
d. L Schwert: Hamd. 16), vandstyggr (Atlkv. 18, falls es mit Bugge als bezeich-
nong für pferd zu nehmen ist), sverda deüir (ib. 36; ganz unmotiviert). Gelegent-
lich häufen sich mehrere synonyme hervorstechend zusammen, so in 11 Sig. 16 — 17
fünf für schiff; so auch in Fäfn. 36 hüdimeidr und hers jadarr. Natürlich gibts hier
auch Umschreibungen , die , ohne auf unmittelbarer anschauung zu ruhen , doch ganz
einfach sind, wie z. b. OSgis dottvr, bani FafniSy usw.
2) Ebenso die nicht zu diesem kreise gehörende Helgkv. Hjörv. mit rogapaldr
und vignesta böl, ausser dem etwas gemässigtem folks oddviti, — II Uelg. Hund.:
Crunnar systra gögl, gränstod Gridar, nebst den erträglichem, wie folks oddviU,
folks jadarr, sdrdropi, valdögg u. a. — II Sig.: lindar logi, und in swei strophen
zusammen folgende fünf, die an und für sich nicht alle zu den ärgern gehören:
^Rißvils hestr, seglvigg , vdgmarr, saetre, hlunnvigg; in einem vielleicht Jüngern stück
(19 — 25) stehen hrottameidr, hjalmstafr, nebst den weniger prätentiösen systir Mäna,
hjörleikr, — Fafnism. hat in wahrscheinlich altem stücken eisköld, kUdikihr, spil-
44 E. JESSEN
zum teil sehr gekünstelten Jcennhigar ich indicien sehe, dass sogar die
weniger unantiken unter diesen heldenliedern einem späten Stadium ange-
hören. Man vergleiche sowol wegen der Umschreibungen als wegen des
stils überhaupt die im reinsten epischen stile gehaltene J)rymskvida,
und man wird den unterschied fühlen. Wie schon oben angedeutet, ist
das in andern beziehungen so überaus unantike Atlamäl verhältnismässig
sehr frei von diesen Umschreibungen.^
Betrachten wir, in bezug auf die vorliegende frage, die beiden-
lieder specieller.
Unter denselben ist das erste, dieVölundarkvida, das antikste,
einfach episch, wie es heroische dichtung auf primitivem Stadium sein
müste. Natürlich braucht antikere form nicht sofort weit höheres alter
zu beweisen. Es scheint mir wol, als ob man ein excerpieren aus einem
altern liede hindurchhört. Die erste strophe ist von einem kräftigen
poetischen hauche belebt, was man nicht eben dem ganzen gedichte
nachsagen kann. Der ton ermattet sogleich. Poesie hohen ranges ist
es überhaupt nicht, und möchte dennoch unter den eddischen heldenlie-
dern in ästhetischer beziehung beinahe den vorrang behaupten (doch
jedenfalls nicht vor dem letzten abschnitt dos zweiten Helge - Hundings-
töter-liedes, demjenigen, der von der Zusammenkunft der Sigrun mit
dem toten handelt). Zur frage über norrön oder nicht norrön enthält
das Wölundslied in form, stil, Charakter imd in beziehungen zu andern
sagen oder liedern, kaum irgend etwas entscheidendes. Ich kann also
rücksichtiicli dieser frage nur auf den oben erwähnten nicht- dänischen
gebrauch von kiefernbrennholz verweisen.
Das nächste lied, die Helgakvida Hjörvardssonar, ist ganz
unbedenklich für ein norrönes zu erklären. Der held ist im liede ein
Norweger y und die sage (meines wissens) überdies auch nicht einmal
ausserhalb der norrönen litteratur widergefunden. Obschon form und
darstellung von primitiverer art ist als in den meisten der folgenden
heldenlieder , liegt doch in diesem liede eine sehr späte sagenformation
vor, indem die besungenen taten meist in südlicheren, sogar deutschen
ländern vor sich gehen, eine erweiterung des Schauplatzes, die ein-
lir baugay fjörsegi; in einem willkürlichen einschiebsei (12 — 15) hjMögr; in einem
vielleicht Jüngern stück (34-^39) hUdimeidi\ hers jadarr; und in einem unbedenklich
jungem (40 — 44) ögnar Ijomi, litidar vädi, fiörgefn.
1) Doch hörr skjaldar und ilkvistr. Hiebei ist zu erinnern, dass es das längste
dieser lieder ist. Auch über spätes alter der IIl Gudrkv. ist man einverstanden;
sie enthält nur die bescheidnere Umschreibung herja stilUrf ist aber so sehr kurz
(10 Strophen).
ÜBEE OlS BDDALIBDER 45
fluss sowol der Wikingzeiteu als der eingeführten nicht norrönen sagen
bezeugt. — Dass die eine der beiden eddischen Helge - sagen der andern
mehreres entlehnt hat, liegt am tage (vgl. Eylimi, Sigarr, Sigarsvellir,*
Frekasteinn, Varins-vik oder -fjördr, und die behauptung, „Sigrun sei
die widergeborene Schwaba." ^) Da diese gemeinsamen züge der einhei-
mischen dänischen , von Saxo bewahrten sage von Helge dem töter Hun-
dings und Hödbrodds fremd sind, gehören sie vielleicht ursprunglich der
norwegischen von Helge Hjörwards söhn an, könten jedoch zum teil auch
mit der deutschen Wölsungensage hereingekommen sein , in welchem fall
wol gegenseitige einwirkung der beiden Helgesagen anzunehmen wäre.
Die lieder über den Nibelungen-sagenkreis, d. h. die
übrigen 17 heldenlieder der „Sämundar-Edda," sind samt und sonders
gleichfalls für norröne lieder zu erklären.
Wie früher erwähnt , veranlasst uns die sagengeschichte Saxos anzu-
nehmen, dass die Verschmelzung mit der Helge -Hundingstöter- sage und
die nähere anknüpfung der Jörmunreks-sage (d. h. dritte heirat Gudruns,
und Schwanhild als tochter Sigurds und Gudruns) norröne erfindungen
seien. Die eddische formation der Helgensage würde Saxo genötigt
haben , entweder die Wölsunge in die dänische heldensage hineinzultigen,
oder den Helge aus derselben zu entfernen. Die in Norwegen importierte
dänische sage von diesem könige und die deutsche von den Wölsungen
müssen, wir können nicht sagen auf welchem wege, bei dem norrönen
stamme verschmolzen sein. Die umgekehrte verwandelung , wodurch ein
ursprünglich der Wölsungensage zugehörender held aus dieser sonst bei
Saxo gänzlich fehlenden sage ausgeschieden und in die dänische königs-
reihe incorporiert wäre, hat alle Wahrscheinlichkeit wider sich.* Hätte
Saxo die wittwe Sigfrids und Etzels als mutter der Schwanhild und
der „hellespontischen gebrüder" gekaut, würde er keine Ursache
gehabt haben solches zu verschweigen, da es seiner dänischen sagen-
geschichte in keiner beziehung zuwiderlief. Er steht auch in der Jarme- •
riks-sage auf älterm boden als die Edda, indem er mit den deutschen
quellen in nichtanknüpfung dieser sage an die Nibelungensage überein-
stimi Es existiert nichts, was uns zu einer so gewagten hypothese
bringen sollte, wie diejenige es wäre, die dänische sage sei bei Saxo
zwei mal zu dem ursprünglichem Stadium zurückgekehrt Wir können,
obschon hier nicht von mathematisch zwingenden beweisen , sondern nur
1) Siehe prosaschluss Aet Helgkv. HjÖrv. und drittes prosastückchen in Helg.
Hund. n.
2) Saxo identificiert ihn mit Helge, dem vater Rolf Krakes; ob diese identifi-
cation onursprünglich ist, bleibt eine frage for sich.
46 B. JESSEN
von natürlicher, ungezwungener Ordnung der data die rede sein kann,
mit gröster Zuversicht behaupten , beide Verschmelzungen seien norröne
formationen. Somit wären denn fürs erste die beiden ersten und die
beiden letzten^ dieser 17 lieder schon wegen der sagenformation für
norröne zu halten. Und der samler (so wie ferner auch der Verfasser
der Völsungasaga) hat keine diesen Verschmelzungen widerstreitende dar-
stellungen gekant, da er solches zweifelsohne notiert hätte, indem er
ja so ausdrücklich den widei-spruch der lieder über Sigurds tod hervor-
hebt. Dass nun diese Verschmelzungen am anfang und ^m ende der
sage auch in dem dazwischenliegenden teile , d. h. in der darstellung der
hauptsage selbst, hervortreten sollten, wäre auch dann nicht notwendig
zu erwarten, wenn diese dazwischenliegenden lieder jünger als die Ver-
schmelzungen wären, und wäre unmöglich in correct überlieferten lie-
dern, die älter als die Verschmelzungen wären. Die geschichte mit den
Hundingssöhnen reicht aber in der Edda in die geschichte Sigurds selbst
hinein und kömt erst in den beiden ersten Sigurdsliedern zum abschluss.*
Die geschichte von Gudnins dritter heirat, mit deren folgen (in Verbin-
dung mit erwähnung Schwanhildens als einer tochter Sigurds), ist im
drittel^ Sigurdslied (str. 53 und 59 — 61) excerpiert, und ferner im Atla-
mäl (str. 102) angedeutet, indem daselbst, in Übereinstimmung mit dem
Hamdeslied und dem dritten Sigurdslied, das mislingen des Selbstmord-
versuches der Gudrun, und die Verlängerung ihres lebens bis auf „ein
ander mal** (wie es prägnant heisst) berichtet wird.^ Also wären,
meiner ansieht nach, schon wegen dieser beiden sagen Verschmelzungen
nicht weniger als 8 von den 17 liedern als entschieden norröne zu
bezeichnen.
Ferner ist der inhalt des sonderbaren liedes Oddrünargrätr , der
überdies auch wider im dritten Sigurdsliede (str. 56) teilweise excerpiert
wird, ausserhalb der norrönen litteratur unbekant, und unterliegt dem
^ verdachte norröner erfindung, oder auch so später einführung aus Deutsch-
land her, dass er durchaus nicht „gesamtnordisch** sein könte. Über
1) Helgkv. Hund. I und II, Gndrünarhvöt , Hamdismäl.
2) Gripisspä 9. Sigkv. 11, 15 f. Ist auch in dem verlorenen liede erwähnt
worden, wonach Völsungasaga cp. 25 erzählt wird (Fornaldarsögur I s. 180: hann
drap sonu Hundings konungs ok hefndi födur sins ok Eylima modurfödur sins).
3) Ob man recht hat SÖrle und Hamde zu den „acht fürsten" des zweiten
Sigurdliedes str. 5 zu rechnen (was noch einen beleg für die Verschmelzung mit der
Jörmunrekssage gäbe), ist mir nicht klar. — Dass in einem verlorenen liede sogar
die ankntipfung der Ragnarssage sei belegt gewesen, lässt sich nicht mit Sicherheit
aus Völsungasaga cp. 27 folgern (Fornaldarsögur I s. 187 : dötttir okkar Sigiirdar,
Aslaugu, skal her uppfcpda med pSr),
ÜBER DIE BDDALIEDEB 47
sehr spätes alter dieses liedes ist man denn auch schon ziemlich einig.
Ich bezweifle, dass es dänische altertumsforscher als ein „gemeinsam-
nordisches^' oder als ein dänisches in schütz nehmen möchten.
Diejenigen gelehrten, welche die Nibelungensage im norden als eine
nicht enÜehnte, und die lieder als nicht norröne , sondern „gesamtnor-
dische'' wollen angesehen wissen, sind darüber einverstanden, dass die
anknüpfung der Dietrichsage eine später aus Deutschland hergenommene
zutat sei, und werden schwerlich diese anknüpfung, oder überhaupt die
Dietrichsage, schon „im altem und mittlem eisenalter" (d. h. vor der
eigentlichen Wikingzeit) im norden eingebürgert sein lassen^ werden also
dem dritten Gudmnslied kein hohes alter zugestehen. Die meisten reden
von dem späten alter dieses liedes in einem tone, als ob sie es recht
gem den Isländem schenken möchten. Aber auch das zweite Gudruns-
Ued ruht auf der anknüpfung der Dietrichsage, indem die prosaeinlei-
tung sagt, es enthalte die klage Gudruns im gespräch mit Dietrich,
worin sich der samler nicht irrt, indem ja die Übersicht, welche Gudrun
lyer, ältere lieder excerpierend , über ihr leben gibt, eben bis auf den
Zeitpunkt reicht, wo sie sich mit Dietrich soll unterhalten haben, wie es
denn auch nicht leicht wäre zu erraten, an welche andere person als
den Dietrich diese klage gerichtet wäre. Mir, der ich die Nibelungen-
sage im norden nicht für so sehr alt eingebürgert halte, ist übrigens
nichts im wege, die Dietrichsage und die Nibelungensage mit einander
verbunden (und wäre es auch sogar mit solchen details versehen, wie
denen des Oddrünargrätr) nach dem norden gelangt sein zu lassen , indem
ich das dem dritten Gudmnsliede (und von manchen auch dem Oddrü-
nargrätr) beigelegte späte alter auf die samlung überhaupt ausdehne.^
Oben, in den bemerkungen über „landesnatur/' glaube ich dar-
getan zu haben, dass das Hävamäl ein norrönes lied ist. Dies zieht
1) Auch Sigords tötung im freien (zweites Gadrunslied und brot af Brynkü-
darkvidu, oder wie Bugge es nent, brot af Sigurdarkvidu) sehen sich die nordischen
gelehrten in der ärgerlichen läge für spätere deutsche zutat erklären zu müssen, während
es meinem Standpunkt gleichgiltig bleibt, ob es schon zwei deutsche Versionen dieser
begebenheit gegeben habe^ und ob die tötung im bette (drittes Sigurdslied) deutsche
Version, oder Variation deutscher version wäre (vgl. Hans Sachsens darstellnng) , oder
aber, ob dies spätere norröne erfindung wäre; wie ich überhaupt jener künstelnden,
verwickelten erklärungen überhoben bin, wonach eine menge einzelheiten (so femer
der Schauplatz am Rhein, die deutsdien Völkerschaften, das entfliehen nach Däne-
mark als fremdem lande, usw.) spätere einmischung deutscher umdichtungen wären,
indem solches aUes mir nur einfach Zeugnis für deutschen und gegen nordischen
Ursprung der sage überhaupt ist (ohne dass ich z. b. bei dem entfliehen nach Däne-
mark, die möglichkeit nordischer hinzudichtung zum deutschen bestand der sage zu
läugnen brauche).
48 £. J£SS£N
nun ferner das Sigrdrffumäl mit sich , welches offenbar eine nachahmung
ist der beiden letzten abschnitte des Hdvamäl, nämlich des Loddfdfnis-
tndl und des rünatalspdUr (zusammen str. 111 — 165), in umgekehrter
Ordnung, indem im Sigrdrffumäl der rünatalspättr (mnencapitel) zuerst,
die lebensmaximen zuletzt stehen. Dass eins der beiden lieder dem
andern zum vorbild gedient hat, liegt am tage; und das Sigrdrifumäl
für das ältere zu erklären, wird um so weniger jemand einfallen; als es,
wie oben erwähnt , so sehr deutlich von einem Christen herrührt. Es ist
das Sigrdrifumäl^ eben nichts als ein späteres experiment, ein versuch
die frage zu beantworten, wie die in altern epischen liedern erwähnten
(aber schwerlich solcher weise ausgeführten) weisen und heilsamen leh-
ren der Sigrdrffa möchten gelautet haben, wobei denn der Verfasser,
wenn er ein Isländer war, sehr wahrscheinlich kein anderes hinlänglich
umfassendes vorbild haben konte als eben das Hävamäl, obschon er in
seinem rünatalspättr (nämlich in den wenig zutreffenden Strophen 14 —
17) vielleicht daneben andere ihm irgendwoher bekante rwwa^s- Stro-
phen, und zwar ziemlich ungeschickt, möchte benutzt haben, währeiyi
wider der schluss (str. 19) specieller an den schluss des Hävamäl geraahnt. —
Im zweiten Sigurdslied und im Fäfnismäl sind mehrere sprichwörtliche
Strophen zerstreut , die ganz an die art des Hävamäl erinnern , was ja
aber nicht hinlänglich ist, um nachahmung desselben und entlehnung
aus demselben bestimt zu behaupten, da sie eben, wie oft das Hävamäl,
allgemein gebräuchliche Sprichwörter enthalten mögen ; ^ so Fäfnisra.
str. 17, deren letzte hälfte mit der str. 63 des Hävam. zusammentrifil
{pä kann pat finnr, er med frceknum kemr, at engi er einna hvatastr).
Weniger sprichwörtlich scheint H Sigurdkv. str. 25 , die an Hävam. str. 60
(pveginn ok mettr usw.) erinnert, und mir wol eine nachbildung dersel-
ben zu sein scheint, wie ja denn auch daselbst (in II. Sigurdkv.) ganze
1) Str. 6 — 37, wozu dann str. 2, 3, 4 passende einleitung wäre, wogegen
str. 1 und 5 die letzten fragmente eines andern liedes sein werden , vielleicht dessel-
ben wol schon damals, ein par bruchstücke abgerechnet, nur seinem Inhalt nach
noch bekanten liedes , woraus der Verfasser von Helreid Brynhildar (str. 6 f.) schöpfte,
und welches direct oder durch vermittelung des Helreid dem dritten prosastück beim
Sigrdfm. zu gründe liegt. — Es wundert mich indessen , dass Bugge (ausg. s. 416
und 423) dem einfaUe beitritt, str. 6, 8, 9, 10 des Helr. aus diesem liede heraus-
zunehmen, nnd in das Sgrdrfm. hinüber zu versetzen, als ob diese Strophen mit dem
yigrdrfm. ein gedieht ausmachen würden. Man hat sich vielmehr im Sigrdrfm.,
nebst der prosa, auch str. 1 und 5 hinwegzudenken; dann eben bleibt ein vollstän-
diges gedieht übrig(obschon es die handschrift nicht als besonderes gedieht bezeich-
net, wol weil es die handlung nicht weiter führt).
2) Ebenso wäre es nicht notwendig, dass der Verfasser der Sverrissaga die
Worte fdr er hvatr usw. eben aus Fäfuism. str. 6 entlehnt hätte (vgl. Bugge s. 220).
ÜBER DIE BDDALIEDEB 49
füiif Strophen unmittelbar davor stehen, die wie ein versuch in der
manier des Hävamäl aussehen.
Bei dem letzten teil des Fäfnismäl ist zu bemerken , dass der sara-
1er der lieder daselbst nicht weniger als sieben vögel (igäur) reden lässt,
die nach diesem liede erzählende Völsungasaga^ sechs, wogegen die kurze
erzählung in der Snorra-Edda* nur von zwei vögeln weiss, die dann
eben die beiden ersten von den im Fäfnismäl stehenden Strophen hersa-
gen , wie auch das bild (aus christlicher zeit) auf dem schwedischen Kam-
sundsberg nur zwei hat,^ dagegen das am portal der Hyllestad-kirche im
Säterdal in Norwegen drei.* Dass es nur ein Irrtum des samlers wäre,
jede der sieben Strophen einem andern vogel in den mund zu legen,
scheint mir wenig plausibel. Er müste denn, ohne zu wissen was er
tat, bnichstücke von zwei oder drei liedern zusammengeworfen haben.
Es wäre doch wol einfacher, hier eine spätere und isländische formation
dieses abschnittes der sage zu sehen, sich die sache etwa so zu denken,
dass man aus älterer nur bruchstückweise bewahrter dichtung die beiden
ersten Strophen (32 und 33^) noch hatte, und in neuer behandlung des
stoflFes noch fünf vögelstimmen hinzudichtete (str. 34 — 38); ferner wären
dann auch die fünf letzten Strophen, die gleichfalls von vögeln gespro-
chen werden, neudichtung, und wol ursprünglich dann gleichfalls sieben,
wovon zwei verloren wären, so dass die vögel zwei mal sieben Strophen
gesungen hätten, die ersten sieben aufmunterung zur tötung ßegins, die
letzten sieben prophetierende Übersicht über Sigurds spätere Schicksale.
Snorre würde dann diese neudichtung entweder verworfen oder nicht
gekaut haben, falls man übrigens in so gedrängter erzählung wie der
seinigen auf blosse nichterwähnung von einzelheiten gewicht legen will.
Dass die erste Sigurdarkvida -(Gripisspä) . eines der jungem lieder
in der samlung ist, darüber ist man ziemlich einig. Ich habe schon zu
verschiedenen malen positive gründe angeführt, es speciel für ein norrö-
nes zu erklären. Ich kann ferner Bugges meinung^ beitreten, dass es
speciel jünger ist als die so eben besprochenen Fafnismäl und Sigrdrffii-
mäl, indem die Strophen 11 — 18 auf diesen beiden liedern, so wie wir
sie jetzt haben, ruhen müssen, woraus ich also consequent zu folgern
1) Cap. 19 (Fomaldarsögar I s. 164), wo der Inhalt einer strophe (37) fehlt.
2) In der Skalda. Eopenhagener ansg. I s. 358. (Egilssons ansg. s. 74).
3) Auf dem des Gökssten ist nur einer deutlich; aber es ist beschädigt nnd
defect.
4) Vgl. in Bugges Eddaansg. s. 415.
5) Welche denn, als bruchstücke, nicht entscheiden würden, ob das ältere
lied zwei oder drei gehabt hätte.
6) S. LXX und 415 in seiner ausgäbe.
ZBITSCHB. F. DBUTSCHB PHILOLOGIE. BD. UI. 4
50 E* JESSEN
habe, dass die Gripisspä auf Island und von einem Christen verfasst ist.
Es sind die Strophen 11 — 18 ein an misverständnissen leidendes excerpt
aus den genanten beiden liedern, welche der Verfasser so verstanden
hat, als ob Sigurd einen besuch bei Gjuke fniher als bei Sigrdrifa und
Heime abzustatten hätte, und als ob Sigrdrifa und Brynhild zwei per-
sonen wären; wozu ihn eben jene beiden lieder verleiten konten, indem
sie nicht ausdrücklich sagen, wer die Sigrdrifa sei, und in den schluss-
strophen des Fäfnismäl die heirat mit Gjukes tochter früher als die reise
nach der felsenburg Sigrdrifas erwähnt wird, welchem Verhältnis der
Verfasser der Gripisspä eine chronologische bedeutung beigelegt hat.
Kücksichtlich der in der handschrift den beiden Atleliedern bei-
gelegten benennung „grönländisch" trete ich ferner Gröndals und Bug-
ges^ ansieht bei^ dass dabei unmöglich an etwas andres als das ameri-
kanische Grönland zu denken ist, welches ja am schluss des 10. Jahr-
hunderts von Isländern colouisiert wurde, und zu anfang des 11. das
Christentum annahm. Bugge meint mit recht, dies epitheton in groen-
lendsJcu möge sehr wol bezeichnen können: „in Grönland verfasst/' und
beruft sich dabei auf die bekanten (oben auch von mir erwähnten) indi-
cien, dass das Atlamäl von einem Christen herrührt, nebenbei auch auf
den „weissbären" der strophe 18 dieses liedes, welches er sich also als
frühestens im 11. Jahrhundert verfasst vorstellen wird, wie ja denn auch
schon andre nordische gelehrte es als ein sehr spätes anerkant haben.*
Aber entschieden muss ich Bugge widersprechen, wenn er diese benen-
nung, wider das zeugnis der handschrift, auf das Atlamäl beschränken
möchte, weil es seiner meinung nach befremdend wäre, zwei grönländi-
sche lieder über dasselbe sujet zu haben. Im gegenteil, ich würde es
befremdend finden, wenn nur das eine der beiden lieder ein grönländi-
sches wäre. Sie stehen einander im character, stil, spräche, versifica-
tion so nahe, und stellen sich in diesen beziehungen in so schneidenden
gegensatz zu den liedern über die vorausgehenden teile der sage, dass
man sich versucht ftihlen möchte, sie fflr zwei zu verschiedenen Zeiten
gelieferte producte desselben mannes, oder für zwei concurrenzstücke
über aufgegebenes sujet in aufgegebenem stil und metrum zu halten.
Ich gehe noch weiter, und gestehe, dass es mich ein wenig befremdet,
nicht auch das Hamdismäl als ein „grönländisches" bezeichnet zu finden,
obschon es nur in geringerem grade die characteristischen eigenschaf-
1) Siehe dessen ausgäbe s. 433, vgl 428 (292, 282).
2) Man kann dies so aosgedrüokt finden, als ob dies das einzige gedieht in
der samlnng wäre, das nicht älter als die eigentliche wikingzeit wäre; es wird aber
noch jünger sein.
ÜBER DIE EDDALIEDER 51
ten, den ton und die förbung der Atlelieder zur schau ti'ägt. Es wii'd
kein zufall sein, dass wir eben nur die beiden letzten abschnitte des
Sagenkreises, nämlich die Atlensage und die Jörmunreksage in so nahe
verwanter modernerer form behandelt finden, während wir eben nur in
Sigurds-, Brynhilds- und Gudruns -liedern einer moderneren form ganz
andrer art begegnen (wovon weiter unten). Das Hamdismäl scheint
Bugge für viel älter als das Atlamäl zu halten ; denn von der strophe 24
des Hamdismäl {styrr varä i rannt usw.) behauptet er,^ sie sei von
„ Brage Skald dem alten " in dessen Eagnarsdräpa ^ benutzt (rösta varä
i ranni), wobei Bugge aber ausser acht lässt, dass auch umgekehrt das
Hamdismäl die Ragnarsdräpa möchte benutzt haben, oder beide eine
gemeinschaftliche quelle. Aber auch wenn unser Hamdismäl quelle der
drdpa wäre, gäbe das, meiner früher ausgesprochenen ansieht gemäss,
gar keinen chronologischen anhält, indem die authentie der Bragelieder
(ja obendrein die existenz des Brage) zu läugnen ist. Eine Ragnars-
dräpa über diese sage ist ein indicium, dass die Verknüpfung der Rag-
nars - und der Nibelungensagt schon bewerkstelligt war. Aber die Rag-
narssage, um so mehr diese Verknüpfung, konte erst lange zeit nach
dem tode Ragnars entstehen.
Von grosser bedeutung ist uns femer ein epitheton, welches die
handschrift nur drei liedern beilegt, nämlich „das alte" (in forna, in
fornu). Erstens nämlich benent sie einen abschnitt der bruchstücksam-
lung, die zusammen das zweite Helge -Hundingstöter-lied ausmacht:
^yVÖlsungahviäa in forna*' welche benennung vor str. 12 steht, und,
wie Bugge ^ richtig bemerkt, nur die folgenden strophen bezeichnen
kann, wie viele, ob vielleicht alles bis zum schluss des „ zweiten Helge-
Hundingstöter-liedes," ersieht man nicht. Und in der tat gehört dies
alles zu dem altertümlicheren in der samlung , und ist jedenfalls älter als
die behandlung im ersten Helge -Hundingstöter-liede, welches eben ein
versuch ist, eine partie dieser sagenabteilung in verbesserter und nicht
bruchstückartiger weise widerzuerzählen. Zweitens erwähnt die hand-
schrift im prosastück nach dem hrot af Brynhildarhviäu „das alte
Gudrunlied" (Cruärünarkv^iäa in forna) in solcher weise, dass man
ersieht, damit ist das zweite Gudrunlied gemeint.'* Auf den ersten blick
1) In seiner ausgäbe s. 441. — Es ist bei ihm str. 23.
2) Snorra-Edda I s. 372. — Im andern bmchstück dieser drdpa alliteriert
ursprüngliches vr mit r: reiär mit reifnis und raäalfs (s. 438). Vgl. ein früher
citiertes bruchstückchen von „Brage," wo vr mit v alliterierte.
3) Ausgabe s. 193. — Es ist daselbst str. 14.
4) Weshalb Bugges ausgäbe diese benennung in die Überschrift dieses liedes
aufnimt.
4*
52 £. JESSEN
möchte hier die benennung „das alte" überraschen. Den nordischen
gelehrten muss dieses lied für ein im vergleich spätes gelten, weil es
Sigurd im walde und südlich des Eheins^ töten lässt, und weil es, dem
Zeugnis der prosa zufolge, die worte Gudruns an Dietrich enthält. Auch
mir ist es, wegen der weiter zu besprechenden form, ein sehr spätes,
und zwar isländisches product. Vergleicht man es aber mit den andern
Gudrunliedern, meine ich, dass man einräumen muss, dieselben möch-
ten leicht ganz richtig noch jünger sein. Wegen des dritten Gudrun-
liedes , desjenigen mit dem Dietrich und der Herkja in den versen selbst,
werden nun die nordischen gelehrten hierüber auch natürlich keine
Schwierigkeiten machen. Das erste Gudrunlied liegt ihnen näher am
herzen, wird aber wahrhaftig eben so wenig ein „altes" sein. Besehen
wir es. Es fangt mit denjenigen zeilen an, die gleichfalls im zweiten
Gudrunlied stehen (str. 11), welche behaupten, dass Gudrun, bei Sigurds
leiche sitzend, weder weinen noch die bände zusammenschlagen konte.
Das muss derjenigen Version zugehören, wonach Sigurd draussen im
walde getötet wird, und Gudrun im walde 1)ei der leiche sitzt (der Ver-
sion des zweiten Gudrunliedes und des brot af Brynhüdarhviäu), Denn
nach derjenigen des dritten Sigurdliedes , wo er im bette erschlagen wird,
ist das erste, was sie, bei der leiche sitzend, tut (str. 29 — 30), die
bände so derb zusammenzuschlagen, dass „die becher im schranke*
erschallen, die gänse im hofe aufschreien," und so überlaut zu weinen,
dass es bis ins gemach der Brynhild ertönt, die darüber „aus ganzer
seele lacht." Das erste Gudrunlied nun ruht auf beiden Versionen zu-
gleich; denn das nicht -weinen -können geht im hause vor sich; daselbst,
während sie bei der leiche sitzt, finden sich die „jarle" ein, um sie
weinen zu machen, geben aber die sache auf, wonach die drei furstin-
neu, Gjaflaug, Herborg und Gullrönd, von denen sonst auch nicht das
mindeste bekant ist, und die eigens für dies lied werden erfanden sein,
eintreten , und so abgeschmackte trostgründe ^ vortragen , dass man sich
über das fortdauernde nicht -weinen wenig wundert. Zuletzt gelingt es
doch der Gullrönd, durch eine sonst unbekante, wol speciel für dieses
lied erdachte scene, die Gudrun zum erwünschten weinen zu bringen;
1) Vgl. fyr handan ver str. 7, und d stidrvega str. 8.
2) Oder was sonst i vä (str. 29) bedeuten mag. Bugges Vorschlag, es sowol
hier als Hävam. 25 (26) für i vrä verschrieben sein zu lassen , finde ich extravagant.
Eher möchte mau mit Vigfusson das r wirklich in der ausspräche elidiert sein las-
sen. Beide mal verschrieben wird es jedenfalls nicht sein. Ich meine, es ist eben
nur ein seltenes, noch nicht erklärtes wort, das mit vrd nichts zu tun hat.
3) Die Gjaflaug hat „fünf männer*' verloren, und sich immer zu trösten
gewust.
ÜBER DIE EDDALIEDER 53
und da „regnete es über die knie (wol auch durch das dunkle tresk?)
und die gänse, die herlichen vögel, schrieen dabei auf" (str. 15 — 16),
was also das weinen des dritten Sigurdliedes ist. Gudrun spricht nun
ihren jammer in einer rede (str. 18 — 22) aus, deren anfang sie offenbar
wider direct ihrer späteren rede an Dietrich (nämlich der strophe 2 des
zweiten Gudrunliedes) entlehnt. Über diese erleichterung des Schmerzes
wird nun Brynhild zornig, welche mit der GuUrönd repliken wechselt
(str. 23 — 24), die so vornehmen damen wenig anstehen; wonächst sich
Brynhild etwas besonnener an das dritte Sigurdlied str. 37 — 39 wen-
det, woselbst sie ihre pecuniären interessen in der heiratsfrage offen
bekent, hier aber, im excerpte (I. Gudr. 25 — 26), nur andeutet. Plötz-
lich aber steigert sich ihr zorn so, dass sie (str. 27) die scene damit
abschliesst, „feuer aus den äugen zu sprühen und gift zu schnauben,"
was ihr doch keins der andern lieder nachzusagen weiss. Es dürfte mir
kaum als extra vaganz verübelt werden, wenn ich dies sonderbare lied
für einen willkürlichen isländischen versuch halte, etwas neues aus dem
in einigen liedern gepriesenen nicht -weinen und nicht -händeschlagen
zu machen, und dasselbe mit dem gewaltigen weinen und händeschlagen
anderer lieder zu combinieren , und wenn ich ferner den verdacht hege,
dass der Verfasser der Völsungasaga hierüber bescheid wüste, und des-
halb vorsätzlich unterliess, dies lied zu benutzen, und dass gleichfalls
der samler der lieder recht wol wüste, dass dies lied ein neues war,
und mit ganz besonderem hinblick auf dieses das zweite ein (im vergleich)
„altes" nent, obschon er nebenbei auch noch an die beiden andern
Gudrunlieder, das dritte und die Gudrunarhvöt , gedacht haben mag.
Ich möchte nämlich wol annehmen, dass er auch die Gudrunarhvöt als
ein neues lied gekant hat, und indirect als ein solches bezeichnet, wenn
er drittens das Hamdismäl „das alte Hamdeslied" nent. Er scheint
eben so wenig wie wir irgend ein andres lied zu kennen , das auf irgend
welche weise ein Hamdeslied wäre , als eben nur die Gudrunarhvöt , wird
wol auch wider hier „alt" mit beziehung auf irgend eins der andern
lieder gebraucht haben, ^ und hätte nicht umhin können zu bemerken,
dass das eine der beiden lieder mit so gutem fug wie das andere sich
als ein Hamdeslied betrachten liesse, was in beiden fällen nur teilweise
zutreffende benennung abgibt, wie denn andrerseits auch „Gudrunar-
hvöt" ungenaue bezeichnung ist, indem „ Gudruns antreiben ** zur erschla-
gung Jörmunreks nur einleitung ist, um eine Situation aufzutreiben, wo
Gudrun einmal wider eine excerpierende Übersicht über ihr leben geben
könte. Der erste teil der Gudrunarhvöt kann aus dem Hamdismäl (in
1) So ist mir auch die beuennung Bjarkamäl in forna zeugnis, dass man vom
jüngeren alter eines andern Bjarkmndl gewust hatte (vgl. oben s. 21 f.).
54 B. JESSEN
etwas minder corrumpierter gestalt des letzteren als der jetzt vorliegen-
den) hergenommen sein, obgleich auch beide auf gemeinsame quelle
zurückfuhren könten. Dass die bezeichnung von drei dieser heldenlieder
als „alten" eine Vorstellung von andern als im vergleich neuen impli-
ciert, folgt von selbst. Eine samlung von liedern aus „ dem älteren und
mittleren eisenalter*' .würde durchgängig so „/brw" gewesen sein, dass
von einer Unterscheidung des mehr und des minder „fornen,^^ geschweige
denn von einer kleinen aristokratie aus nur drei speciel „fornen^'' lie-
dern bestehend, gewis nicht die rede gewesen wäre.
Wol nicht ohne bedeutung ist es, welche der lieder der Verfasser
der Völsungasaga nicht benutzt hat. Er hat ja nämlich sonst, neben
ein par verlorenen,^ eben die uns bewahrten benutzt und grossenteUs in
prosa umgesetzt, wobei parallele lieder, so die beiden Atlenlieder, und
die beiden letzten (Gudrhv. und Hamdm.), je beide durchblicken. Nicht
benutzt sind: Helgakvida Hundingsbana II, Oddrünargrätr , Gudrünar-
kvida III und I , Helreid Brynhildar , welche liste meines erachtens kund
gibt, dass die nichtbenutzung eine vorsätzliche war. Der erste teil der
sage von Helge dem Hundingstöter steht in der Helgakv. Hund. II
(str. 1 — 27) unvollständig, unordentlich, wenig klar, dagegen in der
Helgakv. Hund. I viel vollständiger, ordentlicher und leichter zu lesen.
Der zweite teü dieser sage, welcher im ersten liede fehlt, hat so wenig
bedeutung für die Wölsungengeschichte (mochte vielleicht auch noch
dem bewustsein nicht zu undeutlich als etwas dieser geschichte ursprüng-
lich fremdes dastehen), dass er sehr passend wegbleiben konte, indem
der sagaverfasser die sache nur mit der bemerkung^ abzufertigen brauchte,
dass „Helge die Sigrun heiratete und ein berühmter könig ward." Ähn-
liche bewantnis wie mit dem weggelassenen teile der Helgensage hat es
mit Oddrünargrätr und Gudrünarkvida IIL Auch wenn der sagaverfas-
ser den inhalt dieser beiden lieder nicht für willkürliche erfindung hielt,
würde er ihn als überflüssig ausgeschlossen haben , den der Gudrkv. HI
um so mehr, als er sich überhaupt auf die Dietrichsage nicht einlässt,
die er doch sehr wol kante, da er ja bekantlich eben aus den abteilun-
gen in der saget pidreks , die von den Weisungen und Nibelungen han-
deln, etliches entlehnt hat.^ Helreid Brynh. und Gudrkv. I wird der
1) Die in der lückc der handschrift zwischen Si{frdrifumäl und hrot af Bryn-
hildnrktndu gestanden haben müssen. — Bugge (LXVII) setzt die cntstehung der
schriftlichen liedersamlung um 1240, die saga in die letzte hälftc des 13. Jahr-
hunderts.
2) Völs. cap. 9 (Fomalds. I s. 141), wo in den Schlussworten ok er kann her ekki
sidan vidpessa sögii das her (hier) andeutet, dass man anderswo mehr vom Helge erzählte.
3) Siehe hierüber z. b. diese zeitschr. I s. 417 unten.
ÜBER DIE EDDALIEDER 55
sagaverfasser geradezu als ganz verwerflich betrachtet haben; er könte
sehr wol sogar positive künde gehabt haben, dass diese beiden als will-
kürliche erfindungen entstanden waren. Es hat demnach, meines bedün-
kens, die liste der nichtbenutzten lieder durchaus keinen zufä^Uigen
Charakter.
Nachdem ich hiemit eine reihe mehrfach in einander greifender,
und alle 17 lieder* angreifender litterarischer Verhältnisse aufgeführt
habe, die uns mit vereinter kraft zu dem resultat hindrängen, dass diese
lieder (selbst die altertümlichsten nicht ausgenommen) unmöglich „dem
altern und mittlem eisenalter," also den zeiten vor der grossen wiking-
zeit, zugehören können, vielmehr, wenigstens gröstenteils , sogar erst
dem Zeitalter nach den wikingzügen zugehören werden, ferner dass
sie keinesweges dänische (noch auch schwedische) lieder sein können,
sondern nur norröne, am ehesten isländische,^ bleibt noch übrig, den
Charakter und ästhetischen wert dieser heldenlieder (ein gebiet,
worauf wir schon gelegentlich hinüberstreifen musten) näher zu erwä-
gen, um zu sehen, inwiefern auch hierin bestätigung, speciel in der
frage über isländisch, zu finden wäre.
Es versteht sich denn nun sofort von selbst, dass diese lieder sich
in der genanten beziehung auf ein überaus unprimitives Stadium hinstel-
len. Sie bilden ja nämlich keine einheit , auch da nicht einmal , wo von
keiner Verknüpfung verschiedener sagen die rede sein könte, sondern nur
von ursprünglicher, unteilbai'er einheit der sage. Rechnen wir die Jör-
munrekssage und die Helgensage ab: die geschichte Sigurds und der
Nibelunge bildet zusammen eine einheit, öine sage, somit ursprünglich
natürlich 6in gedieht. Und will man den Untergang der Nibelunge
gleichfalls abziehen: nun wol, es muss doch wenigstens Sigurds, Bryn-
hilds und Gudruns geschichte immer eine einheit gebildet haben, die
ursprünglich nur insofern in mehrere lieder kann zerlegt gewesen sein,
als sie zu weitläufig für nur einen vertrag war, das gedieht also von
selbst in mehrere einander fortsetzende cantos zerfallen muste , wie alle
grösseren volkstümlichen epischen gedichte, wie die Dias, die Odyssee,
das Nibelungenlied , der Beowulf usw. Die Edda liefert aber nicht eine
reihe cantos, die zusammen 6m gedieht, entsprechend der einheit der
sage, bilden, sondern eine anzahl vereinzelter, losgerissener versuche,
1) Am schwächsten das kurze brot af Sigwäar- oder Brynhildarkviäu für
sich genormuen. Aber es will nicht für sich genommen sein.
2) inclusive grönländische. — Auch die von Norwegern colonisierten inseln
nördlich und westlich Schottlands dürfen nicht ausgeschlossen sein. £twas speciel
auf dieselben deutendes weiss ich nicht vorzubringen.
56 e:. JESSEN
partieen oder personen der sage für sich zu besprechen , ^ und zwar so,
dass die darstellung oft nicht einmal eine direct epische ist, sondern
eine indirecte, indem irgOAd eine person die begebenheiten memoriert
oder prophetiert; ferner so, dass bei den zuhörern schon gründliche
kentnis der sage vorausgesetzt wird: nur wer in der sage wolbewandert
ist, vermag die einzelnen lieder zu verstehen. Ich vermag hierin durch-
aus keinen „erhabenen grossartigen überblick," geschweige denn etwas
uraltertümliches, primitiv germanisches oder nordisches, noch überhaupt
in der art, wie es ausgeführt ist, irgendwie etwas volkstümliches zu
entdecken (obschon ich nicht jedwede Zerstückelung einer sage in
kleine von einander unabhängige lieder sofort für etwas unvolkstümliches
erkläre). Ich höre keinesweges „das ältere und mittlere eisenalter," ja
auch nicht einmal die wikingzeit in diesen liedern singen. Im gegen-
teil, es klingt mir wie die schwächliche, unpoetische neubearbeitung
der letzten epigonen, wie versuche litterarischer liebhaber. Wie sollte
man sich die sage in solchen langweiligen, unharmonischen, zersplitter-
ten übersichts- und repetitions - darstellungeh ein halbes oder ganzes
Jahrtausend hindurch im ganzen norden überliefert denken? Warum
sollte man eben an dieserlei form die langen zeiten hindurch hartnäckig
festgehalten haben? Es muss ja doch vor dieser eine zusammenhän-
gende, und vor allem eine directe darstellung der sage als einer nicht
schon bis zum überdruss bekanten und eingeübten gegeben haben. Und
es muss eine solche darstellungsart die einzige wirklich volkstümliche
gewesen sein, die einzige wirklich geniessbare und unterhaltende, die
einzige, wodurch das spannende und erregende der handlung nicht ver-
loren gienge , die einzige ohne commentar verständliche , somit die einzige,
worin sich die sage verbreiten und leicht überall erhalten könte. Man
mache doch einmal das gedankenexperiment durch, wie sich die sage
seit „dem altern und mittlem eisenalter" (oder auch nur durch die
Jahrhunderte der wikingzeit) mittelst der uns bewahrten lieder hätte
von „Südscandinavien" aus über den ganzen norden verbreiten und über-
all erhalten sollen. Die eine generation nach der andern hätte, mit
geduld, ja mit heisshunger und entzücken solchen unsinn angehört, wie
z. b. dass Gripir dem Sigurd dessen ganze geschichte im excerpte vor-
hererzählt (wie in I. Sigkv.) , so dass Sigurd , der erzritterliche held , die
Brynhild mit dem vollen bewustsein besucht hätte, dass er, und wie
1) Wir mögen biebei die weise bemerken , wie mehrere lieder anheben : är var
alda pat er arar (ftdlii (I. Helg. Hund.) ; dr var pats Gudrun göräisk at deyja
(I. Gudr.); dr var pats Sigu/rdr sötti Gjüka (III. Sig.)j -^1^/t sendi dr tu Gun-
nars (AtUcv.)j so mag ein gedieht, aber nicht leicht ein neuer abschnitt desselben
anheben.
ÜBER DIE EDDALIEDEB 57
er sie hintergehen werde; dass ferner Gudrun eben so präcis detaillier-
ten, obschon ebenso excerpierenden bescheid über ihre künftigen erleb-
nisse von der Brynhild anhören muss,^ so dass gleichfalls Gudrun zur
offenen betrügerin wird an Sigurd und an Brynhild, und Brynhild alles
recht verliert, sich hernach von dem durch die waberlohe reitenden
Sigurd täuschen zu lassen, und den betrug erst lange nach der heirat
zu entdecken ; dass Brynhild noch einmal dem Gunnar und vielen andern
die geschichte mit Atle, so auch die mit Oddrun und die mit Jörmun-
rek excerpierend vorhersagt (III. Sig.), und nachdem sie bedauert hat,
dass der tod sie unterbricht (sonst würde sie mehr sagen ^), sofort noch
auf dem wege nach der untei-welt einen neuen anfall der redesucht hat,
und ein hexenweib, von dem sie ohne jede veranlassung aufgehalten
wird , mit einem excerpierenden , psychologisch abwägenden vertrag über
ihre vita regaliert (Helr. Brynh.); wie denn auch Gudrun dem Dietrich
ihr leben übersichtlich erzählt , mit der vorhersagung des zu begehenden
gatten- und kindermordes abschliessend (IL Gudr.), und diese geschichte
später noch einmal monologisch widerholt (Gudrhv.); und gleichfalls auch
die Oddrun diffuse Übersichten über partieen der sage der Borguy vor-
trägt, die doch wol ungefähr eben so guten bescheid wissen mochte,
überall wäre die geduld der zuhörer durch nutzlose, unpoetische repe-
titionen des bekanten hingehalten worden, und in allen richtungen der
effect der handlung vernichtet, indem man alles erst prophetierend,
dann repetierend hätte durchgehen müssen. Das Interesse an den perso-
nen und ihrem Schicksal sollte sich frisch erhalten haben, obschon alle
psychologische denkbarkeit, jede begreifliche Vorstellung von mensch-
lichen seelenzuständen und menschlichem handeln vernichtet wäre , indem
nichts mehr geschehen konte, was die handelnden personen nicht schon
alle voraus wüsten (inclusive ihrer eignen verkehrten schritte, und aller
folgen derselben). Ich kann mir die Verbreitung und längere mündliche
Überlieferung der sage in so monströser abart der sagendarstellung nicht
denken, ja nicht einmal recht vorstellen, dass diese abart die ältere,
acht epische und directe darstellung ohne weiteres verdrängt hätte. Ich
finde es bei weitem vernünftiger anzunehmen, dass so etwas nicht ein-
mal dem spätesten Stadium des volkstümlichen heidnischen gesanges,
sondern einem litterarischen, somit christlichen Zeitalter zugehört. Den-
ken wir uns diese lieder als litterarische ergänzungsversuche eines zeit-
1) Dies ist nämlich der wesentliche inhalt des liedes gewesen , wonach cap. 25
der Völsungasaga erzählt wird. Das lied seihst ist durch die bekante lücke in der
Eddahandschrift verloren gegangen.
2) Tnart ek sagda, munda ek fleira, er mer meir mjotuär mdlrüm gcefi
(in. Sig. 68).
58 E. JESSEN
alters, wo man den Inhalt der gesamten sage noch sehr wol wüste, wo
aber in der tradition der werte der alten lieder viele grössere und klei-
nere lücken eingerissen waren, die alte einheitliche liederreihe nur noch
in ungenügendem, fragmentarischem zustande vorlag. Das würde wol
nur auf die isländischen litterarischen zustände passen. Sieht man die
Sache in derartigem lichte , dann , meine ich , ordnen sich alle facta natür-
lich und zwanglos. Eine solche dichtung würde die altern fragmente
vielfach incorporieren. Man begreift nun , wie die enorme abgeschmackt-
heit (die sich ja auch in so manchen, zum teil oben berührten details
kund gibt ^) neben der grossartigen poesie der hauptsage selbst beste-
hen kann, so wie auch neben dem poetischen schwunge einiger strophen
und Strophenreihen (so des letzten teiles der ü. Helg. Hund., und ver-
schiedener in andern liedern, besonders Fäfnism. und IL Sigkv., zer-
streuter Strophen*). Man begreift, wie die alle andern altgermanischen
heldensagen überbietende tiefe psychologische richtung der hauptsage spä-
ter, auf dem afterstadium unsrer lieder, zu jenen ermüdenden vortragen
der damen verfuhrt hat, jenem redseligen und unzarten demonstrieren
über ihre eigne psychologische Stellung. Man begreift, wie das dem
Interesse wirklich forderliche dunklere und andeutende prophetieren der
volkstümlichen darstellung („dir werden die bauge zum tode;" „meines
goldes soll niemand gedeihen;" „ dir ist kurzes leben beschieden ; " „euch
wird der eidbruch verderben;" und dgl.) auf dem repetierenden, auf-
summierenden Stadium zu dem absurden excerpierenden detailprophetie-
ren unserer lieder verleitet hat. Man begreift wie schon in den alter-
tümlichsten liedern so manches offenbar wenig alte (so vor allem die
Verschmelzung mit der Helgensage) auftreten kann: es werden sogar
die ältesten frühestens dem spätem teil der wiMngzeit entstammen.
Den grösten und am wenigsten , vielleicht gar nicht von weijb später
erneuernder band berührten Überrest älterer dichtung haben wir im zwei-
ten Helge - Hundingstöterliede , wogegen das erste jüngere bearbeitung des
ersten teiles der geschichte Helges ist, eine direct epische, und dennoch
1) Vgl. das früher bemerkte über kenningar, über den stil der Atlenlieder,
zum teil des Hamdesliedes , über die Sonderbarkeiten der Gndr. I , auch der Sig. III
usw. Als ganz besonders grelle beispiele möchten noch genant werden: kofia varp
öndu enn konungr fjörvi (Sig. HI, 29); gingu allir ok p6 f}msvr hana cU letja:
hratt af halsi hveim par ser (ib. 41 — 42j ; fi opt svikinn (Atlam. 52) ; em ek litt tei-
kintif lifs tel ek van enga (ib. 88) usw.
2) Wenn auch sogar sonst sehr unbefangene deutsche altertumsforächer (von
nordischen will ich nicht reden) sich in überschwänglichem lob der eddischen helden-
lieder ergehen, meine ich eben, dass solche vereinzelte poetische stellen, und noch
mehr die poesie der sage ihr äuge, in bezug auf den eigentlichen Charakter der lie-
der überhaupt, geblendet hat.
Ober die bddaliedeb 59
in ihrer art unantike bearbeitung, die übrigens atrophen mit dem zwei-
ten gemeinsam hat, welche also aus älterer bearbeitung herübergenom-
men sind. Das widererzählen hört man dem ganzen ersten liede an,
das eilende übersichtliche excerpieren besonders den Strophen 9 — 14.
Der schwülstige, prätentiöse stil, und die zahlreichen kenningar sind
oben erwähnt. Poetisches talent möchte man dem Verfasser nicht
absprechen; aber weder hat er den rechten alten epischen stil getroffen,
noch auch sonst hier ein befriedigendes gedieht geliefert.^ — Überreste
älterer dichtung liegen wol auch vor in 11. Sigkv. str. 1 — 18 und 26,
und in Fäfhism. 1 — 10 und 16 — 33, wogegen das übrige unter diesen
beiden Überschriften meines bedünkens von späterer band herrühren muss,
was ich schon früher angedeutet habe.^ — Schon der hinzugedichtete
schluss des Fäfhismdl enthält jenes detaillierte und doch excerpierende
prophetieren , welches ich unbedenklich der litterarischen isländischen
Überarbeitung des Stoffes zuschreibe. Biographische übersichts - und repe-
titionslieder, zum teil prophetierende , alle von geringem ästhetischen
werte, sind nun ferner: I. Sigkv. (d. i. Gripisp.); III. Sigkv.; das durch
die lücke in der handschrift verlorene , aber in Völsungasaga cap. 25
benutzte Bry nhildlied ; Helr. Brynh. ; IL Gudrkv.; Gudrhvöt.; Oddrü-
nargr.; wahrscheinlich auch das brot af Brynhildarkviäu, dessen frag-
mentarische kürze jedoch kein sicheres urteil gestattet. — Ganz willkür-
liche experimente aus demselben Zeitalter wie die soeben aufgezählten
lieder werden sein: Sigrdrifumäl und I. Gudrkv.; über beide habe ich
schon meine ansieht ausgesprochen. Nicht anders möchte es sich viel-
leicht mit ni. Gudrkv. verhalten, worüber ich übrigens sonst nichts
bestimteres vorzubringen weiss. ^ — Übrig bleiben nun die beiden Atlen-
lieder und das Hamdeslied, welche wider direct episch sind, und eine
1) Das in der Morkinskiima und in der Hrokkinskinna aufbewahrte (in Forn-
raannasögur VII s. 6 ff . und in der Christiania - ausg. der Mork. s. 132 AT. gedruckte)
im achtzeiligen fornyrädlag abgefasste lied des skaldon Gisl Illugason über könig
Magnus Barfuss, welches jedenfalls nicht älter als das jähr 1100 ist (und dessen
authentie wol nicht zu bezweifeln wäre), zeigt in behandlung des nietrums und in
der phraseoiogie so entschiedene ähnlichkeit mit dem ersten liede über Helg. Hund.,
dass es erlaubt wäre, den Gisl für den Verfasser auch dieses letzteren zu halten.
Einen entscheidenden beweis für diese Vermutung vermag ich jedoch nicht vorzu-
bringen.
2) Die mythologischen strophen: Fäfn. 12 — 15, müssen wol ein ganz zufälli-
ges, ungehöriges einschiebsei sein. — Dem dreimaligen (v)reiär vega des Fäfnism.
(zwei mal in Sprichwörtern) ist übrigens kein gewicht beizulegen (vgl. oben s. 29).
3) Das heimliche gespräch zwischen Gudrun und Dietrich (II. Gudr.) möchte
den einfall erregt haben, Atle werde eifersüchtig geworden sein, und dieser einfall
die III. Gudr. ohne andern Zusammenhang mit der sage hervorgerufen haben.
60 E. JESSEN
klasse fiir sich bilden. Trotz der durchgängig directen darstellung sind sie
ganz und gar nicht altertümliche Überreste , obschon sich das Hamdismäl
näher an ältere dichtung hält als die x^tlenlieder. Ich habe über diese
drei meine auffassung schon früher dargelegt, so auch, dass mir das Ham-
dismäl in seiner bewahrten gestalt unbedenklich demselben Zeitalter und
derselben „schule" zugehört, wie die beiden andern. — Bei der lücke
in der handschrift zwischen Sigrdrifumäl und brot af Brynhildarkviäu,
welcher lücke die capitel 23 — 28, gröstenteils auch 29, in der Völ-
sungasaga entsprechen, bleiben wir natürlich in ungewisheit über den
Charakter der daselbst verlorenen lieder, nur dass ganz deutlich das
cap. 25 der saga auf einem prophetierenden übersichtsliede beruht , dessen
einleitung eine Situation zu wege brhigen sollte, wo Brynhild prophetie-
ren könte, und eben diese detaillierte prophetie die hauptsache war.
Es ist möglich , dass die lücke ferner neubearbeitungen ähnlich dem drit-
ten Sigurdliede enthalten hat, aber auch, dass daneben grössere Über-
reste älterer dichtung sind aufgezeichnet gewesen (wie ja denn jedenfalls
die neubearbeitungen stellen aus derselben unverändert werden herüber-
genommen haben) ; endlich auch , dass längere prosastücke die geschichte
vervollständigt haben (so möchte man wol noch immer mit P. E. Mül-
ler und Keyser und gegen Bugge mutmassen, dass den capiteln 23 — 24
der saga kein lied, oder kein vollständiges, als grundlage gedient
hat). Wenn Bugge (in der note) meint, das hrot af ,,Sigurdarikviäu'''
(== Brynhildarkviäu) werde der Überrest eines überaus langen Sigurd-
liedes sein, dessen bei weitem grösserer teil durch die lücke verloren
wäre , und dem gegenüber die handschrift die lange III. Sigkv. als „ die '
kurze" (in sJcamma) bezeichnen konte, habe ich hiebei zu bemerken,
dass der name „Siguräarhvida in skamma" näher besehen nur einem
teile dieses liedes angemessen ist , so dass das ganze vielleicht auch einen
umfassenderen namen getragen hätte, in welchem fall der schluss auf
übergrosse länge eines andern Sigurdliedes unsicherer wird. — Die
früheren teile des Sagenkreises, die „Vorgeschichte," wird man wol der
ueubearbeitung weniger wert gehalten haben. Wahrscheinlich hat I. Helg.
Hund, als vereinzelter versuch dagestanden, pieses lied ist^im 8. und
1). capitel der saga benutzt. Mit dieser ausnähme werden aber den
ersten 13 capiteln der saga schwerlich vollständige lieder zu gründe lie-
gen. In den wechselreden blicken mehrmals alliterationsstäbe durch.
Man wird wol am ehesten nur mehrere bruchstücke der älteren dichtung
übrig gehabt haben, in so verkümmertem zustande, dass sie der auf-
nähme in die liedersamlung nicht wert gehalten wurden. Es werden
solche bruchstücke meist dialogische gewesen sein (wie ja auch in der
liedersamlung die altertümlicheren Überreste fast nur wechselreden sind).
ÜBER DIE BDDALIEDEB 61
Den Inhalt auch dieses teils der sage muss man ganz gut festgehalten
haben. Aber ich muss Bugge widersprechen , wenn er es ^ für erwiesen
hält, der sagaverfasser habe eine menge hieher gehörige lieder ausser
denen der „Sämundar-Edda" gehabt. Bugges gi-ünde sind sehr schwach;
sie erhärten nur, was jedenfalls niemand bezweifeln könte: dass der saga-
verfasser einige fragmente von sonst verlorenen liedern kante. Sein lie-
derschatz war meines bedünkens sonst eben nur die uns erhaltene sam-
lung* in nicht lückenhaftem zustande, von welcher er mehrere der lie-
der (vorsätzlich) nicht benutzte. — Bugges meinung, dass die samlung
mit dem Hamdismäl wirklich abgeschlossen, und der codex regius also
nicht „in fine mancus" sei,* trete ich unbedenklich bei, obschon Bugge
nicht bemerkt zu haben scheint, dass auf der letzten, ursprünglich wol
leer gelassenen halbseite, nach einem Zwischenräume, eine anzahl jetzt
wol völlig unleserliche zeilen hinzugefugt sind, ob mit derselben hand
wie vorher, vermag ich nicht zu entscheiden. Dass das manuscript zur
zeit, als diese zeilen hinzugefügt wurden, nicht noch mehr blätter am
ende enthielt, schliesse ich daraus, dass diese zeilen ganz bis an den
untern rand reichen, während sonst im codex ein breiter marginalraum
unten leer steht. Der sonst ungebräuchliche Zwischenraum vor diesen
Zeilen bezeichnet wol auch dieselben als eine zutat (man könte auf eine
note über Heime und Aslaug raten, entsprechend dem schluss der Völ-
sungasaga).
Gegen die haltlosen berufimgen auf den vermeintlich höheren
stand altdänischer cultur, und gegen die hergebrachten phrasen über
die herlichkeit dieser lieder als beweis ihres entstehens im vorgeb-
lichen culturlande , glaube ich hier eine ziemlich hinlängliche menge Ver-
hältnisse zusammengestellt zu haben, welche die abfassung dieser hel-
denlieder ganz und gar nicht dem „altern und mittlem eisenalter" in
„ Südscandinavien ," sondern gröstenteils einem isländischen litterarischen*
Zeitalter (dem 11. — 12. Jahrhundert, vielleicht sogar auch dem anfange
des 13.) zuweisen müssen, obschon eimge, jedenfalls doch norröne, bruch-
stücke älter sein werden.
1) In seiner Eddaausg. XXXIV — XLI.
2) Deren prosastücke er ja gleichfalls gelegentlich benutzt.
3) Ausg. S.V.— Ein indicium , dass am ende nichts fehlt , wäre wol auch
der umstand , dass nicht das letzte , sondern im voraus schon das vorletzte blatt (als
überflüssig) abgeschnitten ist.
4) Mit welchem ausdruck (in ermangelung eines präciseren) ich das Zeitalter
dieser lieder von dem der eigentlichen heidnischen volkstümlichen poesie unterscheide.
Ich verwahre mich gegen eine solche deutung meiner worte, als ob ich meinte, die
lieder müsten sogleich schriftlich verfasst sein, was übrigens bei einigen nicht
unmöglich wäre.
62 E. JESSEN
Hier, zwischen den beiden- und den götter-liedern, möchte ich
ein par werte über das nur im Fluteyjarbök (um 1390) aufbewahrte,
gewöhnlich aber in ausgaben der „Eddalieder" aufgenommene Hynd-
luljöd einschieben. Obschon ton und Charakter durchgängig ganz einer-
lei ist, trete ich Bugges meinung bei, dass es nicht ein lied sei, dass
str. 28 — 43 (bei Lüning 28 — 41, bei Bugge 29 — 44) stück eines
mythologischen liedes ist (Völuspd in skamma wird es in der Snorra-
Edda benant^). Das übrige, das Verzeichnis der heroen und heroen-
geschlechter, wird übrigens auch nicht vollständig sein; so möchte nach
str. 27 (28) eine erwähnung Sigurd Rings und Kagnar Lodbroks aus-
gefallen sein. Dass die beiden lieder ohne Ursache zusammengefügt
wären, finde ich ganz unwahrscheinlich. Da der ton so ganz derselbe
ist, vermute ich, man wird eine bestimte künde gehabt haben, dass
beide zusammengehörten, dass beide von einem Verfasser herrührten,
der denn in einem liede (das er nach der altern Völuspä „die kürzere
Völuspä" benante) eine schematische Übersicht seiner mythologischen
kentnisse an den tag gelegt hätte, in einem andern eine derartige über
sein sagengeschichtliches wissen. Das mythologische lied nun rührt von
einem Christen her; denn dem Verfasser war die mythenweit etwas ver-
gangenes, wie das mehrmals seine präterita bezeugen: „Freyr hatte
dieGerdr, diese war tochter desG;fmir;** „einungetüm [Hei oder Mid-
gardswurm] schien (pöUi) vor allen das ungeheuerlichste zu sein;'*
„Haki war söhn der Hvedna" usw. Einem beiden waren Freyr, Qerdr,
Gymir, Hei (oder Midgardsormr) alle noch am leben, und Gerdr noch
immer gemahlin des Freyr ;^ er hätte nm- sagen können: Freyr hat die
Gerdr, usw. Das eigentliche Hyndluljöd, ebenso herplappernd als die-
ses mythologische, und im höchsten grade confus,^ ist übrigens dem
sagenbestand der isländischen litteratur ganz angemessen: es bekümmert
sich nicht sonderlich um die vielen kleinkönigsgeschlechter , sondern
vorerst um die Tnglingar (Harald Schönhaars geschlecht), Skjöldungar,
Skilfingar, Völsungar (oder Ylfingar), Gjükungar, Ödlingar (geschlecht
des Eylimi: str. 25), nent auch Arngrimssöhne , Halfsrecken und einige
andere noiTöne familien. Es hat die eigentümliche norröne Verknüpfung
1) I, 42 — 44, wo eine atrophe citiert wird.
2) Letzteres ist zwar aus dem Skimismäl allein nicht ganz deutlich zu erse-
hen ; die Snorra - Edda aber , die sich hierin nicht irren würde , erklärt das Verhält-
nis für eine förmliche ehe.
3) K. Maurer (Quellenzengnisse über das erste landrecht usw. s. 92) sagt:
,,Die confose art, wie dieses genealogische lied die ... gcschlechter und personen
durcheinander mischt, nimt ihm jede weitere bodeutung, als etwa die eines Zeugnis-
ses, dass die in ihm genanten namcn wirklich in jedermans mund waren.''
ÜBER DIE EDDALIEDER 63
des norwegischen königtums mit dem dänischen;^ femer die der Helgen-
sage (str. 25) und die der Jörmunreksage mit der Nibelungensage (Jör-
munrek wird str. 24 ausdrücklich „Schwiegersohn Sigurds*" genant). Es
ist dies ganz entschieden ein norrönes lied. Beide lieder sind solche
gelehrsamkeitsproducte, dass sie nur dem „litterarischen" isländischen
Zeitalter zugehören können.
Gehen wir demnächst an die besprechung der götterlieder in
der „ Sämundar - Edda."
Der codex regius enthält ja deren 9: Völuspä, Vaf{)rüdnismäl,
Grinmismäl, Skfrnismäl, Härbardsljöd, Hyraiskvida, Lokasenna, pryms-
kvida, Alvissmäl. Im Arnamagnäanischen handschriftbruchstück stehen
von diesen nur 5 (in anderer Ordnung: Härb., Skirn. , Vafl)r, Grimn.,
H^m., die drei ersten defect^) und ausserdem (zwischen Härb. und
Skirn.) Vegtamskvida, die im codex regius fehlt, und von der ebenfalls
die Snorra-Edda nichts weiss. Auch Härb., Hym. und sogar prymskv.
sind der Snorra-Edda fremd, wogegen sie die sechs übrigen benutzt,
indem das Skaldskaparmäl zwei Strophen aus Alvissmäl und zwei aus
Grimnismäl citiert, die Gylfaginning eine aus Lokasenna, eine aus Skir-
nismäl, wie sie auch dieses lied weiter benutzt, und grossenteils nach
Völuspä, Vaft)rüdnismäl, Grinmismäl ausgearbeitet ist, von welchen dreien
viele Strophen vorkommen. — Erinnern wir uns , dass wir (mit Bugge)
die ganz unrichtig sogenante „Sämundar -Edda" für jünger als die
Snorra-Edda zu halten haben; dass letztere, wahrscheinlich sowol Gyl-
faginning als Skaldskaparmäl, jedenfalls letzteres, wirklich von Snorre
(t 1241) herrühren muss; dass die Gylfaginning jedenfalls etwas älter
als das Skaldskaparmäl ist; dass die urhandschrift der liedersamlung,
die wir „Sämundar -Edda" nennen, (wie Bugge meint) erst um die
mitte des 13. Jahrhunderts wird entstanden sein; dass der uns erhaltene
codex dieser samlung (cod. reg.) wol aus dem schluss desselben Jahrhun-
derts (also nicht viel jünger als die aus den heldenliedem der samlung
excerpierte Völsungasaga) ist; dass das arnamagnäanische handschrift-
bruchstück, dessen lieder, die Vegtkv. ausgenommen, alle einer hand-
1) Dieselbe blickt auch imBigsmäl hervor, und ist vielleicht in einem verlo-
renen schluss des liedes durchgeführt gewesen, worüber vgl. Buggcs anmerknng
8. 149 f. Dies lied steht nur in einer handschrift der Snorra-Edda; was gleichfalls
mit dem Grottasöngr der fall ist. Über letzteres gedieht habe ich hier nichts bestirn-
teres vorzubringen. Es scheint mir einen ungewöhnlich neutralen Charakter zu haben.
Norröne indicien wären wol nur kcemia Gratti or grjd fjaüi (10) und setberg (11).
2) Nach Hym. folgen ein par Zeilen der prosa zur Völundarkv., dann lücke
und dann teile der Snorra-Edda und anderes.
64 E* JESSEN
Schrift der „Sämundar-Edda" entnommen sind, im früheren teile des
14. Jahrhunderts geschrieben ist.
In der Snorra-Edda finden sich spuren und fragmente von noch
etwa einem dutzend andrer mythischer lieder.^ I. s. 102 (bei Egilsson
s. 17) wird citiert aus einem „ Heimdallargaldr " :
niu em ek niceära mögr, niu cm ek systra sonr,
I. 94 (E. 15) zwei Strophen eines liedes über Njördr und Skacti:
leid erumk fjoll usw.
I. 118. (E. 21—22) anderthalb über die Gnd:
Jivat par flygr usw.
I. 286, 288 (E. 60, 61) zwei eines liedes überjpoVr und Geirrödr:
vaxattu Vimur usw.
I. 340 (E. 69) eine halbe aus einem nicht näher bestimbaren liede (viel-
leicht einem beschreibenden):
at Glasir stendr usw.
I. 180 (E. 39) aus einem dialogischen liede über Balders tod und Her-
mods ritt nach der untei-welt die strophe:
pökk mun grata usw.
ausser welcher in dieser erzählung noch viele andre durchblicken, so
(obschon nicht in jedem fall mit gleicher gewisheit, indem alliteration
auch zufallig eintreffen kann, alliterierende redensarten ausserdem nicht
notwendig mitzählen): pd nuelti Frigg: eigi munu vdpn cda vidir
granda Baldri, eida hefi ek pegit af öllum peim. pd spyrr konan:
hafa allir lüutir eida unnit at eira Baldri? pd svarar Frigg: vex
vidarteinungr fyr austan ValhöU usw. Man hört den Ijödulidttr hin-
durch:
eigi mmm Mnum vdpn eda vidir granda,
, af öllum hefik eida pegit,
hafa eida unnit allir lüutir
(ey) at eira Baldri?
mdarteinungr vex fyr ValhöU austan,
sd pötti ungr at krefja eids.
1) Ungerechnet (versteht sich) mythologische „ skaldenlieder " (porsdräpa,
Ilaustlöfig) nnd blosse alliterierende Verzeichnisse von namen und Jieiti (inclusive die
porgrimspula und die Kaifsvisa: Bugge s. 332 — 334).
ÜBER DIB BDDALIBDBB 65
ek se eigi hvar er Bald/r^
oh annat, at vdptdauss enik,
sd hverr til annars, väru(m) med einum hug
tu pess er vunnit hafäi verkit,
hverr er sd med dsum, er eignask vili
allar dstir minar,
(dstir) 6k hylli^ ok d Hdveg vili rida,
ef kann fdi funnit Bcädr?
niti ncetr (nidr) reid ek padan
dökkva dala ok djtipa.
ridu fimm fylhi inn fyrra dag.
hvi ridr Jni Mr d Helveg?
liggr nidr ok nordr.
hljop sd hesfr svd hart yfir grind,
at hvergi kom hann (höfum) nrer.
sd ek par i öndvegi sitja
Baldr brödur minn,
ef allir hlutir i heimi hann grdta
skal hann fara til dsa aptr;
enu ef vid nuelir nökkurr, eda vili eigi grdta,
pd Jialdisk hann med Helju.
sendi Frigg ripti ok enn fleiri gjafar,
Ftdlu fingrgull
Und noch mehr Hesse sich mitnehmen. — Während sonst die erzählungen
in der Snorra- Edda (mehr oder weniger) den Charakter von litterarischen
excerpten (sei es nun direct aus liedern oder zunächst aus volkstümlichen
erzählungen) tragen, gibt es eine, die nicht so grosse eile hat, die wie
eine kleine saga aussieht, nämlich die von Thors reise nach Utgard
(I. 142 f.; bei E. 28 f.). Durch diese blickt meines erachtens deutlich
hie und da ein sehr einfaches lied im achtzeiligen metrum hervor. So:
. . ok vigdi hafrstökurnar, stodu pd upp hafrarnir, ok var annarr
haltr eptra fceti; man denke sich etwa:
vigdi hann stökur, stodu upp hafrar;
var annarr haltr eptra foeti,
herdi hann hendr at Jmniarskapti,
ZKIT8CHK. P. DBUT8CUB PHILOL. BD. lU. 5
66
B. JESSEN
bdäu ser friääTj
aUt pat
sefaäisk hawn^
er ey pjona pOTj
haU aUt i hagga,
steig v/m daginn
stöä kann upp,
reiddi kann hamar
m
Ijöst hdnum ofan
sökk hamars muär
miändtt er nü
Jdjöp at hdmmi
Ijöst d punn-vcmga
pola kögursveinum
mei/ri muntu vera
sd skcd ganga
er Logi heitir,
hljöp köttr grdr
Idgr er pörr
Sjjdm fyrsty
kaUid hingat
fdisk kann vid hana,
er eigi m&r litush
g6kk i höll
svd for enn
cU fangi kann knüdisk,
vard kann lauss d fötum,
dar feil d kn6
eigi mim pörr
fleirum mönnum
par er pü sdtt
prjd dcUa^
engi hefir ordit,
at eigi komi elli
hudu at fyrir kvcemi
er dttu pau.
tök i s(ßtt hörn peirra,
pjalfi ok Röskva.
d bak ser lagdi,
hddr störum.
(steig fdsti ai)j
hart ok tut,
d hvirfH midjan,
i höfud djüpt.
ok enn mal at sofa.
ok hamar reiddi,
er vissi upp.
köpryrdi.
enn mer lizk pü,
d golf fram,
ok vid Loka freista.
d golf hallar.
ok (hddr) lüill,
hvar er föstra min;
kerling Elli;
feilt hefir hon menn,
üsterkligri.
gömiU kerling.
fang pat:
pvi fastara stod hon;
ok eigi lengi,
foeti ödrum.
pu/rfa at bjoda
fang d höU.
setberg hjd hÖU,
einn djüpastan.
ok engi mun verda,
öUum tu falls.
ÜBBB DIB BDDALIBDBB 67
Natürlich ist nicht zu verlangen, dass die. prosa mit so wenig nach-
hilfe den nötigen poetischen klang erhalten sollte. Wir brauchen nicht,
oder nicht jedes mal , des gedichtes ipsissima verba producieren zu kön-
nen. Es genügt, dass schon die prosa so oft der mechanik der verse
angemessen ist. Weitere Umstellungen und änderungen würden (wie bei
der prosa der Völsungasaga) nocli hinzuzudenken sein. — In der erzäh-
lung vom Fenre ist die beschreibung des bandes (L 108; bei E. 19) ein
vers, der etwa so gelautet hat:
göräu peir fjötv/Ty oh Gleipni hetu,
af kattar dyn, af konu skeggi,
af bjargs rötum, af bjarnar sinu,
af anda fisks , af fugls mjölk.
Einen mislungenen versuch den vers zu restituieren hat Bugge aus
einer Eddahandschrift unter die „ bruchstücke " aufgenommen.^ — In
der erzählung von den kleinodien stehen gegen den schluss hin (I. 344;
bei E. 70) folgende stäbe : dcemdu peir^ at dvergr cetti . . band Loki
at leysa höfu£ . . er hann vildi taka kann , var kann vits fjarri . .
Loki dtti sküa, er kann rann lopt ok log . . vildi höggva af Loka
höfud . . hann dtti höfud en eigi hals . . vil stinga rauf ok rifa
saman . . betri er alr brödur mins . . vifjadi sanian ok reif 6r (BSu-
mim. — Offenbar auch mehrere in der von der gefangennähme Lokes
(I. 182; bei E. 39, 40): fal sik i fjalli , , brd ser i lax liki ok falsk
i Frdnangrs forsi . . hverja vel tu mundu flnna at taka hann i forsi
. . . Loki för fyrir; leggsk nidr milli steif m; drögu net yfir; kendu
peir, at kvikt var fyrir; fara i annat sinn upp til forsins, — Viel-
leicht einige in der von Thor und H^fmir (I. 166 f.; bei E. 35): litil
mun at per lidsemd vera, er pü ert [litill ok] ungtnenni eitt . . . d
vastir er um kmnnir, er vanr emk at sitja, ok draga flata fiska, —
Vielleicht einige in der von Thor und Hrungnir (I. 270 f.; bei E. 56 f):
er ridr lopt ok log * . . Jafngödr i jötunheimum (med jötnum) . . . sök-
kva Asgardi , ok drepa öll gud, nema Freyju ok Sif vil ek heim foera
. . asa öl mun ek allt drekka . . . hafdi vadit nordan yfir EU-vaga,
ok borit i meis d baki örvandil, 6r Jötunheimum, ok pat til jarteikna,
at meisi 6r hafdi stadit ein td.
Dass eine solche anzahl lieder noch im 13. Jahrhundert auf
Island vollständig wäre memoriert gewesen, ohne dass ein ein-
ziges von diesen seinen weg in die „Sämundar-Edda," oder, in form-
licher aufzeichnung, in irgend eine handschrift der Snorra-Edda
1) Nr. 13 8. 335. — Mochten nr. 12 {Sagr heitir sdr usw.) und 14 (flugu hraf-
nar tveir usw.) (Möbius nr. 6 und 8 s. 205 — 6) nicht „kinderreime** sein?
2) Doch nur alliterierende formel.
5*
68 E. JESSEN
gefunden hätte, wird man kaum wahrscheinlich finden. Und jeden-
falls vermögen die oben angeführten spuren und fragmente der lieder
nichts weiter zu erhärten, als dass solche lieder existiert hatten, dass
man den Inhalt (die mythen) noch sehr wol wüste, manche strophe
(besonders wechselreden) noch herzusagen im stände war, auch biswei-
len, wo man letzteres nicht mehr konte, doch eine einigermassen feste
prosaische überlielerungsform hatte , worin sich die alliteration noch bis-
weilen kundgeben konte. Am vollständigsten wird man (von den jetzt
besprochenen) noch das Balders - und Hermods - lied gehabt haben. Falls
die Sache so stand, würde es mit der Überlieferung dieser mythenpoesie
ebenso ausgesehen haben, wie mit derjenigen der älteren Nibelungen-
"dichtung.
Diese ansieht gewint nun ausserordentlich an stärke und Sicherheit,
wenn wir uns vor äugen stellen, einerseits, dass diese nur fragmentarisch
hervorblickenden lieder zur ächten, volkstümlichen, direct darstellenden,
einfach besingenden poesie ^ gehört haben , einer epischen und dialogi-
schen poesie, wo von den späteren künsteleien noch nicht die rede war,
andrerseits, dass von den wirklich erhaltenen liedem, denen der „Sämun-
dar-Edda," näher besehen nur zwei zu dieser altertümlicheren klasse
gehören, nämlich die prymskvida und das Skfrnismäl, während die
übrigen, jedoch in verschiedenem gi*ade, sich als übersichts- und gelehr-
samkeits- lieder, oder gar als willkürliche experimente herausstellen.
Übrigens wäre es ja wol denkbar, dass jene beiden (besonders das Skfmis-
rnäl) ebenfalls nicht ohne erneuernde bearbeitung so ziemlich vollständig
vorliegen könten; nur müste dann die erneuernde band in beiden fällen
(und wol ganz besonders bei der einfacheren J)rymskvida) eine meister-
hafte gewesen sein. Dass von den beiden formen die epische (wie in
prjmskv.) älter als die dialogische (wie in Skfrn.) ist, folgt von selbst. —
Dass jüngere lieder in der „ Sämundar - Edda " (z. b. Völuspä) manches
mit^ wenig oder ohne Veränderung aus älteren werden herübergenommen
haben, ist ferner in der natur der sache begründet.
Bei der älteren (der nicht „ litterarischen ") mythenpoesie spielt die
frage über norrön oder nicht norrön eine weniger bedeutende rolle. Denn
teils waren ja die meisten mythen urgermanische , teils ist es wahrschein-
lich, dass einige sich von den Deutschen her nach dem norden verbrei-
tet hatten. Und die Überlieferung und Verbreitung wird in älterer, in
heidnischer zeit ununterbrochen besonders durch lieder vor sich gegan-
gen sein. Es ist daher grade was wir von vornherein hätten erwarten
1) Nur über das Ueimdallargaldr und das lied, woraus das Olasir stetidr
usw. (wenn übrigens dies ein götterlied war) herjErenoninien ist, können wir keine
bestirntere nieinung haben.
ÜBER DIE EDDALIEDER 69
müssen , wenn dann und wann sehr ähnliche stellen , oder gar fast diesel-
ben Strophen , bei anderen germanischen Völkern anzutreffen sind (wie der-
artiges auch in der Nibelungendichtung zu erwarten gewesen wäre , falls
wir nämlich hinlänglich alte nichtnorröne Nibelungenlieder hätten). Bugge
mag vielleicht recht haben , wenn er (s. LXX) meint , die strophe 3 der
Völuspä (. . jörd fannsk ceva, ne upphiminn . .) verglichen mit dem Weis-
senbrunner gebete (. . dat erda ni tvas, noh üfhimil ..) erweise sich
(zum teil) als eine wenig veränderte urgermanische. Der wesentliche
Inhalt der früher erwähnten beiden strophen aus einem liede über Njördr
und Skadi komt bei Saxo ^ in lateinischer versificierter paraphrase vor,
jedoch in eine andere sage (die von Hadding und Eegnild) verwoben.
Das lied könte demnach ein ursprünglich gemeinsames sein. Da es aber
gar sonderbar ist, dass eben nur genau die beiden selben strophen sich
auf Island und in Dänemark erhalten hätten, entsteht der verdacht, sie
möchten norrönes specialgut sein, das sich irgendwie nach Dänemark
und in eine ganz andere dänische sage verirrt hätte. Ferner wird der
wesentlichste Inhalt der prymskvida in einer schwedischen und in einer
dänischen Kaempevise erzählt; und von einer entsprechenden norwegischen
hat man noch eine strophe übrig. ^ Man überzeugt sich leicht, dass die
Ksempeviser eben der J)rjTnskvida entstammen können, dass aber das
umgekehrte Verhältnis nicht anzunehmen ist, dass somit (in diesem einen
falle) dem umstände, dass Snorre das isländische lied nicht benutzt,^
keine eingreifende bedeutung beizulegen ist. Da nun der mythus ein
urgermanischer sein wird, hätten wir auf den ersten blick Ursache, die
^rymskvida för ein urgemeinsames lied zu halten , das sich in Norwegen,
Schweden und Dänemark in die drei Kaempeviser verwandelt hätte.
Näher besehen ist dies dennoch keine natürliche, sondern eben eine
extravagante auflfassung. prymskvida ist das einzige erhaltene epische
mythenlied acht volkstümlichen und antiken gusses.^ Nun wäre es doch
gar zu erstaunlich, falls ganz unabhängiger weise wider dieses lied in
drei andern ländern das einzige heidnische mythenlied (in mittelalter-
licher neubearbeitung) wäre. Es ist viel einfacher, anzunehmen, auch
die Kaempevise sei eine norröne, in Dänemark und Schweden eingeführte.^
1) Müllers ansg. I. s. 53. 55.
2) Nr. 1 in den samlungen von Sv. Grundtvig und von Arwidson ; bei Gmndt-
vig steht auch die norwegische strophe angeführt.
3) prymr steht aber in der Snorra-Edda unter riesennamen.
4) Ein solches ist nämlich die H^iskvida nicht; hierüber weiter unten.
• 5) Sprachliche indicien dieses Verhältnisses wären das Locke und das Loye (Lete,
Lewe), indem man im Dänischen wol eher ein Loge statt Locke zu erwarten hätte,
und Loie oder Leie, wie auch das Frojenborg des schwedischen liedes, auf norröne
diphthongische ausspräche deutet (Laufey, Freyja); das Haffsgaard (= Asgarär)
70 B. JESSEN
Auch mit manchen andern Ksempeviser muss solches der fall sein,^ wie
denn auch Saxo (obschon er keinen isländischen einfluss auf die Ordnung
der eigentlichen dänischen königssage zuliess) verschiedene norröne spe-
cialsagen hat.* Es liegt nun eben am tage, dass von den drei Kaempe-
viser eine die grundlage der beiden andern ist Es lässt sich demnach
auch nicht einmal von der J)rymskvida erweisen, sie sei ein „südskan-
dinavisches" lied; wie viel weniger von irgend einem andern Eddaliede?
Dass ^rymskvida und Skfrnismäl wol norröne indicien enthalten , ist frü-
her erwähnt. — An der übermässig langen zauberrede im Skirnismäl
mag man jetzt anstoss nehmen. Sonst muss man diesen beiden liedejn
bedeutenden dichterischen wert zugestehen.
Es giebt freilich noch ein mythisches lied mit epischer und direc-
ter (weder prophetierender noch memorierender) darstellung des Inhal-
tes, nämlich die H;fmiskvida. Es ist aber dennoch eben so wenig
wie die Atlenlieder ein wirkliches, uraltes Volkslied. Eben wie bei den
Atlenliedern macht die garstige form, das offenbare widererzählen, die
unnatürliche redeweise , die abwesenheit wahrer poesie , eine vielhundert-
jährige volkstümliche Überlieferung undenkbar. Die vielen und gesuch-
ten kenningar und die behandlung des metrums deuten auf die spätere
„skaldenzeit," und wol am ehesten auf Island hin. In der mythendar-
stellung zeigt sich eine doppelte vermengung nicht zusammengehörender
dinge. Erstens ist H;fmir (mit dem Thor auf fischfang ging) mit Ymir
(bei dem Thor den kessel holte) zusammengeworfen, was bei Snorre noch
nicht der fall ist, wenigstens noch nicht realiter, indem Snorre (ohne
zweifei auf einem wirklichen volksliede ftissend) den fischfang ohne Zusam-
menhang mit dem kesselholen erzählt,* obschon die haudschriften zwi-
könte sogar specicl auf die isländische und zum teil westnorwegische ausspräche von
ä wie au deuten.
1) Für norrön halte ich auch die von Angelfyr (= Anganti/r; nr. 19 bei Sv.
Grundtvig); femer die von Sveidal (= Svipdagr; nr. 70); die von Kragelü (= JKrdfca,
Äslaug; nr. 22, 23), indem ja Saxo die geschichte mit Kräka und Ragnar nicht
kent (also nicht nur die ankntipfung an die Nibelungensage, sondern sogar diese
geschichte selbst muss eine norröne sein).
2) Z. b. die von Ano sagütarit^s (== Ann bogsveigir) ; die von Refo Thylensis
(= Gjafa-Refr) und dem freigebigen könig Götrik (den Saxo für eins mit dem
berühmten Gotfrid hielt). Die mythe von Geruith (= Geirröär) erklärt Saxo für eine
aus Island hergebrachte (Geruthi acceptam a Thylensibus fatnam). Norrön ist die
sage von Örwarodd und Hjalmar, somit auch die von Angantyr; so auch einiges in
der von Starcath (Starkand), welche ja dennoch in ihren grundzügen eine urgerma-
nische sein wird , wie ja auch Saxo wüste , dass Starkandsagen in Deutschland ver-
breitet waren (anders kann ich die werte s. 274 nicht verstehen : . . etüim apud omnes
Sveonum Saxonumque provincias speciosismna sibi monumenta pepererat).
3) I. 166 f. (bei E. 35 f.).
ÜBBB DIE BODALIBDEB 71
sehen den beiden namen H^mir und Yniir schwanken, was wir indessen
nicht dem Snorre selbst zuzuschreiben brauchen. Es wird dies eine
isländische Vermischung zweier namen und später zweier sagen sein.
Zweitens ist nun hiermit auch der verfall mit dem hinkenden bock in
Verbindung gebracht, den Snorre (auf einem wirklichen volksliede ftis-
send) mit Thors reise nach ütgardr verknüpft. Snorre hat die H^mis-
kvida entweder nicht gekaut, oder mit vorsatz nicht benutzt. Es ist
sehr möglich, dass sie erst im 13. Jahrhundert verfasst ist. Jedenfalls
können wir sie unbedenklich für einen isländischen litterarischen versuch
halten, womit auch die werte in str. 38 wol übereinstinmien: hverr kann
um pat goämdlugra görr at shilja? d. i. „wer von den mythologen kann
hierüber [über den verfall mit dem bock] specieller handeln?"
Die übrigen lieder (welche im gegensatz zu den drei jetzt besproche-
nen voraussetzen , dass der zuhörer den stoff schon inne hat) sind gelehr-
samkeitsgedichte , übersichts- und repetitionsgedichte , mit indirecter,
prophetierender, memorierender, katechisierender, oder auch disputieren-
der („sewwa") darstellung mythischen stoflfes; eins derselben, das Alvlss-
mäl, übrigens eigentlich nicht einmal ein mythisches.
Dass nun derartige darstellungsweise auch schon in heidnischer
zeit, sogar vor der entdeckung Islands, wird in anwendung gewesen sein,
möchte ich nicht läugnen. Man bedenke aber , dass '/lo dieser lieder von
so unprimitiver , so wenig volkstümlicher art sind. Sie sind einer genera-
tion angemessen, der es bei den mythen zunächst am memorieren der
specialia, am paradieren mit diesen, gelegen war. Sind es derartige lieder,
die man ohne Zeugnisse, ohne beweise, bloss mit berufiing auf die ver-
meintliche obherschaft dänischer „cultur," dem „älteren und mittleren
eisenalter" in „Südscandinavien" zuweisen kann? Wie könten eben
solche „südscandinavische" lieder eine einheimische norröne liederdich-
tung überflüssig oder gar unmöglich machen? Ist es nicht sehr wahr-
scheinlich , dass die Isländer sich auch mit dem versificieren ihrer mytho-
logischen gelehrsamkeit abgegeben haben selten? und hätte man nicht
eben derartige lieder von den Isländern zu erwarten?
Das vornehmste dieser lieder ist die Völuspä. Wer würde den
hohen, nicht nur mythologischen, sondern auch poetischen wert dieses
gedieh tes läugnen wollen? Hat man es aber damit sofort für das älteste
aller Eddalieder, oder gar für ein urnordisches zu erklären? Es war in
seiner vollständigen gestalt eine gedrängte, excerpierende Übersicht der
götterlehre. Es wird manches aus älteren liedem unverändert herüber-
genommen haben. Nicht aber solche excerpte sind es, wie das über
Gullveig, das über Öds mey und pörr, das über Baldr, Hödr und Loki,
das über Odins und Widars kämpf mit dem wolf , das über Thors mit
72 E. JESSEN
dem wui*m , die sich viele Jahrhunderte hindurch mündlich würden erhal-
ten haben. Es finden sich unantike Wendungen , wie J>d knd Vota vig-
hönd sntia (liddr vdru hardgör höpt) ör pörmum nach skaldenmanier
mit solcher parenthese, und Vala Jwrmum weit auseinander getrent;
Icetr hann megl hvectrungs mund um standa hjör tu hjarta; so unter
den nicht wenigen kenningar einige von den gesuchteren ; ferner das kaum
sehr alte fremdwort ^reki; das verdächtige goäpjöä (vgl. oben s. 17), das
auf einfluss der deutschen heldensage deuten möchte (eben wie im VafJ)r.
das Hreidgotar,^ im Härb. das Valland, im Grimn. das Bin)\ weiter
verschiedene indicien norröner laudesuatur, vor allen das speciel islän-
dische hvera lundr; endlich das „stef" Es wird aller Wahrscheinlich-
keit nach ein isländisches gedieht etwa aus dem 10. Jahrhundert sein,
welches am anfang und ende (vielleicht auch sonst) etliclies aus altern,
nicht excerpierenden liedera unverändert möchte aufgenommen haben.
Einem Christen würde es nicht zuzuschreiben sein , obschon besonders die
stelle broßdr munu berjask usw. verdacht erregen möchte.^
Auch die Lokasenna, meine ich, könte man sich wol von einem
beiden verfasst denken. Natürlich auch von einem Christen, doch nicht
von einem eigentlichen eiferer für das Christentum. Der Verfasser spricht
sine ira; sein Standpunkt ist ein weltlicher, zudem ein frivoler und
indifferenter. Aber freilich ist sein gedieht offenbar nichts, als eine Über-
sicht der schwächen, der angreifbaren punkte in der götterlehre. Und
obschon die amüsante, unwiderlegliche kritik das gedieht wol populär
machen konte, kann ich mii* doch nimmer denken, dass dies die uralte
form der sage vom zwist Lokes mit den göttern wäre. Es liegt dahin-
ter eine ältere, die dem Verfasser unseres liedes nur zum motiv gedient
hat, um seine ketzerische kritik in dramatische form zu bringen. Es
wird früher nur von einem Wortwechsel die rede gewesen sein, worin
1) Dass sich die Dänen , der behauptung Snorres gemäss . jemals Goten (anders
als in der bedeutung „männer") oder gar (wie die deutschen Goten) Hredgot^n
genant hätten , davon findet sich meines wissens keine s])ar bei Saxo noch auch sonst
in Dänemark. — Hrelägotar in Vafpr. 12 möchte ai)pellativ sein, erweist sich übri-
gens mit angelsächsisch HrMgotan verglichen als fremdwort
2) Die in Haupts zeitschr. VII. 315 f. aufgeführten Zeugnisse bezeugen die exi-
stenz der mythen , nicht die der Völuspä (ausgenommen vielleicht die stelle bei Arnor
Jarlaskald um die mitte des 11. Jahrhunderts, und die bei Gunnlaug im 12.). Bei
den daselbst citierten vermeintlich dem 9. Jahrhundert zugehörenden gedichten läugne
ich ja überdies auch die authentie. — Hier möchte ich die bemerkung anbringen,
dass ich Mob ins bedenklichkeiten (zeitschr I. 408) gegen Bugges Ordnung der Völu-
spä beitrete. Beweisen lässt sich die richtigkeit derselben jedenfalls nicht, weshalb
ausgaben sich derselben enthalten solten. Dem Übersetzer ist sie ganz gewis lockend
genug.
ÜBEB DIB EDDALIEDEB 73
Loke sich offen rühmte, den tod Balders verursacht zu haben, also den
göttem juridischen grund gab , ihn gefangen zu nehmen und zu binden.
Dies ist mythologisch das hauptmoment, ist. auch in unserm liede nicht
verschwunden, indem Loke sich jener tat rühmt (wie denn auch Balder,
Nanna und Hödr abwesend sind). Niemand wird aber hierin das eigent-
liche sujet unseres liedes sehen. Unser lied hat nicht mehr den unmit-
telbaren mythologischen zweck. Das sujet desselben sind eben nur die
kritischen details; der mythus ist ihm nur ein äusserliches motiv. Dass
auch das heidentum seine Freidenker hatte, brauchen wir eben so wenig
zu bezweifeln, wie, dass es eine komische poesie wird gehabt haben.
Wir müssen es denn wol als unentschieden stehen lassen, ob unser
gedieht von einem beiden oder einem Christen herrührt. An speciellen
fingerzeigen ist es arm.* Es deutet (wie auch das Harbardslied) auf
einige uns nicht näher bekante, offenbar unanständige, sagen hin. Mit
detaillierter mitteilung solcher Sachen waren die Isländer gewöhnlich
zurückhaltend (so besonders Snorre). Der lückenfreie text ist (wie auch
bei VafJ)r., Härb., Vegt., Alv.) nicht eben zeichen sehr langer münd-
licher Überlieferung.
Noch ärmer an bestimmenden einzellieiten war ursprünglich das
Vafprüdnismäl, eine katecbisierende senna, die sich ein viel beschei-
deneres ziel stellt, als die Loka- senna, indem sie nur (übrigens in sehr^
sauberer form) eijie anzahl mythologischer detailkentnisse auftischt. —
Der abschnitt str. 44 — 53 wird eine hinzudichtung sein (älter als Snorre,
jünger als Alvfssmäl). Denn ursprünglich wiid natürlich Vafprüdnir
12 fragen beantwortet haben, bei der 13. aber stecken geblieben sein.
Die 5 fragen (und antworten) nach der 12. sind später eingeschoben,
und zwar erst wol nur die 4, welche in der manier des liedes bleiben,
wogegen die vorsätzlich rätselhafte in str. 48—49 wol von einer dritten
band interpoliert wäre. — Die hinzudichtung widerstreitet sowol der
Völuspä als dem altern teil des Vaf l)rüanismäl , indem str. 50 — 51 schwer-
lich andern sinn haben können als den, dass nach dem Eagnarök nur
vier götter leben: Vütarr, Vali, Möiti, Magni, wogegen Völuspä Höär^
Baldr, Hoenir und näher besehen alle resir leben lässt, wie auch Vaf-
prüdnismäl 39 den Njörär als lebend und zu den Wanen zuiückgeschickt
erwähnt, was (eben wie die stelle in Völuspä) rück - auswechselung des
Njörär und des Hoenir, somit existenz sowol der Äsen als der Wanen
1) Das Sdmsey der str. 24, wol die insel im Kattegat, braucht eben so wenig
wie Ulesey in Härb. 37 (falls dies das Läsö im Kattegat ist) kentnis dänischer sagen
(somit späte zeit) zu bezeugen , indem ja einheimische norröne sage ebensowol solche
allbekante inseln verwenden konte, wie einheimische dänische sage norröne, schwe-
dische, deutsche, englische, slawische länder.
74 B. JBS8EN
impliciert. Die hinzudichtung in Vafl)rüdnismäl unterliegt also dem
stärksten verdacht , auf blossen misverständissen älterer liederbruchstücke
zu beruhen, also von einem Christen herzurühren. Bei der behauptung
der str. 47, dass es Fenrir sei, der die sonne verschlinge, brauchen wir
also weder Fenrir nach skaldenmanier appellativ stehen zu lassen, noch
auch an irgend welche urindogermanische Identification des höchsten
gottes und der sonne zu denken, sondern einfach an misverständnis eines
nlfr in einem altern bruchstück. Somit wäre die ganze hinzudichtung
als mythologische quelle zu verwerfen, also auch die mit Völuspä wenig
vereinbare stelle (45) über Lif und Leifprasir ziemlich wertlos, oder nicht
leicht verwertbar. — Die hinzudichtung hat endlich auch noch dem
liede einen neuen schluss geschafft: feigum munni mcdlta ek mina
forna stafi 6k um ragna rök, indem ja Vaf|)rudnir erst in derselben,
nicht im altern teile von ragna rök geredet hatte (wenn man nicht etwa
an die frage str. 17 denken wollte). Der aufzeichner gibt sowol den
alten schluss (nü ek viä Odin deildak usw.) als den neuen, dass man
nach belieben wähle.
Das Grimnismäl ist nichts als eine Vorratskammer mythologi-
scher specialia, die man in solcher form memorieren wollte. Der ramen
ist einer sonst unbekanten norrönen heldensage entlehnt, in der man
Odin in einer Situation hatte, wo es ihm venneintlich passend wäre,
solche gelehrsamkeit auszukramen. Nach dem ersten plane hätte er viel-
leicht nur die 12 vornehmsten götterwohnungen herzählen sollen (str.
4 — 17), wo er wol schon lückenhafte Vorstellung von der götterweit
verrät. Das erst weggelassene Älfheimr ist nachher in str. 5 eingeschal-
tet worden, so dass, der ausdrücklichen Zählung* der handschrift zuwi-
der, jetzt 13 Wohnorte erwähnt stehen. Str. 18 — 50 folgt eine polter-
kammer mit allerlei details , die übrigens der Verfasser selbst ^ als erwei-
terung des repertoriums hinzugefugt haben könte.^ Verschiedenes wird
andern liedern entnommen sein, so str. 40 (ör Ymis holdi usw.) viel-
leicht direct dem Vafpr. str. 21. Snorre kante das lied in der jetzigen
gestalt. Es wird ein isländisches und schwerlich ein heidnisches sein.
Wider ein gelehrsamkoitslied in der beliebten form der senna ist
das Härbardsljöd, in welchem ich eben so wenig eine tiefe absieht,*
1) Vgl. diese zeitschr. bd. I s. 414.
2) Man hat gemeint, das lied sei fnicht und abbild eines karapfes zwischen
dem Odinscultus und dem Thorscultus, obendrein so, dass ersterer den vornehmen,
letzterer den „bauern" eigen gewesen wäre. Ein solcher kämpf zwischen beiderlei
cultus hat nicht eiistiert. Der tempelcultus sowol Thors als Odins (und aller göt-
ter) war nur in den bänden gewisser vornehmer geschlechter , die das recht zur
goden- würde hatten. Thor war bei den vornehmen eben so beliebt wie bei den
ÜBEB DIE BDDALIEDEB 75
noch auch einen „tiefkomischen humor" zu sehen veraiag, wie in der
Lokasenna eine „tieftragische Zerrissenheit" Mit dem wirklichen humor
der Lokasenna hat dieser kraftlose, trockene, langweilige versuch nichts
gemein , obschon der Verfasser wol den frivolen indifferentismus der Loka-
senna hat copieren wollen; dass er dieselbe vor äugen hatte, macht die
zeUe (in 26) ok pöUiska pü pd pörr vera (die ebenso in Lok. 60 steht)
wahrscheinlich, wenn auch nicht gewis. Sein zweck ist nur, mittelst
einer senna seine „forna staß^'' seine gelehrsamkeit in den Odins- und
Thors -mythen, besonders den in isländischen Schriften ungern behandel-
ten, paradieren zu lassen. Es ist ein durchaus „litterarisches" product.
Und wenn die Snorra - Edda von demselben nichts weiss , mögen wir dies,
in Verbindung mit den übrigen Verhältnissen (so auch spräche und ver-
Bification), als indicium betrachten, dass das Harbardslied ein isländi-
sches product des 13. Jahrhunderts ist. Als mythologische quelle kann es
sich nicht neben die Snorra -Edda stellen; so wenn str. 19 Thor zum töter
des Thjasse macht, der die äugen Thjasses an den himmel wirft, was
dem bericht der Snorra -Edda (I, 214) widerstreitet, haben wir dem Snorre
die grössere Zuverlässigkeit beizulegen. Es ist wol möglich, dass das
„motiv" des liedes eine mythe war, in welcher Odin, verkappt, dem
Thor eine überfahrt verweigerte. Das lied kann aber nicht die urnor-
dische einkleidung einer solchen mythe sein; es enthält nur die islän-
dische „litterarische" Verwendung der einzelnen Situation.
Der „ramen" derVegtamskvida kann hingegen keine ächte mythe
enthalten. Der ritt Odins nach Heiheim wird nur eine ganz willkürliche
nachbildung von Hermods ritt sein. Denn falls Odin genau dasselbe , was
er in Völuspä 36 -- 38 (bei Bugge 31 — 33 ^) von der daselbst memorie-
renden völva vortragen hört, schon vor Balders tod (nach dem rat aller
götter) bei einer andern völva als prophetie angehört hatte , hätte er weder
gestatten können, dass man dem mistilteinn keinen eid abforderte, noch
auch dass Hödr zur belustigung der Äsen den mistilteinn auf Haider warf,
noch auch überhaupt, dass man mit Balder einen bei so traurigem bewust-
sein seines Schicksals gänzlich abgeschmackten scherz triebe. Man wird
es somit nicht als zuverlässige mythische züge behandeln können, wenn
die völva in Heiheim statt in Jötunheim begraben ist, und wenn die
Wohnung in Heiheim wie ein griechisches elysium, wie ein „schönes"
haus voll gold und lustiger getränke , geschildert wird. Übrigens möchte
ich nicht läugnen , dass grade diese einleitung (str. 1 — 7 *) von poe-
ärmeren; er war kein ackerbaner. Eben die vornehmen waren ackerbauer nnd
bcßndr.
1) Bei Ltining str. 36—37 und die note hiezu.
2) Bei Möbius das nicht eingeklammerte in 1 — 11.
76 B. JESSEN
tischem talent zeugt. Es folgt (str. 8 — 12^) das wirkliche sujet des
liedes: prophetierende übersieht der Baldersmythe , mittelst dialogisie-
render (katechisierender) paraphrase der betreffenden Strophen (36 — 38)
in Völuspä. Einmal (str. 11: Binär herr usw.) kann der paraphrast sich
hiebei nicht mit 8 zeilen behelfen , sondern muss dies eine mal 10
gestatten. Schon in der Völuspä ist das meidr (bäum), vom mistilteinn
gebraucht, nicht eben zeichen autoptiöcher kentnis dieser pflanze; die
werte sind: stöct um vaxinn völlum hcerri mjör ok mjöJc fagr mistil-
teinn. Dies hat nun der Verfasser der Vegt. obendrein so verstanden,
als ob der mistilteinn ein hoher (völlum hcerri) und herlicher (mjök
fagr) bäum wäre, indem er sagt: Hödr berr hdvan hröärbadm pinig.^
Aus den letzten werten hieselbst in Völuspä, nämlich en Frigg um
gret i Fensölum vd Valhallar macht Vegt., nach dem vorbild anderer
lieder (so des Vaf|)r.) ein rätsei (ein sehr abgeschmacktes), womit Odin
die scene verlassen kann: hverjar Wo pmr meyjar, er at muni grata,
ok d himin verpa halsa sTcaxdum? (skötum, sJcöttum?), Die zu gebende
antwort wü'd gewesen sein: Friggs äugen. Es folgen dann die beiden
ungeschickten Schlussstrophen. — Die sechszeilige formel in str. 1 wird
der str. 14 der J)rymskv. entnommen sein. — Die Snorra-Edda weiss
von unserm liede nichts. Auch fehlt es in der eigentlichen „Sämun-
dar-Edda/* Es steht erst in der Arnam. handschrift (nach 1300). —
Alle umstände zusammengenommen, wird es förmlich unnatürlich, das-
selbe für irgend etwas anderes als einen isländischen litterarischen ver-
such des 13. Jahrhunderts zu halten.
Das Alvissmäl endlich (ziemlich un eigentlich ein „götterlied")
ist freilich etwas älter, jedenfalls älter als die Snorra-Edda (auch als
die hinzudichtung zu Vafpr.) , wird aber schwerlich eine wirkliche my the
zum ramen benutzt haben, geschweige in heidnischer zeit entstanden
sein. Es ist dem Vafl)r. nachgebildet , also wieder ein beispiel der engen
litterarischen Verknüpfung unserer wenigen götterlieder, womit es so sehr
wol stimt, sich wenigstens die mehrzahl derselben innerhalb eines nicht
überaus langen Zeitraums und auf Island verfasst zu denken. — Machen
wir zum Verständnis des liedes ein gedankenexperiment. Lassen wir eine
1) Bei Möbius 12 - 16.
2\ Zu diesem pinig, „hieher,'* d. i. nach dem orte, wo Balder stand, wo
also der gedanke eben verweilt, vergleiche man feil hSr i morgun ai Freka'
steint in Helg. Hjörv. 39 , und Bugge in der note zu dieser strophe. — Sonderbar
genug tritt Bugge dennoch der erklärung bei, dass hroär-haämr (-barmt) bezeich-
nung des Balder sei. Aber weder könte hera hier „schicken" bedeuten, noch auch
Hödr den Balder nach Heiheim tragen , noch auch der transport nach Heiheim vor
dem töten Balders (kann man Baldri at bana veräa) stehen.
ÜBER DIE EDDALESDEB 77
anzahl altertums- und skaldendichtungs- kundiger Isländer beisammen
sein, die sich auch mit litterarischen exercitien die zeit vertreiben. Es
wird die aufgäbe gestellt, in katechisierender form, nach muster des
Vafl)r. , eine samlung von 6 mal 13 kenningar und anderen heiti für
erde, himmel, mond, sonne usw. zu liefern. Derjenige, dem dies zu-
fällt, löst die aufgäbe genau, kann sich aber nicht enthalten, über
diese art gelehrsamkeit und poesie ein wenig zu ironisieren. Den gelehr-
ten macht er zum „allweisen" zwerg, der den Wafthrudne noch über-
trifft, indem er auch die 13. frage beantwortet, und der dennoch in
seinem eifer nicht bemerkt, dass sogar der ungelehrte und un weise Thor
doch mehr klugheit hat , und dass seine gelehrsamkeit beim ersten strahl
des tageslichts unnütz wird und in nichtigkeit vergeht. Noch deutlicher
wird die ironie, wenn man sich erinnert, dass dieser geistige zwerg sich
einer nähern Verbindung mit den grösten himlischen mächten fähig
glaubt. Obgleich die liciti das sujet sind , meine ich also , dass der Islän-
der auch eine andere idee hineingebracht hat, wodurch das lied erst
erträglich wird.
Bei der mehrzahl der götterlieder deuten demnach Charakter und
litterarische Verhältnisse durchaus nicht auf „das ältere und mittlere
eisenalter" in „Südscandinavien," noch auch zunächst auf die wiking-
zeit hin, sondern vielmehr auf ein mehr „litterarisches" Zeitalter, somit
auf Island. — Die litterarische einkleidung (den ramen) abgerechnet,
werden sie im ganzen, obschon nicht unbedingt, als zuverlässige quellen
zur mythologie gelten müssen, stimmen auch (Hym. ausgenommen)
sehr wol mit den erzählungen der Snorra-Edda, und mit den mytholo-
gischen beziehungon in „Skaldenliedern," so dass in der isländi-
schen litteratur nur eiu Stadium der mythenentwicke-
lung vorliegt, nämlich das späteste norröne.
Übrig bleibt die didaktische poesie, d. h. das Hävamäl. —
Obschon dasselbe wieder aus drei liedern besteht, meine ich (wie beim
Hyndluljöd), dass an keine willkürliche zusammenwerfung zu denken ist.
Dieselbe persönlichkeit; dieselbe, nicht hohe, art dichterischer fähigkeit,
Charakter, ton, manier; lebensanschauung ; dieselbe lockere moral; die
in allen drei teilen vorkommenden beziehungen' zur mythe vom dichter-
met (welche übrigens mit Snorres erzählung übereinstimmen, nicht aber
grundlage derselben sind , wozu sie , als blosse fragmentarische andeutun-
gen, unbrauchbar waren); ferner die ebenfalls in allen drei teilen vor-
kommende beziehung zur }wll Hdva: — aUes zusammen beweist mir, dass
1) Grossenteils iraiams: vgl. Thorpc, Cod. Exon. p. VIII — IX.
78 B. JESSEN
alle drei teile von einem Verfasser herrühren, der dieselben, als eine
trilogie, selbst verknüpfte, und zusammen als eine samlung von mal
Hdva wollte betrachtet wissen, übrigens wol Sprichwörter und stellen
aus andern liedern adoptierte, wie denn andrerseits einige von den inter-
polationen (z. b. str. 84 — 86) von andrer band herrühren mögen. Nähere
ausführung ist hier weniger nötig, indem die früher erwähnten beweise
norwegischer herkunft (worauf es hier ankomt), nicht nur im ersten
abschnitt vorkommen (was denn ferner den gemeinsamen Ursprung noch
äusserlicher bestätigt). — Dass das Sigrdrifumäl nachahmung der
beiden letzten abschnitte (also eigentlich nicht den heldenliedern zuzu-
zählen) ist, (was ein zeugnis für das zusammengehören dieser beiden
abschnitte hinzufugt), habe ich früher erwähnt.
Nachträgliche bemerkungen.
1. Den bezeichnungen „älteres, mittleres, jüngeres eisen-
alter" wünscht die redaction eine erörternde bemerkung beigefügt, weil
dieselben in Deutschland unüblich, auch, nebst den verwanten „bronce-
alter" und „steinalter," in ziemlichem miscredit seien. Die jetzige chro-
nologische bestinmiung von selten der dänischen archäologen ^ ist diese :
„älteres dänisches eisenalter" c. 250 — 450 n. Chr.
„mittleres dänisches eisenalter" c. 450 — 700.
„jüngeres dänisches eisenalter" c. 700 — 1030;
so dass also das „jüngere eisenalter " etwa 100 jähre vor der in dem-
selben einbegriflfenen eigentlichen wikingerzeit (d. h. der zeit der
grossen dänischen und norwegischen plünderungs- und eroberungszüge
über die nordsee im 9. — 11. Jahrhundert) angefangen hätte. Vor c. 250
n. Chr. stellen unsere archäologen das dänische „broncealter" von unbe-
stimbarer dauer, und vor dieses natürlich das „steinalter." Über natio-
nale Verhältnisse dieser beiden perioden haben sie es pro tempore auf-
gegeben, irgend etwas bestirnteres zu behaupten, während sie jedenfalls
die herschende bevölkerung im ganzen „eisenalter" für eine germanische
halten. — Ich bitte zu bemerken , dass ich diese benennungen vermeint-
licher Perioden mit hinzugefügten citationszeichen zu verwenden pflege,
indem ich dieselben nicht als die meinigen adoptiere, sondern
sie nur deshalb habe gebrauchen müssen, weil ich mit einer dänischen
theorie zu tun habe, die sich so formuliert hat: „Die Eddalieder (wesent-
lich in der noch vorliegenden gestalt) sind in Dänemark (vielleicht auch
1) Siehe z. b. den 1869 publicierten katalog („Ledetraad'') des Museum for
nordiske Oldsager.
ÜBEB DIB EDDALIEDER 79
in Südschweden) im , älteren und mittieren eisenalter' verfasst;" dem
gegenüber sich meine ansieht so formulieren muste: „unsere Eddalieder
sind auf norrönem boden, zwar zum teil schon im Jüngern eisenalter'
(nämlich in der eigentlichen wikingerzeit) , doch in der vorliegenden
gestalt gröstenteils erst nach dem Jüngern eisenalter/ und zwar meist
auf Island, verfasst; die deutsche heldensage war schon in der wikin-
gerzeit im norden, sogar auf norrönem boden, verbreitet, ob noch frü-
her , ob schon vor dem ausgang des , mittlem eisenalters ,* ^ wissen wir
nicht." Natürlich kann ich die möglichkeit so früher einwanderung die-
ser sage nicht läugnen, indem ich ja eben die möglichkeit so früher
oder noch früherer einwanderung gewisser göttersagen angedeutet habe,
ausserdem an so frühe oder noch frühere einwanderungen deutscher her-
schergeschlechter mit ihren gefolgen zu glauben geneigt wäre, welcher
art einwanderungen natürlich manche deutsche sage sowol, als auch die
runenschrift , hätten mitbringen können.
Ich ergreife diese gelegenheit, um eine berichtigung anzubringen,
die am schicklichsten von einem Dänen vorzubringen ist, deren Veröf-
fentlichung mir aber dennoch in Dänemark schwierig werden würde.
Es haben sich die dänischen archäologen der jetzt herschenden schule
bemüht, und es ist ihnen auch gelungen, nicht nur in Dänemark, son-
dern in Europa die Vorstellung zu verbreiten, dass die periodeneintei-
lung in ein „stein-, ein bronce- und ein eisenalter" eine originale idee
dieser schule, etwas vor dieser schule nicht dagewesenes, eine „ent-
deckung" von selten dieser schule sei. Der verstorbene Thomson habe
zuerst (in Ledetraad til nordisk Oldkyndighed) im jähre 1836 diese idee,
zunächst nur noch als Vermutung, aufgestellt; Worsaae, und nebenbei
andere Kopenhagener archäologen hätten sie dann weiter gesichert und
articuliert.^ Ich bin in der archäologischen litteratur wenig belesen und
kann es nicht unternehmen, die alte natürliche Vorstellung von früherem
gebrauch der steine als der metalle litterarisch zu verfolgen. Ich begnüge
mich damit, die Thomsensche entdeckung in ganz demselben umfange
wie 1836, schon aus dem jähre 1813 zu belegen, nämlich aus der
Udsigt over Nationalhistoriens celdste og mcerkdigste Perioder, T. I,
2. hälfte, wo die ganze theorie s. 73 — 76 zu lesen steht. Dies buch ist
von dem in Dänemark noch allbekanten, aber heutzutage wol nur noch
von dänischen fachmännern der altertumswissenschaft gelesenen, Vedel
1) D. h. zunächst des dänischen „mittleren eisenalters;'* es ist nicht eben die
meinong der archäologen, dass die chronologischen bestimmnngen ganz unverändert
auf Schweden und Norwegen passen müsten.
2) Vgl. z. b. Worsaae Blekingske Mindesmarker 1846 s. 4 note 1 ; und in Aar-
beger f. vutrd. Oldkyndighed 1866 s. 112.
80 E. JESSEN
Simonsen verfasst S. 76 schliesst er seine ansieht in folgende werte
zusammen: „Die waflFen und das hausgerät der ürskandinavier waren
also zuerst von stein und holz ; später lernten sie das kupfer zu bearbei-
ten (. . . sogar dasselbe zu härten^), und, wie es scheint, am spätesten
das eisen. ... Ihre culturgeschichte könte man also, von dieser seite
aus betrachtet, in ein stein-, ein kupfer- und ein eisen -alter einteilen,
obschon diese keinesweges durch so entschiedene grenzen getrent waren,
dass das eine nicht in das andere hineingereicht hätte, und dass nicht
die ärmeren klassen nach einführung der mittleren [gerätschaften] noch
fortgefahren hätten, die ersten zu gebrauchen, so auch die mittleren
nach einführung der letzten, wie solches ja auch in unsern tagen mit
gefiissen aus thon, zinn und porcellan der fall gewesen ist." * Vedel Simon-
sen ist zu loben, weil er die einfache benennung „kupferalter" nicht
mit der affectiert lautenden, und von allgemeinerem Standpunkte aus
unpraktischen „broncealter" vertauschte, obschon es ihm nicht entgan-
gen war, dass das kupfer „gehärtet" war. — Von einer Thomsenschen
„entdeckung" darf also die rede gar nicht sein. Das hauptsächlichste
der weiteren gliederung des Systems ist die aufstellung eines „älteren, mitt-
leren , jüngeren eisenalters." Worsaae hatte früher den anfang des eisen-
alters auf c. 700 „ festgestellt. " Wahrnehmungen (besonders des archi-
vars Herbst) liefen bald dieser annähme zuwider; und dfis blosse aufgeben
einer vollständig aus der luft gegriffenen Jahreszahl ermöglichte zwei (oder
wenn man will drei) neue „entdeckungen," die „entdeckung des älteren
eisenalters," und die „entdeckung des mittleren eisenalters" (somit auch
die eines „jüngeren"). — Natürlich lässt sich die frage nicht abweisen,
ob die Thomsensche „entdeckung" ilire europäische berühmtheit einer
nicht - belesenheit der Kopenhagener archäologen, oder dem Kopenha-
gener kameradenwesen zu verdanken hat. Es lässt sich leider ein nicht-
gelesenhaben früherer archäologischer arbeiten, speciel der Wedel- Simon-
schen, sämtlichen Kopenhagener archäologen nicht zutrauen. Und lei-
der steht der hier besprochene fall nicht vereinzelt.^ Die entdeckungs-
1) ü. h. bronce zu verfertigen.
2) Geijers sohwodischo geschichte (in Lefflers deutscher Übersetzung 18.'52, bd. I
8. lO^O , offenbar die oben ang«*fiihrte stelle excerpierend , sagt dasselbe in 4 Zeilen.
3) Eine derbe ])robe dieser oanieraderie ist die note i) (zum eisenalter) p. 48 im
Icatalog des Kopenbag<»ner niuseums für nordische altertümer , woselbst bei der deutung
der horninschrit't (ek hkw((ijafiti''r holtin(ja*r honui fawido) nicht Bugge citiert ^ird.
sondern ein Däne, und somit einem sowol in Dänemark als in Norwegen öifentlich
gertigten attentate gegen das volle, exclusive eigentumsrecht Hugges (an diese deutung.
somit an die darin enthaltenen lehren , dass eine gewisse rune ein s oder r finale sei,
dass die „thematischen** vocale «, /, u auch in nominativen «'rhalten seien, usw., end-
lich an die einfache Übertragung dieser lehren auf die andern inschriften) in arger weise
ÜBBB DIB BDDALIBDBB 81
manie in Verbindung mit der kameraderie möchte leicht in verfuhrung
geleitet haben. Fast möchte man einen verdacht hegen ^ dass etwaige
gewissensscrupel mit der leichtsinnigen bemerkung seien beschwichtigt
worden, Vedel Simonsen spreche ja von einem „kupferalter," Thomson
von einem „broncealter!"
2. Einige monate, nachdem meine abhandlung an die redaction
gesant war, hielt Worsaae einen (aus zeitungsreferaten bekanten) ver-
trag, der es als möglich oder wahrscheinlich bezeichnete, dass diejenigen
„ bracteaten ," auf denen man einen mann (oder köpf) mit einem vogel,
oder mit einem vierfüssigen tiere, oft mit beiden, sieht, auf die Sig-
fridsage zu beziehen wären, womit nach Worsaaes (in den Zeitungen
referierten) werten die existenz der „Eddalieder" schon im „mittleren
eisenalter" gesichert werden würde. ^ Ich werde auf Worsaaes Vermu-
tung zurückkommen können, falls dieselbe in gedruckter darstellung
erscheinen wird. Hier will ich nur ein par kurze bemerkungen geben,
indem ich daran erinnere, dass ich es nur für unwahrscheinlich, nicht
für völlig unmöglich halte, dass die Nibelungensage schon vor dem aus-
gang des vermeintlich „mittleren eisenalters" nach dem norden hätte
gelangen können. Ich habe die abbildungen der bracteaten im Atlas de
Tarcheologie du Nord* nachgesehen, und meine, mich überzeugt zu
haben, dass dieselben keine solche beziehung ei*weisen, wie es ja über-
haupt unmöglich wäre, in dem manne der bilder eben den Sigfrid nur
mittelst eines vogels, eines pferdes oder eines drachens zu erkennen.*
Specieller ist zu bemerken: 1) Der vogel oder die vögel der bildchen
sitzen nie, wie in der Sigfridsage, auf einem bäume, sondern schweben
über dem manne , oder sitzen auf ihm oder dem (vermeintlichen) pferde ;
Vorschub geleistet wird. — Bugge veröffentlichte seine deutung, mit vorbehält wei-
terer anwendung , 1865 in der Tidsknft for Phüologt og Ptedagogik, Die bewahmng
der (vermeintlichen) „ thematischen *' und anderer im nordischen weggefallenen vocale
hätte übrigens schon Mnnch so ziemlich ebenso gelehrt, nur dass er andere casus
statt der nominative erhielt, welche Bugge mittelst des 8 (oder r) finale erhält. Es
versteht sich von selbst, dass die ganz einfache, mechanische Übertragung dieses
finalen buchstaben auf andere inschriften (z. b. Tune, Tanum, Wamum, Berga usw.)
Bugges eigentunh ist (vgl. meine note in Äarhöger for nordisk Oldkyndighed og
Historie y 1867, p. 275).
1) E. Maurers jüngster (meiner ansieht so günstiger) beitrag zu dieser Zeit-
schrift accentuiert solcherweise die sonderung der frage nach dem alter der vorlie-
genden lieder von derjenigen nach dem alter der sage im norden, dass nunmehr
sogar dänische gelehrte diese beiden fragen schwerlich öfter identificieren werden.
2) Die mit inschriften sind auch im Stephensschen runenwerke abgebildet
3) Die isländische, im Eopenhagener museum bewahrte abbildung Theodorichs
stellt diesen zu pferde dar , von einem vogel begleitet , und einen drachcn erlegend,
CB1T80HR. F. DBUT8CHB PHILOLOOIB. BD. III. 6
82 B. JESSEN
2) nirgends durchbohrt ein mann einen „wurm" (ormr) von unten, wogegen
auf vielen bracteaten ein unbewaffneter mann ein vierfüssiges tier vor sich
hat, das er abzurichten scheint, wobei er oft demselben oder einem vogel
ein Signal durch emporhalten der band gibt, auf einem bildchen (no. 65)
auch zugleich den daumen in den mund zu stecken scheint ^ welches
letztere auf die erzählung vom braten des herzens des wurmes zu bezie-
hen das bild selbst verbietet; 3) wo ein mann oder manneskopf auf
einem vierfassigen tiere abgebildet wird, kann dies tier gewöhnlich
nicht einmal ein pferd sein, wegen der hörner, oder des hartes, oder
der schlangenförmigen zunge, oder der gespaltenen fasse;* 4) wo wir
einen kämpf mit einem vierfassigen tiere sehen (no. 73), also doch am
ehesten etwas specieller zutreffendes zu suchen hätten, passt die darstel-
lung durchaus nicht zu unserer sage , geschweige denn wo der kampfende
es mit zwei tieren zu tun hat (no. 87). — Ich bin an die voreiligen
entdeckungen Worsaaes so gewöhnt, dass ich mich kaum zu bedenken
hätte, schon jetzt die beziehung auf den Sigfrid für gänzlich aus der
lufk gegriffen zu erklären; indessen ^ ich könte ja später diese erklärung
modificieren, falls tatsachen, die ich nicht bemerkt hätte, aufgewiesen
würden. — Am ehesten könte ich es noch begreifen, falls man in
no. 69 — 72 des Atlas beziehungen auf die Wielandsage vermuten wollte.
Aber sogar dies fö,llt bei genauerer besichtigung zusammen. — Dass
die bracteaten nicht auch dem „jüngeren eisenalter ^' angehören, wird
man nicht beweisen können. Und somit käme es bei den einzelnen
bracteaten darauf an, (nicht nur den entstehungsort, sondern auch) das
alter speciel zu bestimmen, eine oft ganz unlösbare aufgäbe.
3. Zu s. 16. Nach J. Fritzner wäre der name Brede, als
neutral , daselbst zu streichen. Pritzner bemerkt in einem neulich erschie-
nenen aufsatze, welcher im zweiten heft des ersten Jahrganges der nor-
wegischen historischen Zeitschrift s. 179 — 86 gedruckt ist:*
a) dass dieser name, Brede, im östlichen Norwegen gebräuchlich
sei. — Hiebei wäre indessen noch zu erinnern, dass, felis die daselbst
übliche form wirklich genau Brede ist, solches den namen wol eben als
einen eingeführten charakterisieren würde, indem die lautverhältnisse
1) Das tier mit gespaltenen fassen ist auch auf schwedischen runonsteinen nicht
unhäufig ; die no. 78 in Dybccks (jüngerem) runcnwerke (I) erweist schlagend , dass
es kein pferd ist, indem daselbst ein pferd nebenbei dargestellt ist Wahrscheinlich
haben wir an ein imaginäres tier zu denken; nicht aber an das pferd Odins, wie
man gelegentlich vermutet hat ; denn dies dachte man sich als ein achtbeiniges (siehe
das bild in Stephens runenwerk p. 224?)
2) „Bevise Navnetxe % de nordiske FöZsttnj/eWflw/n, at disse ere laante flra Tyd-
ÜBBB DU EDDALIKDBB 88
jetziger norwegischer dialecte entweder ein Br^e (Brte'e) oder ein Bride
erwarten liessen.
Sonst enthält Fritzners aufsatz nichts, das irgend welche modifi-
cation meiner bezüglichen bemerkungen veranlassen könte. Fritzners
bemerkungen zu gunsten nordischen Charakters der sage sind nämlich
ferner folgende:
b) der name Sigge sei in Schweden üblich gewesen. — Eben
deswegen habe ich ihn oben, als einen gewissermassen neutralen, weg-
gelassen, obschon doch zu bemerken bleibt, dass er auf norrönem gebiet
nicht üblich war , wie ihn Fritzner denn auch da nur zwei mal aufgefun-
den hat, das eine mal in einer Urkunde (anno 1348) aus Jamtaland
(welches übrigens in kirchlicher beziehung, und in ^BMtaMrii^ einer periode
auch in weltUcher , unter Schweden gehörte) , das andere mal im namen
eines hofes in Norwegen: Siggagarär.
c) Völsungr sei keine unnordische wortform. — Versteht sich;
ist wol auch von niemand behauptet worden. Gewöhnlich wurden ja
fremde germanische namen in der isländischen litteratur eben in die cor-
recte norröne form umgesetzt.
d) Sinfjötli komme einmal in einer Urkunde des mittelalters als
name eines Norwegers vor. — Es stellt sich dies ähnlicher weise wie
das einzelne male vorkommende aber dennoch als unüblich zu bezeich-
nende Sigfröär (nachahmung des deutschen namens Sigfrid).
e) Sigurdr sei keine unnordische form. — Versteht sich. Pritz-
ner hat nicht bemerkt, dass das linguistische indicium hier eben in der
divergenz der beiden namen Sigurdr und Sigfrid liegt (vgl. oben s. 17).
f) Gjükasteinn konmie als name eines hofes in Norwegen vor
(jetzt Ojösteen). — Da die form des namens Ojüki nicht unnordisch
ist, würde dieser name in der vorliegenden frage nur dann nicht neutral
bleiben, wenn er entweder in Deutschland (in der form Oibich) oder im
norden üblich gewesen wäre. Meines Wissens war er sowol im norden
als in Deutschland unüblich. ^ Das blosse Gjükasteinn, eben wie Oibi-
chenstein, beweist nur bekantschaft mit der sage^ ein Verhältnis, das
keiner beweise bedarf, da wir ja eben die Eddalieder als hinlänglichen
beweis vor uns haben.
g) Erpr sei keine unbedingt unnordische form, sondern im ver-
gleich mit ^'orpr nur ein wenig aufifällig; komme auch ein par mal als
mannsname vor. — Dies verhält sich so ; weshalb ich auch die form Erpr
1) Förstemann, altdeutsches namenbuch (Kordhausen 1856) 1, 450 gibt fast
ein dutzend belege für das vorkomroen des eigennamens Gibico bis zum 10. Jahr-
hundert. Red.
6*
84 B. JESSEN^ ÜBEB DIE EDDALIEDER
oben nur als eine verdächtige, nicht als eine entscheidende bezeich-
net habe.
h) Jönakr könne wol trotz der unerhörten endung -akr eine nor-
dische form sein. — Ich kann dies nicht einräumen, und betrachte das
Jönakr, sowol wegen des -akr als wegen des Jon-, als eine unnordi-
sche form.
i) Der name eines hofes in Norwegen, Nevlungen, beweise viel-
leicht Verbreitung der sage, indem die ältere form Niflungar werde
gewesen sein, und dieses erst name einiger „scheren" (klippen) im
meere, hernach auch des ihnen gegenüber aufgeführten hofes sei. — Das
klingt sehr plausibel, würde aber nur Verbreitung der sage, nichts über
deren ursprüngliche heimat beweisen.
j) Im namen eines hofes in Norwegen, Hünaborg, „könne mau
spur des einflusses der Nibelungensagen zu finden glauben.". ~ Die
bescheidene und hypothetische form dieser bemerkung ist zu loben, indem
der name auch nur Bärenburg bedeuten könte, und überhaupt die vie-
len germanischen Ortsnamen mit Hün-, Haun-j Hün- usw., nicht spe-
ciel auf die Nibelungensage zu beziehen sind, dieses Hünaborg eben so
wenig wie die isländischen meeresbuchten Hünaflöi und Hünafjörär,
oder wie das dänische kirchspiel Hunesogn, die dänischen dorfnamen
Hunehy, Hundorp, die deutschen Haundorf, Haunstadt, Haunstetten,
Hünfeld, Himenherg usw. Nicht einmal zu erwähnen, dass ein name
wie Hünahorg uns nichts über die erste heimat der sage lehren könte. ^
Fritzner meint ausserdem in dem norwegischen Ortsnamen Roä-
marsstaäir verglichen mit dem Hroämarr der Helgakviää HjörvaräS'
sonar ein indicium der norrönen heimat der Nibelungensagen gefunden
zu haben. Bei den übrigen in dieser bemerkung implicierten fehlschlüs-
sen brauche ich aber nicht zu verweilen, da dieses lied ja gar nicht zu
den Nibelungenliedern gehört, sondern eine norröne sage behandelt.
KOPENHAGEN. E. JESSEN.
1) Eine ansprechende etymologie nnd erklärung von hün und den damit zusam-
mengesetzten namen gibt G e r 1 a n d in Kuhns Zeitschrift ftlr vergleichende Sprachfor-
schung 10, 275 fgg. Red.
85
DIE NITHARDHANDSCHRIFT UND DIE EIDE VON
STRASSBUßG.
Seit längerer zeit schon spürte ich der vielberufeuen einzigen Nit-
hardhandschrift nach, die, abgesehen von ihrem historischen werte, für
mich ganz besonders interessant war wegen der berühmten eidschwüre vom
jähre 842, dieser ältesten denkmäler der deutschen mid französischen
spräche, welche keiner der deutschen gelehrten, die darüber geschrieben,
im original zu gesiebte bekommen hat und auch von französischer seite
seit fünfzig jähren , so viel ich weiss , nur ChevaUet. Die abweichungen
der facsimiles , die nur auf ungenauigkeiten der widergebung beruhen kon-
ten, so wie einzelne schwierigere stellen Hessen eine nachvergleichung
immerhin noch als wünschenswert erscheinen. Trotz der einschlägigen
äusserungen bei Pertz^ und Chevallet* war es mir durch die mitteilung
eines französischen gelehrten, (der mir, nicht ohne einige geheimnis-
tuerei, den codex bei günstiger gelegenheit einmal auf der bibliothek zu
zeigen versprochen), voUkonmien bekant, dass diese wertvolle handschrift
per fas et nefas noch immer in der Pariser kaiserlichen bibliothek auf-
1) Mon. SS. II» 650 „Sed enm (Frebeniin) nonnunqnam fefellisse, ectypon a
V. Cl. Roquefort in glossario lingnae Bomanicae public! juris factum atque a nobis
repetitum et collatio codicis nobiscum communicata evidentissime ostendunt. Siqui-
dem codex saeculo XYII. bibliotbecae Palatinae Yaticanae sub numero 1964 inlatus
bello ultimo Parisios rediit ibique a Cl. Roquefort evolutus et ab alio viro docto
cuius nomen ignoro rei tamen diplomaticae peritissimo cum editione Bouquetiana
dUigentissime collatus est. Mox Italio/e redditus Romcie lotet, nee, vel maxitna cu/ra
nostra adhibita üerum emersit. Sed quo plurimum gratulandum nobis censemus,
collationem istam, in qua nihil desiderari posse videtur flagitantibus nobis summa
cum benivolentia transmisit V. Ol. Gu^rard bibl. reg. adscriptus etc." Was übri-
gens Freher anlangt, so ist zu seiner entschuldigung anzuführen, dass er die hand-
schrift ebensowenig gesehen, wie irgend ein anderer deutscher gelehrter, trotz Mass-
manns ausdrücklicher behauptung des gegenteils {Äbschwörungsformeln , p. 57, anm.
49). In dem seiner abhandlung Yorangehenden dedicationsschreiben an den bekanten
Bongars (den samler der wertvoUen mss. , die heute die zierde der Bemer stadtbi-
bliothek ausmachen), dankt er jenem ausdrücklich dafür, dass er den damals in Peta-
vius besitz befindlichen Nithard für ihn collationiert. (Siehe Dom Bouquet, VU, 35).
2) A. de Chevallet, origme et formation de la langtie frangaüe 1 (1853) p. 83:
„J'ai fait faire avec grand soin 11 y a plusieurs annees un fac-simile des serments
apres un ms. de Nithard provenant de la biblioth^que du Vatican et depos^ a la
bibliotheque nationale. C'est un Yolume en velin petit in-folio a deux colonnes
d'une belle Venture du IX* si^le ou du commencement du X* il est cot^ Vat.
no. 1964. Deptiis lors ce ms. est retowme ä Borne et doit avoir ^ rHntigre dans
la bibliotfUgit*e du Vontican."
86 BBAKELMAKM
bewahrt werde und dass Frankreich den widerholten reclamationen der
päpstlichen regierung, welche ihren kostbaren palatinus 1964 gern wider-
gehabt hätte, andauernd nur ein taubes ohr geliehen. Die art aber,
wie man Pertz zu mystificieren gesucht^ und die ausdrücke, in denen
noch Chevallet (1853) von der handschrift spricht (anm. 2), schreckten
mich ab, einen directen versuch bei den bibliotheksbeamten zu machen,
zumal ich weder in den geschriebenen noch in den gedruckten catalogen,
die damals in der abteilung für handschiiften zugänglich waren ^ den
codex nachgewiesen -fand. Es überraschte mich daher einigermassen,
als im September dieses jahres mein freund dr. Wilhelm Arndt , der sich
gerade mit der geschichte der Karolinger beschäftigte und mit dem ich
von der handschrift sprach, behauptete, dieselbe in einem der in der
hiUiotheque de Vicde des chartes von Leopold Delisle veröffentlichten
cataloge des Fonds lafin verzeichnet gesehen zu haben. Sofortige nach-
suchungen in dem betreffenden catalog, der erst seit km-zem im manu-
scriptensaale aufgestellt war, ergaben kein resultat und ich glaubte an
einen irtum oder an eine Verwechselung mit der auch im handschriftlichen
cataloge des Supplement latin (Catalogue des mss. latins du nouveau
fonds du Roi, Auteurs, II) verzeichneten, früher dem kloster Sfc Victor
zugehörigen abschrift aus dem fünfzehnten Jahrhundert, worin die schwüre
ausgelassen.^ Nach einiger zeit gelang es dr. Arndt jedoch, die betref-
fende erwähnung in Delisles Inventaire des mss. conservis ä la hiUio-
theque imperiale sous les n"" 8823 — 11503 du fonds laiin 1863, p. 49
vdderzufinden. In der tat , da stand der Nithard verzeichnet , nur ganz
kurz in einer zeile (9767. Hist. de Nithard. IX. s.), ohne anführung des
in derselben handschrift befindlichen Flodoard, wie versteckt unter längeren
titeln, und war mir deshalb früher bei flüchtiger durchsieht des betreffenden
catalogs, in welchem ich überdies ein manuscript nicht suchte, welches
die bibliothekverwaltung so lange sorgfältig verheimlicht, völlig entgan-
gen. Ob die gründe, welche die französische regierung resp. die biblio-
theksverwaltung zu solcher Verheimlichung veranlassten, heute nicht mehr
obwalten, weiss ich nicht; vielleicht verdankt sie den unbestrittenen
besitz des Schatzes der dankbarkeit des papstes für den wirksamen bei-
stand, welchen Frankreich ihm in der behauptung seines territoriums
geleistet — genug, der codex, wenn auch in den schränken der reserve
1) Pertz hat dies ohne zweifei wol gemerkt, wenn er es auch, ans rücksioht
auf die bibliothekverwaltung, in seinen oben angeführten Worten nicht zwischen den
Zeilen lesen Hess. Die frisch geschriebene collation Gnerards, die ihm dieser (wie
dr. Arndt mir mitteilt) als längst von einem ungenanten gemacht, stückweise über-
lieferte, hat den erfahrenen gelehrten wol kaum täuschen können.
2) Früher St. Victor 287, jetzt Fonds latin 14663. Siehe unten s. 89.
DIE STRASaBUBOER EIDE 87
sorgföltig verschlossen, wurde auf verlangen unweigerlich hervorgeholt
und zur benutzung gegeben. Dr. Arndt, welcher die handschrift zum
behufe einer neuen ausgäbe nochmals zu vergleichen beabsichtigte, schaffte
die Pertzsche ausgäbe und das facsimile in den scriptores herbei, ich
besorgte, für die schwüre, Roquefort, Raynouard, Diez, Chevallet, Mül-
lenhoff und was sonst von litteratur erforderlich, und wir begannen eine
neuvergleichung, deren resultate ich im nachfolgenden gebe.
Diese resultate sind an und iur sich nicht sehr bedeutend und neh-
men ihren wert nur aus der Wichtigkeit der denkmäler , um deren Wort-
laut es sich hier handelt Immerhin aber sind sie noch beträchtlich
genug, wenn man bedenkt, dass vier facsimiles (Roquefort, de Mourcin,
Pertz , Chevallet) dieser texte in die Öffentlichkeit gekonmien sind. Dass
überhaupt diese palaeographischen nachtrage möglich sind, erklärt sich
zum teil aus der ungenauigkeit der facsimiles, zum grösseren teile daraus,
dass keiner, der die schwüre veröffentlicht und erklärt hat, in der läge
gewesen ist oder sich die mühe gegeben hat, die Schreibweise und
namentlich die corrigierweise des copisten im zusammenhange, sowol im
übrigen texte des Nithard als im Flodoard (der von demselben Schreiber
herrührt) zu studieren. Nicht einmal letzteren umstand hat man gekaut
oder beachtet , sonst hätte man wol kaum den codex noch in das 9. Jahr-
hundert setzen können, da Flodoard erst 894 geboren ist.
Ich schicke eine genaue beschreibung der handschrift voraus, da
eine solche nirgends existiert und auch Pertz eine solche zu geben nicht
im stände war, da er nur die coUation von Guörard zu gesiebte bekam.
Ms. des Fonds latin 9768 (früher Suppl latin 623).
Die handschrift umfasst 46 blätter pergament in quart, nämlich
sechs quatemionen, von denen die dritte durch fehlen zweier blätter
nach fol. 18 unvollständig. Da beide in der handschrift enthaltene werke
vollständig sind, so scheinen die beiden fehlenden blätter vor der
benutzung ausgeschnitten; in der nat stehen noch schmale pergament-
streifen über, so dass die correspondierenden blätter im heft vollstän-
dig fest sitzen. Vom blatt 18 selbst ist nur ein kleines stück erhalten;
nach Vollendung der handschrift scheint das hier am ende des Nithard
freigebliebene pergament weggeschnitten zu sein, um anderweitig ver-
want zu werden. Jede seite hat zwei columnen zu 33 zeilen, die mit
dem griffel vorgezeichnet , beziehungsweise eingeritzt sind, wie das bis zum
ende des 12. Jahrhunderts die regel war. Der einband ist ein schweins-
lederband des 17. oder 18. Jahrhunderts, er stamt aus der zeit, da die
handschrift dem vatican angehörte und trägt die Ordnungsnummer (1964)
88 BBAKWT.MANW
dieser bibliothek in gold gepresst auf dem rücken , wie andere handschrif-
ten der kaiserlichen bibliothek , die früher dem vatican angehörten , z. b.
die proven9alischen Chansonniers F. fr. 12473 und 12474, welche die
vaticannummern 3204 und 3794 noch auf dem rücken tragen. Von
einem noch früheren besitzer des Nithard zeugt der name Pdavius auf
dem unteren rande des fol. 1' und oben rechts von derselben band:
Q 50, welches die ordnungsnuramer in Petavius bibliothek zu sein scheint.
Aus seiner zeit und wol auch von ihm ist die foliierung der handschrift
in arabischen Ziffern, sowie eine anzahl randglossen und die ausfallung
einer lücke (bei der teilung unter Karl und Ludwig im jähre 843). Aus
ziemlich neuer zeit endlich stammen die Stempel der Pariser kaiserlichen
bibliothek auf dem r° des ersten und dem v" des letzten blattes. Merk-
würdiger weise ist der Stempel der ersten republik ^ über den Stempel
gedruckt, der nach Leopold Delisles Versicherung nur unter der restau-
ration angewendet wurde,* letzterer scheint sogar auf dem v** des letz-
ten blattes absichtlich verwischt.
Was den inhalt der handschrift anlangt, so reichen die annalen des
Nithard von fol. 1' — 18'; fol. 18"" ist leer, (von dem ganzen blatt ist,
wie schon angeführt, nur ein fragment übrig, da alles . unbeschriebene
weggeschnitten) ebenso fol. 19'; auf fol. 19"^ folgen, von demselben Schrei-
ber geschrieben, die annalen des Rheimser domherrn und kirchenarchi-
vars Flodoard, das hauptwerk dieses nachfolgers des Hincmar, welche
von 919 — 966 reichen. Auch die Zusätze eines unbekanten Verfassers
über die jähre 976 — 978 sind von demselben Schreiber nachgetragen,
ein beweis, dass die handschrift auf keinen fall über das ende des
10. Jahrhunderts zurückreicht. Es kann also keine rede davon sein, die
handschrift „frühestens an das ende des 9. Jahrhunderts zu setzen," was
Diez {Altr. sprachd. p. 3) Pertz (SS. 11, 650 „quamvis ex specimine
scripturae saeculo nono decimove tribuamus) und andere für möglicli
hielten, natürlich ohne zu wissen, dass der Flodoard in derselben hand-
schrift steht und von demselben schreiber herrührt Die handschrift
gehört sicherlich frühestens dem ende des 10., möglicherweise gar erst
dem anfang des 11. Jahrhunderts an, da auch die annalen des Flodoard
nicht das original, sondern nur eine ziemlich fehlerhafte abschrift sind.
1) B. und F. (B^publique fran9aise) monogrammatiBch verschlungen, mit der
Umschrift Btbliotheque nationale; die zweite republik hatte dieselbe Umschrift, nur
Bi und F. in lateinischen majuskeln getrent nebeneinander.
2) Drei lilien in ovalem felde , von der kröne überragt und mit der Umschrift
Bibliothique roytüe, fast derselbe Stempel, nur mit kreisrundem felde, scheint am
ende des ancien rigime im gebrauch gewesen; ihn tragen alle handschriften des
Fonds Cangi,
DIB STaASSBUBGXa EIDE 89
Wie der Flodoard, so ist auch der Nithard ziemlich fehlerhaft
geschrieben. Der Schreiber hat sich oft selbst corrigiert; doch ist auch
die band eines gleichzeitigen correctors zu unterscheiden, der nament-
lich SS. n. 663, 32 das „in basilicam ubi nunc quiescunt" mit verwei-
sungszeichen am unteren rande nachgetragen hat. An derselben stelle hat
eine dritte band die heiligennamen bis ^.Botomagorum archiepiscopi"
am rande rechts nachgetragen. — Der rubricator, für den der räum
zu initialen und Überschriften freigelassen ist , scheint sein werk gar nicht
einmal begonnen zu haben , wenn nicht etwa die grüne färbe , mit welcher
anfangsbuchstaben bei absätzen und satzanfängen auf den beiden ersten
Seiten ziemlich grob bemalt sind, für einen begin gelten soll. — Die
älteren und neueren besitzer des Nithard sind mit dem schätze nicht
allzu sorgsam verfahren, wie eine anzahl dintenflecke, zum teU nicht
ohne schaden des textes, bezeugen.
Die zweite Nithardhandschrift , ebenfalls in der kaiserlichen biblio-
thek (Fonds latin 14663, früher St. Victor 287) ist eine abschrift der
eben beschriebenen, die im 15. Jahrhundert genonmien worden ist, und
hat mithin keinen selbständigen wert Es ist eine papierhandschrift, im
kloster St. Victor aus allerlei mss. desselben klosters und anderer sam-
lungen zusanmiengeschrieben. Ich nenne unter den etwa dreissig bis
vierzig werken , die sie enthält , nur ,^ndulphi de Columpna tractatus
de statu Romani imperii/' eine Chronique de Normandie (1087 — 1239)
und eine merkwürdige lateinische anecdote über den Ursprung des könig-
reichs Tvetot.^ Nithard und Flodoard beschliessen die handschrift, der
Schreiber hat sie (nach einer bemerkung am ende des Nithard) für öin
werk genommen. Wir erfahren dabei gleichzeitig, dass das original
damals der abtei St Magloire gehörte. Die abschrift hat weder buch-
überschriften noch capitelabteüungen ; für die eide ist die hälfte von
fol. 286' freigelassen, auch hat der Schreiber die von dritter band nach-
getragenen heiligennamen (SS. II. 663, u. ob.) unberücksichtigt gelassen,
während er die einschaltung zweiter band in basilicam — quiesctmt in
den text au&ahm.
Dom Bouquet hat die abschrift far seine ausgäbe benutzt , in erman-
gelung des Originals, das damals schon im vatican war (recueil des
historiens, VII, 11).
1) Ein vollständiges inhaksverzeichnis findet sich bei Leopold Delisle: Ifwen-
taire des manuscrita de Vobbaye de Saint -Victor conservis ä la btblioMque impi'
riale sotis lea numiros 14232—15175 du fonds Icttin, Paris, Durand et Pedone
Lanriel, 1869, p. 37.
90 BBAKELMANN
Die facsimiles.
Facsimiles der eide finden sich
1) bei Boquefort, Glossaire de la langue romane I, XX.
2) De Mourcin, Serments pretös ä Strasbourg. Par. 1815. XIV.
3) Pertz, SS. ü. 777.
4) De Chevallet, origine et formation de la langte frangaise I, 83.
Die facsimiles bei De Mourcin und Pertz stammen aus Roquefort, das
Ghevallets, welches nur die romanischen eide umfasst, ist selbständig,
aber wenig sorgfältig ausgeführt. De Mourcins facsimile ist das beste,
weil er das ungenaue specimen bei Roquefort nach neuvergleichung der
handschrift berichtigt.
Es war mir aufgefallen, dass das facsimile bei Pertz zu dem bei
Roquefort gar nicht stimte und vielfach ein falsches zeichen, einen fal-
schen buchstaben gab, wo jener das richtige hatte. Namentlich steht
bei Pertz in damno fit (st. sit) und darnach, ebenso schwarz, wie von
alter band , ein strich , der im original aus Petavius zeit herrührt und in
Boqueforts facsimile nicht reproduciert ist, ebensowenig wie da fi;t steht;
femer liest Pertz deutlich sie hex bei R. richtig sie hec; weiter bei Pertz
geganga, bei R. richtig gegango; tärorumque populus quiq* bei Pertz,
qui; richtig bei R.; und noch andere kleinigkeiten , wie sorbrihchit far
forbrihchit u. a. m. Nicht am wenigsten war dabei unklar , woher Pertz
den strich hatte, der bei Roquefort sich nicht fand, wol aber im origi-
nal, das der herausgeber der monumenta doch nicht gesehen. Es lag
nahe, anzunehmen, dass Gußrard, der die an Pertz überlieferte, „von
einem unbekanten aber sehr geschickten paläographen'^ genonmiene col-
lation natürlich auch selbst gemacht hatte, auch die Roquefortsche col-
lation in seiner weise neuverglichen und verbösert Ich bemerkte jedoch
bald, dass De Mourcin in seiner abhandlung verschiedene ungenauigkei-
ten in dem facsimile Roqueforts rügte (z. b. p. 39. 71. 81 u. a. a. o.),
die ich nur in dem der Scriptores bemerkte. Von den anmerkungen
Massmanns {Ahsehwikungsforrndn 180 — 182, anm. 3. 6. 7. 9. 10) zu
Roqueforts facsimile lässt sich dasselbe sagen , sie finden nur auf das fac-
simile bei Pertz auwendung. Es scheint mir daraus zur evidenz hervor-
zugehen , dass in einer anzahl von exemplaren des Glossaire de la langt^e
roniane, namentlich in den beiden der Pariser kaiserlichen bibliothek,
welche ich verglichen habe, das ältere höchst fehlerhafte facsimUe, auf
welches sich De Mourcin und Massmann beziehen und welches Pertz in
den Scriptores reproduciert hat, herausgenonmien und durch ein correc-
teres (vielleicht nach Mourcins berichtigter tafel) ersetzt worden ist
Leider aber basieren sämtliche deutsche bearbeitungen der schwüre auf
DIE 8TBA8ABUROBB EIDE 91
dem facsimile bei Pertz, beziehungsweise auf dem fehlerhaften speci-
men bei Roquefort.
Ich gehe jetzt zu den paläographischen nachtragen und berichti-
gungen über.
Der schwur Ludwigs des Deutschen.
en avant Diez bemerkt hierzu: (AUr, sprachd, 7) „Pertz emen-
diert ohne not in avatU/'
in avant, welches auch Massmann {Ahschwörungsformdn p. 58
anm. 50) als falsch bei Pertz rügt , ist nicht emendation desselben , son-
dern correctur erster band im ms., wie das auch auf sämtlichen facsi-
miles deutlich zu sehen ist Das lang durchgiezogene i , ähnlich einem j,
komt auch sonst in der handschrift häufig vor, z. b. fol. 35" b: sciljcd,
fol. 35'' a : vjsi — regelmässig aber ist es , wenn ein vocal in i verändert
wird; es wird dann direct auf den vocal geschrieben und, zum zeichen
der correctur, lang durchgezogen. So ist olsidebus fol. 32' a zeile 19
v. 0. in absidibus corrigiert; fol. 32' b stand: rdicto Remis Hugone dia-
cono Heriherto ßio , es ist in der angegebenen weise Heriberti corrigiert.
Fol. 45''b, z. 15 V. 0. stand: QuiqtteSemis ordinatur ah episcopos, durch
daraufgeschriebenes langgezogenes i ist episcopis corrigiert. Der mis-
laut, woran sich Diez stösst, muss also wol zugelassen werden und die
sprachliche consequenz des denkmals , in dem in nun sieben mal gebraucht
ist, ist nur um so grösser.*
salvarai eo salvara^eio bei Pertz ist druckfehler, oder fehler in
Gu^rards collation. Der codex bietet also diese Schreibung , die übrigens
nach den bei Diez (p. 8) angeführten beispielen zu rechtfertigen wäre,
wirklich nicht, seine lesart wird übrigens auch von sämtlichen facsimiles
getreu reproduciert.
ei in adiudha Das erste d ist im ms. durch daruntergesetzten
punkt deutlich expungiert, was alle facsimiles und herausgeber vernach-
lässigt haben. Der Schreiber expungiert zuweilen mit zwei punkten,
einem oberhalb und einem unterhalb des zu tilgenden buchstabens, wie
geUu (Pertz separatabdr. d. Nith. p. 40) und ad (ibid. p. 51) — mit
einem punkt, wenn die correctur darüber geschrieben wird, wie gra-
tenter fol. 3'a; indulxü fol. 4'b; sacramentam fol. 12^b; aber auch wenn
dies nicht der fall, ist die expunction mit nur einem darunter gesetzten
punkte häufig, z. b. SteUingua fol. 15' a (Pertz separatabdr. p. 46). Ganz
in derselben weise ist auch eidem etwas weiter unten expungiert, wo die
1) Bnrgay {grammaire de la langue (Totl I, 19) hat übrigens das facsimile
richtig gelesen, ebenso Müllenboff (Denkmäler p. 479).
92 BRAKELMANN
Schreibung Steilinga ausserdem die richtigkeit der ersten correctur belegt.
Es heisst da fol. 15'b: „Igitur metuens Lodhuvicus ne eidem Nortmanni
necnon et Sdavi propter affinitatem Saxonibus qui se Stellinga nomi-
naverant etc. Auch fol. 18' ist inteperiaes ebenso corrigiert. In dersel-
ben weise , wie die richtigkeit der correctur Stellinga in der oben ange-
führten belegstelle , wird die richtigkeit der correctur aiudha in unserem
denkmale dui'ch das später wider vorkommende aiudha belegt; es ist
also falsch, umgekehii in diesem zweiten falle das in der ersten stelle
corrigierte erste d (oditMlha) widerherzustellen, wie einige herausgeber
getan haben.
Für den vocalischen oder consonantischen Charakter des i (vgl. die
bemerkung von Diez, Spra^ihd. 8) in aiudha, aiue ist übrigens eine
laisse aus dem Oxforder Alexander (Bodleian libr. 264 f. 128') besonders
interessant, die ich bei Michel, Chronique des dues de Normandie II,
516 mitgeteilt finde. Die Wörter aiue und liue stehen daselbst mit
hastive pensive trive in assonanz. Äius oder ajiie findet sich übrigens
noch in der burgundischen Übersetzung der predigten des heiligen Bern-
hard (Fonds fran9ais 24768 fol. 1'),^ die wol kaum älter als das letzte
drittel des 12. Jahrhunderts, während das ms. aus dem anfange des 13.
salvar dist Burguy meint, dass hier ebensogut dift gelesen wer-
den kann (Grammaire I, 20). Trotz genauester besichtigung der hand-
schrift und vergleichung sonstiger st kann ich mich davon nicht über-
zeugen; es steht da dist. Ob f und t in der selten vorkommenden Ver-
bindung fl verbunden werden, wie s und ^, steht zu bezweifeln. Die
Schwierigkeit debet: dist bleibt freilich bestehen; ob sie durch die lesung
dift gehoben wäre?
alzresi in Pertz facsimile ist fehlerhaft widergegeben, es steht t
da, ebensogut wie zwei zeilen weiter
Sit statt fit und in den lateinischen einleitungs werten zum schwüre
Karls hec und nicht hex steht.
Schwur Karls des Kahlen.
scal in thiu Nach MüllenhofT (Denkm. p. 479) soll im ms. iu
stehen; das n ist deutlich.
so sama Grimm (SS. U. 666, anm. 49) vermutet, dass vielleicht
auch in der handschrifb sama zu lesen ist, wenn man genau sieht. Es
steht deutlich soso I ma.
1) Die stelle ist gedruckt bei Leroux de Lincy, Lee qacUre livrea des rois
p. 521) der ajt^e schreibt, wie Michel im Charlemagne und die herausgeber des Roland.
DIB 8TBA88BUBOBB BIDB 93
indi mit Ludheren Nach Müllenhoff , 479 soll hier die handschrift
luohcren haben ; in der handschrift ist von einem o nichts zu sehen und
diese lesart verdankt wol der bemerkung Grimms: (SS. II. 666, zeile 45
der anm., 2. col.) „vielleicht ist luoheren ludheren mit oben erbliche-
nem oder übersehenem strich" ihren Ursprung.
ne gegangu Grimm sagt (SS. U. 666, 1. col. d. anm. z. öl):
„Das voranstehende geganga ist allzu deutlich, als dass man gegangu
lesen k5nte, wie die grammatik fordert, möglich, dass der Schreiber in
dem ihm vorliegenden text u far a nahm und a setzte." Auch Müllen-
hoff und die anderen herausgeber notieren nach dem an dieser stelle
geradezu gefälschten Boquefortschen facsimile resp. der Pertzscheu repro-
duction geganga als lesart des codex , während da deutlich gegango steht,
wie De Mourcin schon 1815 erkante. Derselbe gelehrte gibt in seiner
schon mehrfach citierten, sehr sorgfilltigen arbeit folgende aufklärung
über die entstehungsgeschichte der Koquefortschen lesart (p. 71): „Selon
le facsimile de M. de Roquefort on auroit nege ganga. Cette fatäe pro-
ment de ce que la derniere lettre de gegango etant couverte dienere et
entierement illisihle, M. de Roquefort a cru devoir y suppleer un a«
L'o etoit preferalle. Au surplus la ta^he etoit recente; je Vai legerement
frottee avec le bout du doigt et un peu de salive; Vo s^est alors parfai-
tement decouvert, " — De Mourcin hat ,den dintenfleck so gründlich
abgerieben, dass heute kaum noch spuren davon sichtbar sind; das o ist
ganz deutlich. Als curiosum notiere ich, dass Marquard Freher, der
auch (nach ßongars coUation) gegango liest, hier gefango bessern möchte.
the minan Auch die handschrift hat the, nicht ehe; wenn die
untere ecke des t nicht so rund geworden wie gewöhnlich, (so spitz wie.
im facsimile ist sie jedoch im codex nicht) so rührt das offenbar (nach
dr. Arndts scharfsinniger bemerkung) daher, dass die feder sich an der
besonders stark vorgerissenen linie gestossen. Es ist daher durchaus
nicht notwendig, das t graphisch füi* ein z zu nehmen und ein verse-
hen des Schreibers anzunehmen (vgl. Grimm SS. II. 666, anm. col. 1
z. 49 — 51).
Schwur der romanischen Völker.
quique in den lateinischen einleitungsworten ist bei Roquefort -
Pertz schlecht widergegeben (quiq* statt quiq;).
que son fradre druckt Diez ohne bemerkung, während die hand-
schrift deutlich quae {que mit cßdille: quf) hat.^
«
1) So auch Pertz und Müllenhoff.
94 BRAKELKANN
Lodhuwig Die handschrift hat nicht loghuuuig (Diez, Sprachd.
p. 13), sondern lodhuuuig.
Schwur der deutschen Völker.
sinemo Codex: sine w.o, nicht der erste strich, wie Grimm ver-
mutete, sondern der dritte ist verblichen, aber nur teilweise, der untere
teil ist, als punkt, noch sichtbar, was das facsimileBoquefort-Pertz ver-
nachlässigt.
hidhuunige,
Ltidhuunig und
sorbrihchit im facsimile Roquefort - Pertz sind, wie Massmann bei
den beiden ersten schon vermutete, ungenauigkeiten der reproduction.
Der codex gibt sehr deutlich: Lndhuuuige, Ludhtmuig und forbrihchit
wirdhu Grimm sagt (SS. II, 666 col. 2 d. anm. 25): „Ob es mr-
dhit (erit) oder wirdhic oder etwa wirdhu lautet , kann gezweifelt wer-
den." MüllenhoflF notiert wirdhic als lesart des codex, so steht auch
deutlich im facsimile Roquefort -Pertz, während im original unzweifel-
haft wirdhit steht.
PARIS, IM OCTOBER 1869. JULIUS BRAKELMANN.
Nachschrift.
Die Vermutung des herrn dr. Brakelmann, dass das Roquefortsche
facsimile der Strassburger eide nachträgliche correcturen erfahren habe,
und dass die abzüge nicht in allen exemplaren des Wörterbuches genau
übereinstimmen, scheint in der tat gegi'ündet zu sein. Das facsimile in
meinem exemplare von Roqueforts glossaire (Paris 1808) , welches ich
vor etwa 20 jähren in einer Weigelschen auction zu Leipzig als neues
unaufgeschnittenes buch gekauft habe, bietet folgendes:
z. 10. mialtre \ ß, mit solcher anlehnung des unteren hakens von l an
den gi^undstrich des t, dass das t allerdings einem js ähnlich wird.
z. 13. zwar ßt, aber so unklar und undeutlich, dass es auch als fit gele-
sen werden kann.
z. 14. fic^ec, aVer e und c stossen an ihren oberen enden so zusammen,
dass man auch ex lesen kann,
z. 21. ifUhi utha zenmgfofo \ madtw - unzweifelhaft deutlich,
z. 22. luheren unzweifelhaft deutlich,
z. 23. nege gango * zheminan Das o in gegango ist unzweifelhaft klar und
deutlich, aber seine gestalt ist etwas runder und voller, als die
DIE BTRASaBUBOSB EIDB 95
der übrigen o des facsimile. Desgleichen unzweifelhaft ein e,
nicht t
z. 26. quiq; unzweifelhaft klar und deutlich.
z. 28. que an der unteren biegung des e ist ein langer nach links gehen-
der strich angesetzt.
z. 32. lodhu\uuig unzweifelhaft deutlich.
z. 34. ßne n.ohruodher Der punkt, als rest des dritten m- Striches, ist
erheblich kleiner als die zu interpunktionszeichen verwendeten
punkte, aber doch ganz deutlich erkenbar.
z. 35. Das erste wort kann hidhuuuige, aber auch ludhuuuige gelesen
werden. Das letzte wort der zeile dagegen bietet unzweifelhaft nur
liul I huuuig.
z. 36. forbrih \ chit mit unzweifelhaft deutlichem f, nicht f.
z. 39. uuirdhit mit unzweifelhaft deutlichem t, dessen langgeschwun-
gener querstrich bis an das voranstehende i reicht.
HALLE. J. ZACHEB.
BRUCHSTÜCKE AUS DEM WILLEHALM YON ORANSE
DES ULRICH VON DEM TÜRLIN.
Von dem früheren abgeordneten herrn Herrmann aus Mülheim a. d.
Mosel erhielt ich unlängst ein mit versen beschriebenes pergamentenes
folioblatt , auf dessen unterem rande folgende werte st^en : „ annotation-
buchlein deß hauß Manderscheidt welcher gestaldt et quibus annis die
GrafTen von Manderscheidt gelebt und regirt haben ab Aö. 1387 biß
1510. 15 etc.'^ Da das queer geknickte blatt, wie dieser anscheinend
von einer band des 17. Jahrhunderts queer darauf geschriebene neue
titel andeutet, zum umschlage eines dünnen quartheftes gedient eu
haben scheint, welches zu notizen über die grafen von Manderscheidt
bestirnt war, drängt sich die Vermutung auf, dass auch die zer-
störte handschrift selbst, der das blatt entstamt, zu der alten, rei-
chen und berühmten samlung der grafen von Manderscheidt auf ihrem
schlösse zu Blankenheim in der Eifel gehört haben möge. Das geschlecht
dieser grafen starb in der mänlichen linie um die zeit der franzö-
sischen revolution aus; in den revolutionsstürmen ward das schloss
zerstört, und die dort angehäuften schätze und Seltenheiten gien-
gen teils zu gründe, teils wurden sie in alle weltgegend^ zerstreut
Einzelne der ehemals dort befindlichen altdeutschen handschriften sind
almählich wider zu tage gekommen: so eine pergamenthandschrift des
96 HAAG
Tristan vom jähre 1323, jetzt im besitze des herrn regierungsrates von
Groote zu Köln; eine andere pergamenthandschrift des Tristan aus dem
vierzehnten Jahrhunderte, jetzt in der königlichen bibliothek zu Berlin;
eine (in PfeifiFers ausgäbe nicht benutzte) pergamenthandschrift des Bar-
laam, jetzt in der königlichen Universitätsbibliothek zu Bonn; eine hand-
schrift des Wigalois, eine des Eenner, auch eine papierhandschrift des
Willehalm von Oranse, im besitze des herrn von Groote. (Vgl. Tristan,
von meister Gotfrit von Straszburg, herausgegeben von E. von Groote.
Berlin 1821. 4. p. LXVII fgg. Wolfram von Eschenbach, zweite aus-
gäbe, von Karl Lachmann. Berlin 1854. s. XXXIII.)
Das folioblatt enthält 6 in längslinien gerahmte spalten , von je
43 Zeilen, zwischen feingezogenen queerlinien, im ganzen also 258 Zei-
len. Die schöne und deutliche schritt könte ihren zögen nach zwar viel-
leicht noch dem 13. Jahrhundert angehören, wird aber wol mit grösse-
rer Wahrscheinlichkeit in das 14. zu setzen sein. Jeder vers begint mit
einem grossen anfangsbuchstaben und schliesst mit einem punkte. Inter-
punction fehlt ; nur an sehr wenigen stellen begegnet ein punkt oder strich
auch innerhalb der zeile. Hie und da sind Wörter, buchstaben oder
buchstabenteile durch untergesetzte punkte getilgt, oder auch durch-
strichen. Die verse 103 und 242 beginnen mit grosser blauer, vers 181
mit eben solcher roter initiale. Letztere ist jedoch wol zu unrecht
gesetzt, da sie nicht mit einem grösseren absatze der erzählung zusam-
menfällt, und ihr auch nur 2, nicht 3 reime vorangehen. Am unteren
rande der kehrseite steht die Signatur .lifj.
Der Schreiber braucht v an-, in- und auslautend für w, v mit
darüber gesetztem häkchen für ü und für iu, mit darüber gesetztem e
für üe, mit darüber gesetztem o ßn tto, iv mit häkchen über v für iu,
o mit darüber gesetztem e für (b, setzt an- und inlautend langes, aus-
lautend kurzes s, hat för 0 und ^ nur einerlei zeichen, und weiss zwi-
schen ^ und s nicht mehr richtig zu unterscheiden, wie er denn neben
de fflr da^ auch wc nicht nur für wa^, sondern auch für was verwendet.
Zuweilen setzt er auch einen circumflex, jedoch ohne folgerichtigkeit,
und selbst an ganz ungehöriger stelle, wie er auch in Verwendung der
grossen anfangsbuchstaben nicht folgerichtig verfährt.
In dem nachstehenden genauen abdruckt sind, statt der eben ange-
gebenen Schreibweise, die jetzt üblichen typen verwendet, die eigennamen
mit grossen anfangsbuchstaben versehen, und die wenigen abkürzungen
welche sich auf die allgemein üblichen beschränken, aufgelöst worden,
mit ausnähme von vn, um den verschiedenen möglichen auflösungen in
und, unt und unde nicht vorzugreifen. Von einsetzung unserer jetzt
üblichen interpunction ist abstand genommen worden, weil die incorrect-
AUS ULRICHS V. D. TÜRLIN WILLEHALM 97
heit, an welcher der text durch schuld des Schreibers zu leiden scheint,
doch kaum erlaubt haben würde, sie überall richtig und reinlich durch-
zuführen.
recto a. Ist mir ze dez Margraven kunne.
Der hohesten froeden wunne.
Die min hertze gehaben kan.
Ist. so ich sich ir einen an.
5 Ir trost mich zefroeden leit.
Swaz ich in leide han gebeit.
Daz hat ein selig end genomen.
Nu waz der Markis komen.
Dem wart dez bruoders komen kunt.
10 Do er erbeitzte er gie zestunt.
Zuo der kunegin da er in vant.
Er tet hie bruoders liebi erkant.
Ein rieh enpfahen braht in dez inne.
Ouch sprach er zuo der küneginne.
15 Nu pflig sin frowe, als er dir si.
Wisse er ist dir mit triuwen bi.
Daz firoete der küneginnen sin.
Nu schier gie uf den Palas hin.
Viviantz vfi diu ritterschaft.
20 Arnolt wart mit liebe kraft.
Enpfangen als da zehove zam.
Diu künegin nu wasser nam.
Grave Arnolt vn der Markis hie.
Diu künegin dez niht enlie.
25 Si tete nach züchten schin.
Arnolt und diu künegin.
Diu schoene Alyse vn der Markis.
Hie wart gedient in zühte wiz.
Gantzer wille si dar zuo treip.
30 Der grave nu alda beleih.
Wol uf sehs tage frist.
Arnolt sprach daz du so bist.
Hie heime vfi niht tagalte pfligst.
Schafife daz du iht so ligest.
35 Du hast hie iunger mage vil.
Die wol tuont ritters getete spil.
28. ursprünglich wirt, undeutlich corrigiert; es soll wol wart gemeint sein.
ZEITSCUK. F. DEUTHCHS PULLOL. BU. lU. 7
98 HAAG
•
Betrahte daz vfi volge mir.
Mach uns froede e ich kom von dir.
Ez ist wol zit daz man daz tuo.
40 Nu horte diu küneginne zuo.
Der dize rede vil wol behagt.
Si sprach er hat dir war gesagt.
Ez zimet dir wol nach dime komen.
b. Da wirt froede von vernomen.
45, Sit si von hoher arte sint.
Vn ob sümlichiu kint.
In iungen iaren sint. waz dar umbe.
Die wisen leren die tumben.
Bitz er manlicher getat gewon.
50 In dirre rede lie si niht von.
Daz ich in wü dez bringen inne.
Ob ich in von hertzen minne.
Sin arte wirt von mir gehoehet.
Sin tugent hat zuo mir gefloehet.
55 Vil liebi diu mich hat ergetzet.
Ob ich an liebi was geletzet.
Sin pris wirt von mir getiurt.
Sit sich sin triuwe hat gehiurt.
Gen mir in gantzer liebi hol.
60 Der grave sprach von recte iu sol.
Unser künne bieten 6r6.
Nu tet er nach ir beider lere.
Berhtramen er besante.
Der bette ze Proventz in dem lande.
65 Vil guoter bürge die man da vant in.
Da was er gevam hin.
Do der Margrave wider kam.
Kyberten vfi Hues zim nam.
Die waren ime gesezzen na,
70 Dem Markise si ritten sa.
Er tet in dize rede kunt.
Berhtram sprach ez ist ein ftmi
Der dem lande ze froeden frumi
Ouch schaffe ich wol daz uns kumpt.
68. Der letzte strich des m in Kyhertem ist durch untergesetzten punkt
getilgt. — hves
AUS ULBICIIS y. D. TÜaiiN WILLBHALM 99
75 Her der ritterschefte vil.
Der Margrave sprach bruoder ich wil.
Hundert ritter ich machen wil.
Dez stoze ich niht langer zil.
Ouch Süllen in allen enden.
80 Werben wir. daz ez geschehe.
Ze disen pfingsten daz man sehe.
Daz uns ge niht an froeden abe.
Welle mir uz daz ich habe.
Du vfi min bruoder Kybert.
85 Hundert edel knappen die swert.
Enpfahen mit Yiviantze.
c. Man muoz hie froede sehen gantze.
Also wil diu könegin.
Do sprach Eybert da süllen wir sin.
90 Qebetes iemer undertan.
Der tugent daz wol verdienen kan.
Sit daz si uns ze froeden wart.
Ditz was nu ungespart
Si ritten hin vfi her vfi besauten sich.
95 Dez bewert diu aventiure mich.
Ez ergie als ich geseit hau.
Gen Oranse si zogten dan.
Dar koment tusent ritter oder mer.
Nu wart nach Kyburge l§r.
100 Daz rieh gezelt hie uf geslagen.
Ouch sach man vil soumer tragen.
Beide karren vfi wagen.
Pfu huob sich manger hande spil.
Der ich nu niht sagen wiL
105 Floeten tambren vfi schalmien.
In dem kle muez ir kamer sin.
Ffir den witen palaz.
Diu ritterschaft erbeitzet was.
Vfi giengen schowen uf daz rivier.
110 Hie zehen. dort sechs, da liht vier.
Vfi benamen sich dem- sweize gar.
Hie manig reidez valwes har.
Der geste houbet hie ziert.
Besolt vfi geviert.
115 Si uf den palas giengen.
100 HAAG
Da si nach witze enpfiengen.
Der Markis vn diu künegin.
Nu bedahte vil tiurer pfelle schin.
Termis den palas überal.
120 Der beiden ricbeit sich nit hal.
Daz moht man an Kyburge sehen.
Ouch saz bi ir an den man spehen.
Mohte minne geleze wol.
Nu wart der Palas froeden vol.
125 Die tische man richte vü gab gnuok.
Mit videln harpfen man für truok.
Dirre froede gie doch ein angest zo.
Ouch konden alle ir frowen nuo.
Den gesten man schuof guot gemiach.
verso a. 130 Dez morgens do man messe sprach.
Do hiez diu künegin dar tragen.
Der ich niht gar mag gesagen.
Von pfelle semit vn ander d'lachen.
Hundert rittern die an swachen.
135 Die wät mohten wol enpfahen.
Nach den hotten sach man gaben.
Hundert oi*s vfi niwe gereit.
Vn als vil schilten dar bereit.
Be vie vil riebe spangen mit golde.
140 In die buckeln als si solden.
Die spangen zir sliezen.
Bereit wol ane verdriezen.
Mit meisterlichem flize.
Nieman mir daz verwize.
145 Ob ich iu prüefe daz ich nie gesach.
Diu aventiur mir sin verlach.
Als da stat wie was geheri
Sin schilt ob daz min zunge mert.
Daz sol man durh zuht mir wissen nit.
150 Sit man Kyburge der wirde gibt
So kan ich kum geliegen hie.
122 Der Schreiber hatte den Vel^ irttÜmlich mit mokte geschlossen; dann hat
er dies mohte wider ausgelöscht, und hinter dem der folgenden zeUe mit einem
striche interpungiert.
138 schulten, aber das zweite l durch untergesetzten pnnkt getilgt.
IT %
AUS ULRICHS V. D. TÜRLIn WILLEHALM 101
Der Margrave och die.
Viviantzes schilt gesellen.
Ob sich die nu bereiten wellen.
155 la vil wafenroke vfi richer deke.
Diu froede git hertzen weke.
Swa man die durh froede tuet.
Von pfelle mangen riehen huot.
Man mähte zuo dem riehen kleid.
160 Kyburge hertze liebe geit.
Gen Viviantz vfi gen Milen.
Ouch waren gesant mit ilen.
Vil botten als ichs han.
Die manig sehoen kastelan.
165 Berhtram vfi ander brahten gen der Marke.
Nach schowen vil starke.
Mit den vil schoener pferiden gie.
Nu was groze frcede hie.
Vf der burk vfi in dem plan.
170 Vil buhurt sach man hie began.
Vor der kfinegin Yli den frowen.
Man mohte hie frien graven schowen.
b. Hie an dez Margraven schilt.
Da wart Kyburge tugende gezilt.
175 So hohe daz man ir tugende iach.
Ouch was bereit als ich S sprach.
Nach der aventiure sage.
Diz was an dem pfingest tage.
Von der ritterschaft wart gedrank.
180 Do man nu die messe gesank.
Oar nach segente man in diu swert.
Der Mai^rave nieman anders gert.
Der segente sinem neven.
Wan ein kappelan hies Steven.
185 Dez hertze sich so gemeine hielt.
Wan er gen gotte vil tugende wielt.
Ouch hielt er sinen orden wol.
Nu wart der palas aller vol.
Den man nu schiere rumpte hie.
168. Dem o in groze ist ein « übergeschrieben.
181. smgente, aber das erste n dorch untergesetzte punkte getilgt
102 UAAO
190 Do diu messe vn der segen ergie.
Vfl man in diu swert umbe gurt.
Do huob sich ein buhurt.
Der wol ein wibes hertze vie.
Viviantz sich so anlie.
195 Daz man in für si alle priste.
Ob ich iu hie nu wiste.
Von sime schilte vfi siner riehen wat.
Her Wolfram daz geseit hat.
Ez ist niht dürft daz ichs sage.
200 Dar nach an dem dritten tage.
Diu ritterschaft ze lande kerte.
Die Sit iamer trüren lerte.
Als iu daz msere noch kündet.
Her Wolfram hat ez ergründet.
205 Der MarMs hie minne koufte.
Daz mangen von dem leben sloufbe.
Kyburgez süezi wart hie sur.
Ir kamen boese nächgebum.
Von den der walt wart geoeset
210 Her Wolfram daz hat zerloeset. .
Daz wir sin niht dürfen fragen.
Ouch beginnet iu der leide betragen.
Wie irs vor haut gehört.
Reinen hertzen her nach froede stört.
215 Vfi trüebet sinen reinen muot.
c. Nu hoerent ob ez iu dunket guoi
Viviantz vfi sin geselleschaft.
Die pflagen nu solicher ritterschaft.
Daz man in prises getete iach.
220 Viviantz do ze Milen sprach.
Ob du wilt wir sülen besehen.
Vfi mit gemeinem munde iehen.
Vfi giengen zuo der künegin.
Ez sol mit iwem hulden sin.
193. wibvs hertzen, mit haken Qbcr dem v und zwei paukten unter dem n.
197. sime ist zweimal geschrieben, das zweite aber durchstrichen.
199. vor ichs steht ein durchstrichenes ist,
203. m're.
209. difi.
AUS ULRICHS V. D. TÜRLIM WILLEHALM 103
225 Frowe daz wir riten hin.
Durh Sehens die keiserin.
Yfi minen herren den künig Loys.
Da vinden wir mangen Franzoys.
Da wirt iwer wirde bekant
230 Na hat der Wolfram nieman genant.
Won den klaren Viviantz.
Den er vant uf Alitzschantz.
Der Margrave ob im erbeitzte.
Den leit ze iamer reizte.
235 Do der in wibes hertzen.
Owe dez iemerlichen schmertzen.
Die klage ir e hant vernomen.
Nu land uns aber wider komen.
Da diu rede g beleip.
240 Kyburg si niht wider treip.
Dez willen der si ze frceden b'eip.
üVu enbot Alyse diu magei
Bi Viviantze gruozes vil.
Si ritten dan in kurtzem zil.
245 Vn kerten rehte gen Litun.
Dunalde dez küneges garzun.
Hin wider lief si fragten mere.
Er Seite daz der künig were.
Ze Muleun yfi diu keyserin.
250 Gen Oranse ich gesant bin.
Getarst duz sagen, ia herre wol.
Min herre der Margrave sol.
Die schoene Alysen bringen wider.
Min frowe lit an froeden nider.
255 Vfi froede mit iamer an ir iaget
Si gesehe Alysen die maget.
Ob ir kumit mit dem MarMs.
Daz bringet in wol lones pris.
In diesem bruchstücke treten uns die namen von personen des kär-
lingischen Sagenkreises entgegen. Wir finden von den sieben söhnen des
grafen von Narbon (vgl Wolfram, Willehalm 5, 16) den ältesten, den
markgrafen Wilhelm von Oransche (Markis vgl. Wh. 3, 11), den zwei-
225. Jiein, mit punkt unter dem e.
104 HAAG
ten Bertram (Wh. 6, .22), den fünften Arnalt (= Arnold Wh. 6, 27\
den siebenten Gybert (= Kybert Wh. 6 , 29) ; ausserdem Viviantz , Wil-
helms Schwestersohn (Wh. 23, 1), Kyburg, gemahlin Wilhelms (Wh.
7, 30) , welche früher Arabelle hiess und gemahlin des heidnischen königs
Tybald war (Wh. 8, 2). Es wird das Schlachtfeld Aüschantz (Wh. 165, 4)
und der berg Munleün (Wh. 198, 15) erwähnt usw. Von diesen perso-
nen finden wir bei Kyburg (der künegin) den markis, Viviantz und
Arnold. Letzterer fordert die königin auf, ritterspiele zu veranstalten.
Kyburg geht gern darauf ein. Es wird nach rittern geschickt, um die-
selben zu dem feste einzuladen , an dem auch Viviantz mit andern knap-
pen das Schwert empfangen solle. Nach der anweisung Kyburgs werden
zelte aufgeschlagen und die ritter gut bewirtet und reichlich beschenkt.
Bei den spielen zeichnet sich Viviantz aus. Nach beendigung der fest-
lichkeit bitten Viviantz und Milen um Urlaub, da sie zur kaiserin und
dem könige Loys gehen weiten. Die beiden ritter brechen auf, nach-
dem Alyse ihnen viele grnsse aufgetragen hat und kommen zu Dunalde,
von dem sie hören, die kaiserin befinde sich zu Muleun.
Es fällt aber diese festlichkeit vor die zeit, in welcher uns Wol-
fram von Eschenbach die obengenanten personen vorfuhrt. Denn Wol-
fram begint sein gedieht nach vorausgesanter einleitung mit der Vor-
bereitung zum kämpfe gegen die beiden, und schildert uns alsdann die
Schlacht bei Alischantz, in welcher Viviantz getödtet wird. Die mit-
geteilten verse können also nicht aus dem Willehalm des Wolfram von
Eschenbach herstammen. Denn solte man auch wirklich der ansieht sein,
Wolframs Willehalm, wie wir ihn jetzt besitzen, sei uns nicht vollstän-
dig überliefert, so können die 258 zeilen doch unmöglich teile des ver-
lorengegangenen Stückes und somit des Wolframschen Willehalm sein.
Denn in den zeilen 198 und 199 lesen wir:
her Wolfram da; geseit hat,
es ist niht dürft, da; ich; sage.
Zwar spricht auch in stellen seines Willehalm Wolfram von sich selber,
aber immer, indem er die erste person hinzusetzt, z. b. Wh. 6, 19:
ich Wolfram von Eschenbach.
Von einem andern dichter also als Wolfram müssen die obigen zeilen
herrühren. Einem früheren Verfasser, als Wolfram, können wir sie jedoch
der angeführten verse (198 und 199) wegen nicht zuschreiben; sonst
wäre dies an sich nicht grade unmöglich, da ja der anfang von Wil-
helms und Arabellens geschichte bereits vor Wolfram in Deutschland
bekant war (vgl. Wolframs Willehalm 7, 23 ff.).
AUS ULRICH V. D. TÜRLIM WILLEHALM 105
Wir haben demnach in den oben mitgeteilten versen ein bruchstück
aus einem werke eines späteren nachwolframischen dichters vor uns. Da
wir nun wissen , dass der ungenügende anfang des Wolframschen Wille-
halm den Ulrich von dem Türlin bewogen hat, die mangelnde Vor-
geschichte, oder, wie er selbst sie nent, die „vorrede" hinzuzudichten,
in welcher er die entfahrung Arabellens und ihre lebensschicksale bis
zur Schlacht bei Alischanz weitläufig erzählt, werden wir das obige
bruchstück in dem gedichte dieses Ulrich aufsuchen. In der ausgäbe
Casparsons^ finden wir nun zwar freilich keine spur davon, aber wir
erinnern uns , dass diese ganz ungenügende ausgäbe nur ein abdruck einer
einzigen handschrifb ist, und dass es noch eine andere, vollständigere,
und nach Lachmanns urteile (Wolfram p. XLI) echtere recension gibt,
welche z. b. in der Heidelberger handschrift no. 395 erhalten , aber frei-
lich noch ungedruckt ist. Und da komt uns denn ein glücklicher zufall
zu hilfe, dass ein anderes, kürzeres, von v. 56 bis 223 unseres textes
reichendes bruchstück schon vor jähren in Begensburg gefunden und
durch Karl Roth bekant gemacht worden ist,* von welchem Roth
(s. XXn) zugleich feststellen konte, dass es mit dem texte des schluss-
stückes der Heidelberger handschrift no. 395 übereinstimt.
Hiemach entstamt also unser oben abgedrucktes bruchstück einer
handschrift, welche den vollständigeren und echteren text des Willehalm
von Oranse Ulrichs von dem Türlin enthielt , und gehört zu dem schluss-
stücke dieses gedichtes.
Vers 207 des bruchstückes ist mit geringer änderung entlehnt aus
Wolframs Willehalm 12, 30.
BERLIN. DR. HAAG.
1) Wilhelm der Heilige von Oranse erster teil, von Türlin oder Ulrich Tur-
heim, einem dichter des schwäbischen Zeitpunktes. Aus einer handschrift heraus-
gegeben durch W. J. C. G. Casparson. Cassel 1781. 4.
2) Dichtungen des deutschen mittelalters in bruchstncken aufgefunden und mit
erlänterungen herausgegeben von dr. Karl Roth. Stadtamhof 1845. — no. "VTH.
Wilhehn von Oransche. S. 134—141.
106 R. WÖRNEE
VIRGIL UND HEINRICH VON VELDEKE.
Die folgende abhandlung soll ein versuch sein, an einem beispiele
die behandlung antiker stoffe in unserer poesie des mittelalters eingehend
nachzuweisen. Aus diesem nachweis ergeben sich von selbst die rich-
tigen gesichtspunkte für beurteilung eines dichters, über welchen kein
geringerer kenner unserer litteratur, als Gervinus ist, ein vernichtendes
urteil gefölt hat. (Gesch. d. poet. N.-L. der Deutschen I, p. 293 — 302).
Diesem urteile ist zwar schon widersprochen worden, so von Ettmül-
1er in der vorrede seiner ausgäbe des dichters p. XVIII, da aber Ger-
vinus am angeführten orte zur begründung seiner ansieht nicht wenig
einzelheiten aus Veldekes Eneit anführt, so wird auch nur ein genaues
eingehen auf die eigentümlichkeiten des gedichtes zu einer überzeugen-
den berichtigung jenes Urteils führen. Seitdem A. Pey (Eberts Jahrb. 11,
1 fiF.) den nachweis geführt hat, dass Veldeke seiner französischen vor-
läge, dem roman d'Eneas des Benoit de Sainte-More, genau gefolgt ist,
dass die meisten abweichungen von Virgil nicht von ihm , sondern schon
von Benoit herrühren, dass auch stellen, welche noch Gervinus für Vel-
dekes eigentum hielt, nur gewante und freie nachahmung des franzö-
sischen Originals sind , seitdem sind freilich bereits eine anzahl der abur-
teilenden aussprüche von Gervinus hinfallig geworden.^ So kan das
urteil des litteraturhistorikers : „Der rittersman hat keinen begriff von
dem, was er übersetzt" (Handb. der Gesch. d. poet. N.-L. d. Deut-
schen 1842. p. 44) bei dem unkundigen nur falsche und schiefe begriffe
erwecken. Der rittersmann hat seine französische vorläge sehr wol ver-
standen und man würde ihm gewis unrecht tun , wenn man ihn für einen
gewöhnlichen Übersetzer erklären wolte. Denn seine spräche fliesst so
gewant und ungezwungen, dass er in dieser hinsieht sich nicht nur
1) Da der französische Originaltext des romans d'Eneas von Benoit de Sainte-
More leider noch ungedrackt ist, können wir über ihn und über das Verhältnis der
bearbeitung Veldekes zum französischen original nicht mehr wissen, als Alexander
Pey in seiner oben angeführten abhandlung: „L'Enöide de Henri de Veldeke et le
roman d'Eneas attribuc a Benoit de Sainte-More" auf p. 1 — 45 des Ü. bandes von
Eberts Jahrbuch für romanische und englische litteratur (Berlin 1860) mitgeteilt hat.
Es lässt sich also im einzelnen freilich meist nicht mit der vrünschenswerten Sicher-
heit erkennen, ob und wie weit Heinrich von Benoit abweicht oder nicht. Der Ver-
fasser der vorliegenden abhandlung war somit ausser stände, über das Verhältnis
Heinrichs zu Benoit mehr und genaueres zu bieten , und muss in dieser beziehung den
geneigten leser auf die darstellung von Pey verweisen , sowie überhaupt die abhand-
lung sich nur auf dem deutschen text der Ettmüllerschen ausgäbe und dem von Pey
dargebotenen aufbauen konte. Bed.
VIBOUi UNO HEINRICH V. VELDEKE 107
wesentlich vor seinem nachahmer Herbort von Fritzlar auszeichnet, son-
dern auch manchem modernen Übersetzer eine lehre geben könte. Hat
er doch in dem berühmten gespräche über die minne die französische
vorläge so meisterhaft nicht nur in das treffende deutsche wort, son-
dern auch in das entsprechende deutsche gefülil umgesetzt, dass Qervi-
nus steif und fest behauptete , das müsse des Deutschen eigene erfindung
sein. Es beschleicht uns zwar zunächst eine art wehmut , dass hier auch
Gtervinus schönes lob zurückgenommen werden muss (cf. p. 300), aber
so übersetzen heisst fast gleich viel wie von neuem schaffen; es gibt
stellen in Luthers bibel, die so, wie sie sind, von keinem als von Luther
so gesagt sein könten. Und in diesem sinne kan immer Gervinus urteil
stehen bleiben: „die deutsche dichtung jener zeit hat gewis weniges an
lieblichkeit, an herzlichkeit , an inniger Unschuld und naivetät diesen
gesprächen der Lavinia und ihrer mutter zu vergleichen." Dass übrigens
Heinrich v. Veldeke im einzelnen vielfach von seiner französischen vor-
läge abweicht, wird die folgende darstellung ergeben. Um das Verhält-
nis des antiken gedichts zu dem mittelhochdeutschen in das richtige
licht zu setzen, lege ich zunächst den gang der handlung bei Virgil und
bei Veldeke vergleichend dar, sodan stelle ich zusammen, was von
antikem sich bei Veldeke erhalten hat, und gebe zuletzt eine Übersicht
über das „ moderne ," welches unwilkürlich in die Eneit eingedrungen ist.
L
Virgil führt uns in der Äneide sogleich mitten in die handlung
hinein. Es sind schon sieben jähre verflossen, seit Äneas seinem vater-
lande den rücken kehren muste , seine flotte ist aus dem sicilischen hafen
Drepanum abgesegelt und fährt der küste Italiens zu, da erblickt Juno
die verhassten Überreste der Trojaner schon nahe dem ziele ihrer bestim-
mung und eingedenk ihres alten grelles und wol wissend, dass spröss-
linge trojanischen blutes einst ihr geliebtes Carthago zerstören werden,
dem sie die weltherschaft zugedacht hat , eilt sie zum Äolus und bestimt
ihn, die troischen schiffe feniab von Italiens küste zu verschlagen oder
auch im meere zu begraben. Da bricht der seesturm los. Die fahrzeuge
des Äneas werden zerstreut, eines im meere versenkt, bis endlich Nep-
tun durch sein gewaltiges qtws ego die winde zügelt und das aufgeregte
meer zur ruhe bringt. Äneas erreicht mit 7 schiffen von zwanzig die Liby-
sche küste. Er erlegt für seine erschöpften gefährten sieben am ufer
weidende hirsche und richtet den gesunkenen mut jener mit tröstenden
werten auf. Unterdessen wendet sich Venus besorgt um ihren geliebten
söhn an den vater der götter und menschen wegen der unaufhörlichen
108 E. WÖRNER
irrsale, die dem Äneas verhängt sind und erhält von Jupiter die tröst-
liche Versicherung, dass Äneas Italien erreichen, die kriegerischen Völ-
ker des landes besiegen und den grund zu der künftigen weitmacht Roms
legen werde. Als am nächsten morgen Äneas mit dem treuen Achates
auf kundschaft ausgeht, komt ihm in dem walde, der die käste umgibt,
seine göttliche mutter entgegen, unter der gestalt einer jägerin, gibt ihm
auskunft über die herrin des landes Dido, weist ihn nach dem nahen
Carthago und sagt ihm die glückliche rückkehr der verschlagenen schiffe
voraus. Jene beschleunigen ihren weg und sehen bald das geschäftige
Carthago vor sich liegen. Durch eine wölke dem blicke der menge ent-
zogen durchschreiten sie die stadt, bis sie zu dem tempel der Juno
gelangen, an dessen pforte sie glücklich mit ihren verloren geglaubten
gefährten zusanmientreffen , die eben herbeieilen um an dem throne der
königin für sich und ihre gestrandeten schiffe recht und schütz zu suchen.
Dido nimt den Äneas und seine gefährten ehrenvoll und gastfreundlich
in ihrem palast auf; erfreut über die aufiiahme sendet Äneas den Acha-
tes nach den schiffen, damit er den Ascanius samt reichen geschenken
herbeibringe. Aber Venus fürchtet noch inmier die doppelzüngigen Car-
thager, die Schützlinge der Juno, und um die Dido mit noch stärkeren
banden an Äneas zu fesseln, sendet sie in der gestalt des Ascanius, den
sie nach Greta entrückt, ihren söhn Amor, und während nun Dido den
vermeintlichen Ascanius beim gastmahle küsst und liebkost, wird ihr
unauslöschliche liebe zum Äneas eingehaucht. Am ende des gastmahls
bittet Dido ihren lieben gast, von aiifang an ihr Trojas fall zu erzäh-
len. — Soweit das erste buch. — Es folgt nun im zweiten buche der
Aneide die erzählung des Aneas über die letzten Schicksale Trojas. Der bau
des hölzernen rosses , der scheinabzug des griechischen heeres, die geteil-
ten meinungen der Trojaner, ob sie die merkwürdige hinterlassenschaft
ihrer feinde in die stadt führen sollen oder nicht, die abmahnende rede
des priesters Laocoon , der mit der lanze gegen den bauch des hölzernen
Ungeheuers stösst, dass die wafifen der darin verborgenen Griechen klirren.
Die auf&ndimg des Sinon und dessen listige feinerdachte rede, durch
welche verbunden mit dem wunderbaren tode des mahners Laocoon die
, Trojaner dahin umgestimt werden, den hölzernen coloss durch den nie-
dergerissenen teil ihrer mauer in die stadt zu bringen und endlich den
langersehnten tag des friedens festlich zu begehen. Dann bei nächtlicher
weile die rückkehr der Griechen von Tenedos und das öffnen der tore
durch ihre dem bauche des rosses entstiegenen genossen. Äneas wird
aus dem schlafe aufgeschreckt durch die erscheinung des Hector, der
ihn zur flucht und zur rettung der heimatlichen Penaten auffordert.
Dann die lebendige beschreibung des kampfes in der Strasse der bren-
VIBGIL UND HEINSICH V. VELDEKX 109
nenden Stadt, die heldentaten des Ätieas, die sclilacht um die königs-
borg und der tod des Priamus , dann die feine motivierung der flucht des
Äneas, zu der ihn seine göttliche mutter selbst mahnt, der widerstand
des greisen Anchises (der lieber unter den trünmiern Trojas sterben will),
endlich durch unverkenbare götterzeichen gebrochen, und Äneas, den grei-
sen vater auf dem rücken, seinen söhn an der band führend, gefolgt
von der treuen Creusa, aus der stadt fliehend. Endlich ausserhalb der
Stadt bei dem tempel der Ceres angekonmien macht er die schreckliche
entdeckung, dass er in der eile der flucht seine gattin verloren hat.
Seine rückkehr in die stadt, das lange vergebliche suchen, bis ihm der
schatten der geliebten erscheint. Darauf seine flucht mit den Trojanern,
die sich zu ihm gesellt haben, in das Idagebirge. — Im dritten buche
werden nun die siebenjährigen irrfahrten des Äneas behandelt, ehe er nach
Afrikas küste verschlagen wiid. Am Ida hat er sich seine schiffe gebaut
und geht mit begin des sommers, ungewis wohin ihn sein Schicksal
fahren wird, in see. Der kurze aufenthalt an der durch den mord des
Priamiden Polydor befleckten thrakischen^ küste , die ankunft auf Delos,
wo ihn das apollinische orakel in dunkeln werten sein künftiges heimat-
land zeigt:
Dardanidae duri, quae vos a stirpe parentum
Prima tulit teUus, eadem vos ubere laeto
Accipiet redttces. Antiquam exquirite matrem.
Hie damus Aeneae cundis dominabitur oris
Et nati natorum et qui nascenttir ab iUis, III, 94 — 98.
Äneas wendet sich hierauf nach Greta, wohin, wie Anchises meint, das
Orakel weist. Bereits ist die stadt Pergamum gegründet, als die Troja-
ner durch pest und dürre wider hinweggetrieben werden. Die heimat-
lichen Penaten selbst erscheinen im träume dem Äneas auf Apollos
geheiss und deuten ihm das orakel:
Est locus, Hesperiam Graii cognomine dicunt:
terra antiqtuij potens armis atque ubere glebae;
Oenotri coluere viri: nunc fama, minores
Itaiiam dixisse ducis de nomine gentem,
Hae nobis propriae sedes; hinc Dardanus ortus,
lasiusque paier, genus a quo principe nostrum.
III, 163 — 168.
Nach der abfahrt von Greta überfilllt ihn ein mächtiges Unwetter, das
ihn drei tage und nachte auf dem meere umherwirft und ihn endlich an
die küste der Strophaden treibt, wo seine gefährten mit den Harpyen
zu tun bekommen. Eine von ihnen, Gelaeno verkündigt ihm, dass er
110 E. WÖRNER
zwar nach Italien kommen und dort landen würde, dass er aber nicht
eher würde eine stadt gründen können, bis grimmer hunger sie gezwun-
gen hätte ambesas ahsumere mensas: III, 257. Es folgt dan die fahrt
durch das Ionische meer bis zur küste von Epirus, der aufenthalt bei
dem Priamiden Helenus und der Andromache, die ihm mit rat und tat '
beistehen. Dan die fahrt entlang der südküste Italiens, die abenteuer
am fusse des Ätna, und endlich die ankunft in dem hafen von Drepa-
num an der westspitze Siciliens, wo der greise Anchises den mühen der
Seefahrt unterliegt. So schliesst Äneas seine erzählung mit dem Zeit-
punkte, mit welchem das erste buch der Äneis began.
Vielfach in haupt- und nebenzügen abweichend begint die deut-
sche Äneide Heinrichs von Veldeke. Das verschlungene, kunstvolle
gefüge der handlung bei Virgil ist vermieden; Veldeke hält sich genau
an die zeitliche aufeinanderfolge. Menelaus belagert um der ihm von
Paris geraubten Helena willen die stadt und nimt sie endlich ein , nichts
wird von den Griechen verschont, gesunde und kranke erschlagen , Pria-
mus findet mit seinen vier söhnen den tod. Nur ein vornehmer man,
der an dem einen ende der stadt wohnt, der herzog Äneas, der söhn
der göttin Venus, diu frowe ist über die minne, rettete sein leben. Er
hatte zu jener zeit von den göttern vernommen, dass er sein leben
erhalten und nach Italien fahren solte, woher Dardanus der gründer
Trojas stamte. So kent also Äneas schon hier den ort seiner bestim-
mung, den er bei Virgil erst nach längerer Irrfahrt auf Greta erfährt.
Als nun der verhängnisvolle augenblick gekommen ist, da versammelt
Äneas seine verwanten und dienstmannen um sich (sine möge und sme
mcm)^ teilt ihnen die Weisung der götter mit und stelt ihnen frei, ob
sie bleiben und kämpfend sterben oder mit ihm das land verlassen wol-
len; in beiden jßUen werde er zu ihnen stehen. Sie entscheiden sich
allgemein dafür, mit ihm das land zu räumen und so zieht er nun mit
3000 rittem aus, seinen söhn fuhrt er an der band, seinen altersschwa-
chen vater lässt er hinter sich her tragen, auf der flucht verliert er
siöine gattin, der dichter sagt scherzhaft: „ich weiss nicht wer sie ihm
nahm." Man sieht, mit keinem werte suchte der dichter die flucht zu
beschönigen, nicht wie bei Virgil kämpft Äneas bis zum letzten augen-
blicke, um erst dann von den göttern dazu aufgefordert der stadt den
rücken zu kehren. Es komt hier dem dichter nur darauf an, kurz und
schlicht die facta zu erzählen , ohne sie tiefer zu motivieren. Er besteigt
mit seinen leuten 20 schiffe, die die Griechen wol gerüstet unfern sei-
nes hauses stehen gelassen hatten, und bald sind sie auf der hohen see;
aber durch den hass der Juno, die dem Paris noch immer nicht die bevor-
zugung der Venus vergessen kan (cf. Virg. Aen. I, 26), werden die Tro-
VIBGIL UND HEINRICH V. VT.LDEKE 111
janer sieben jähre lang auf dem meere umhergetrieben und immer fem
gehalten von dem lande, wo Äneas gern wäre, von Italien. Der dichter
hat durch so merkwürdige erfindung dem Aneas den weiten weg in das
Idagebirge und den bau der flotte gespart. Einmal zeigt Juno den Tro-
janern gar unsanft ihre macht; drei tage und nachte verfolgt sie die
schiffe mit stürm und wind, regen und hagel, so dass sogar eins von
ihnen im meere versinkt, erst am vierten tage legt sich das Unwetter.
Veldeke hat in der beschreibung des Unwetters seine französische vor-
läge abgekürzt. Äneas erblickt das land und die hohen berge Libyens,
bald erreichen sie die küste , da sind von ihren zwanzig schiffen nur noch
sieben beisanomien. Wenig gutes gewährt ihnen der hafen, in den sie
eingelaufen sind. Es ist deutlich zu erkennen , dass sich in diesem
Unwetter zur see die züge vereinigt finden, die wir bei Virgil finden
in dem seesturme, der die Trojaner nach der abfahrt von Greta trift
(m, 190 — 206), und aus dem Unwetter, welches sie an die Libysche
küste treibt (I, 102 — 123). Äneas schickt hierauf 20 ritter, welche
yjYlionix^'^ anführt, in das land auf kundschaft aus und nach „kauf und
spise." Die ritter stossen bald auf einen weg, der sie aus dem walde
fuhrt, und da sehen sie vor sich eine feste, schöne und grosse stadt
(horch) , die Dido erbaut hatte ; es wird nun kurz die herkunft der Dido,
die veranlassung ihrer einwanderung nach Libyen und die bekante
geschichte von der rindshaut (cf. I, 366 f.), erzählt, jetzt dient der Dido
ganz Libyen ; über den bau der stadt verweist Veldeke auf Virgilius (cf. I,
418 — 29), er erzählt nur kurz, dass die stadt sieben tore und hundert
türme hatte, an jedem tore sass ein mächtiger graf mit 300 rittern, in
der Stadt konte man alle arten der guter finden, die wasser und land
hervorbrachte, auf der einen seite vom meere, auf der andern von strö-
men eingeschlossen, trotzt sie jedem angriff. Der palast der Dido steht
nahe am meere, in seiner nähe wider das münster der Juno, ihr nämlich
dient Dido spät und früh , damit sie Carthago zur hauptstadt aller reiche
mache (cf. Virg. Aen. I, 12 — 18). Die boten gelangen endlich zur
Dido: Tlionii fuhrt das wort (wie bei Virgil I, 520 ff.), er bittet sie um
hilfe, rat und frieden, stelt ihr den dienst seines hern zu geböte, fleht
sie an, dass sie die Trojaner im hafen besseres wetter erwarten und
ihre schiffe wider in stand setzen lasse, und unterrichtet sie überhaupt
von dem misgeschick der flüchtigen Trojaner (cf. 1 , 520 — 560). Die
königin, wolbekant mit dem Schicksal Trojas und vertraut mit den leiden
des heimatlosen umherirrens, will gern mit Äneas land und leute teilen,
wenn er bleibe; wenn nicht, so stelt sie ihm wenigstens, so lange er
sich aufhält, alles, was sie hat, zur Verfügung (cf. I, 570 — 78.
619 — 630). Unterdessen sind die zwölf verschlagenen schiffe eingelau-
112 E. WÖRNER
fen, Äneas ist ungeduldig auf die rückkehr der boten wartend auf
einen hohen berg gestiegen, um nach ihnen auszuschauen, da sieht er
sie kommen, eüt ihnen entgegen, und nun ist in lebendiger weise das
hastige fragen des Äneas und das antworten der boten gezeichnet (genau
nach Benoit) pag. 32, 21 — 33, 17. Äneas reitet mit 500 (bei Benoit
140) auserkorenen rittern in herlichen gewändem auf edlen rossen nach
der Stadt; er findet dort breite Strassen und stattliche paläste; zu beiden
selten schauen magede und frowen aufs beste geschmückt seinem einzuge
zu, leicht erkennen sie den Äneas heraus, denn er ist ja der schönste
von allen. Dido empfängt freundlich ihn und seine mannen. Nachdem
sie ihm den kuss des wilkommens gegeben, schafft sie ihren gasten alle
bequemlichkeit. Erfreut über den guten empfang schickt Äneas boten
nach dem Ascanius und trägt seinem kämmerer (kameräre) d,ut, reiche
geschenke herbeizubringen. Als nun der junge Ascanius zu hofe reitet,
da berührt Venus ihm mit ihrem feuer den mund , so dass wer ihn zuerst
küsst von liebe entbrennen muss. Als nun Ascanius an den hof komt,
umarmt er die Dido und wird von dieser geküsst. So erfasst jene die
minne zum Äneas, aber sie verbirgt jetzt noch ihre liebesqual im her-
zen. So hat auch hier der dichter (Benoit) die erfindung des Virgil ver-
einfacht; es folgt hierauf , wie bei Virgil, das reiche gastmahl, an dessen
ende Dido den Aneas bittet, ihr zu erzählen, wie Troja erobert wurde.
Fast mit derselben wendung wde bei Virgil begint auch bei Veldeke
Äneas seine erzählung. Das infandum regina jubes renovare doloretn
entspricht dem sinne nach den schlichten werten Veldekes: ir habet
hegunnen einer rede diu mir we tut Die erzählung des Aneas selbst
ist bei Veldeke ausserordentlich verkürzt, mit etwa 400 kurzzeilen wird
das ganze zweite buch Virgils abgefertigt, etwas ausfuhrlicher ist die
erzählung bis zum öffnen der tore durch die im bauche des hölzernen
pferdes versteckten Griechen, am getreuesten sind die reden des Sinon
widergegeben, wenn auch mit manchen entstellungen ; z. b. dass das höl-
zerne ross so gebaut worden sei, dass man die göttin gewaffnet darauf
setzen wolte, was nur durch den tod des Werkmeisters verhindert wor-
den, wovon sich bei Virgil keine spur findet, ferner dass der sogenante
Sinon Ulixes selbst gewesen sei. Eine masse der schönsten episoden
des buches, wie die von Laocoon (fehlt auch bei Benoit), die beschrei-
bung der brennenden stadt und des kampfes in der Strasse, die weiteren
umstände der flucht des Äneas, sind unterdrückt; Äneas schliesst kurz
damit, als er gesehen habe, dass er umgekommen sein würde, hätte er
in Troja bleiben wollen, so sei er mit 3000 mannen, herlichen scharen,
ausgezogen , um nach Italien zu fahren , und so sei er unter vieler müh-
sal endlich hieher gekommen. So springt der dichter mit einigen weni-
"^IBGIL UND HEINBICH V. VELDEKE 113
gen Worten über das ganze dritte bucii Virgils weg. Welche gesichts-
punkte zu dieser Verkürzung des stoflfes geführt haben niögeu , wird spä-
ter zu erörtern sein. Dass aber durch die vollständige übergehung die-
ses buches, auf welches in den folgenden büchem Virgils vielfache rück-
deutungen sich finden, manche Unklarheit auch in die deutsche Äneide
gekommen ist, wird sich bald zeigen.
Um so ausführlicher wird nun in der deutschen Äneide das
thema behandelt, welches das ganze vierte buch von Virgil aus-
füllt, die verhängnisvolle liebe der Dido zum Äneas, die mit dem
tode der Dido endigt (p. 48 , 5 — 80 , 22). Das ist der rechte tum-
melplatz für den minnedichter, das war wol auch für seine hörer
und leser eine der anziehendsten partieen. Hier hat zwar der dichter
vielfach das, was bei Virgil mit wenigen werten angeführt ist, weit aus-
gesponnen, z. b. die schlaflose nacht der Dido (bei Virgil IV, 5 nee
placidam membris dat cwra quietem. cf. 9 quae me suspensam insomnia
terrentf) wird bei Veldeke reich ausgemalt; nicht ohne tändelei wird
erzählt, wie Dido den namen des geliebten der Schwester bekent (cf
Virg. IV, 9 — 30). Die beschreibung des jagdaufzuges der Dido (cf.
Virg. IV, 136 — 138), nimt bei Veldeke einige 70 kurzzeilen in anspruch
(59, 19 — 61, 10), endlich wird die Vereinigung der Dido mit dem Aneas
(Virg. IV, 165 — 168), die bei Veldeke unter einem schützenden bäume
des waldes, nicht in einer waldgrotte wie bei Virgil, stattfindet, mit
übertriebener ausführlichkeit behandelt (cf. p. 62 , 39 — 63 , 28). Pey
bemerkt zu dieser stelle: oü le poete franqais abrege Vepopee latine, le
pdete cUlemand Vecourte oü le trouvere la developpe, le minnesinger la
Paraphrase et ramplifie, a. a. o. s. 7. Hier gibt also Pey eine gewisse
Selbständigkeit Veldekes zu. Aber auch hier sind in der deutschen Äneide
vielfache kürzungen des ganges der handlung vorgenommen worden.
Bezeichnend ist vor allem, dass Veldeke das vielbewunderte bild der
Fama, welche die künde von der Verbindung der Dido mit dem anköm-
ling über den erdkreis verbreitet, ein bild, das Benoit beibehalten hat,
gänzlich unterdrückt. Veldeke weiss auch nichts von larbas, dem her-
scher Mauritaniens^ dem verschmähten freier der Dido, der nun zu Jupi-
ter um räche fleht um dieser Zurücksetzung willen; nichts weiss er von
Jupiter, der durch Mercurius dem seine bestimmung vergessenden Äneas die
fahrt nach Italien gebieten lässt , er berichtet nur mit wenigen werten , dass
der Dido in folge dieses Schrittes viele gram geworden wären, und zwar
die „heren after lande," die ihre minne. gesucht hatten, jetzt aber ihr
an ihre ehre sprachen , und wie dann Äneas , als er ein so mächtiger
herr geworden und so innig geliebt war, von den göttem einen dringen-
den befehl erhalten hätte, das land zu verlassen. Sonst findet man aber,
ZBITSCUK. F. DBUT8CUS PHII.0L0OUi. BD. UI. 8
114 E. WÖRNER
besonders in den reden der Dido, die grundgedanken des Virgil wider,
nnr die Anna unterstützt die leidenschaft ihrer Schwester nicht mit so
staatsklugen gründen wie bei Virgil, sie sagt ihr vielmehr, wie sie es
anfangen müsse, den Aneas ihre neigung merken zu lassen, ohne es
ihm geradezu zu sagen (cf. pag. 57, 1 — 7). Vornehmlich zeigt sich die
erwähnte ähnlichkeit des gedankeuganges in den reden bei der schliess-
lichen auseinandersetzung mit der Dido, obwol auch hier wider in der
deutschen Äneide sich eine abkürzung findet , indem die nochmalige sen-
düng der Schwester Anna zu dem unerbittlichen Aneas unterblieben ist.
Immer kürzer wird der deutsche dichter, je weiter es zum ende des
vierten buches komt, er lässt alsbald nach dem woi-twechsel mit der
Dido Aneas davonfahren, dann die verlassene furstin sogleich zur ausföh-
rung der list schreiten, durch welche sie ihrem leben ein ende machen
will: das feuer des magischen Opfers wird angezündet, die zurückgelas-
senen angedenken des Äneas herbeigebracht und dann die Anna nach
der Zauberin gesendet. So schafft bei Veldeke die Dido alle zeugen
ihrer tat hinweg und nun schreitet sie in den tod: man sieht die ganze
Situation ist vereinfacht, es kent die deutsche Äneide nicht die Vorzei-
chen, welche den nahen tod der Dido verkündigen (IV, 450 — 465), nicht
das nächtliche grübeln der Dido, durch welches sie wider auf den ent-
schluss zu sterben gebracht wird , nichts von der plötzlichen abfahrt des
Äneas mitten in der nacht zufolge der warnung des gottes; wie Virgil
die zwischen rachegedanken und milderen regungen schwankende Dido
schildert, als sie am morgen die schiffe der Trojaner auf hohem meere
sieht, dann ihre Verwünschungen gegen Aneas, in denen sie gleichsam
den tötlichen hass ihrer nachkommen gegen das römische volk und das
racheschwert des Hannibal prophezeit, alles dieses sucht man vergebens
bei Veldeke. Rachsüchtig und unversöhnt stirbt Virgils Dido, weich-
mütig und vergebend die deutsche.
Das fünfte buch Virgils ist wider in der deutschen Äneide fast ganz
überspi-ungen ; es wird mit 167 kurzzeilen abgetan (80, 23-84, 20).
Gleich anfangs überrascht die kurze äusserung Veldekes, dass Äneas über
meer gefahren sei, unzer da ze lande quam, da sin voifer begraben
lach, wobei er sich nicht einmal die mühe nimt, dieses land zu nennen,
obwol im vorhergellenden noch gar nicht erwähnt ist, wo und wann
Anchises gestorben. Diese angäbe Mit aber bekantlich an das ende des
dritten buches der Äneide und mit der übergehung dieses buches ist
auch sie zugleich unterdrückt worden. Der dichter erwähnt zwar, dass
Äneas gerade an dem jalirestage des todes seines vaters dorthin gelangt
sei, aber die feierlichen opfer und die festspiele Virgils, die den grösteu
teil des fünften buches ausmachen, werden mit der kurzen andeutung
VIBGIL UND HBINEICH V. VELDEKE 115
abgetan : da^ begienk auch Lineas harde herlichen da. (Benoit hatte die
feierlichen leichenspiele in die ritterspiele seiner zeit umgesetzi) Ganz
unterdrückt ist das abermalige feindselige eingreifen der Juno, welche
durch Iris die der seefahrt müden trojanischen irauen zur anzündung der
flotte verleitet und die rettung der scliiffe durch den regenguss Jupiters auf
das flehen des Äneas. Das einzige , was aus diesem buche bei Veldeke mit
einiger ausführlichkeit behandelt wird , ist die nächtliche erscheinung des
Anchises, der dem Äneas den rat erteilt, die greise und greisinnen und
die den kommenden kämpfen nicht gewachsenen im lande zurückzulas-
sen und ihn dann auffordert, geleitet von der Sibylle in der unterweit
aus seinem munde seine und seines geschlechtes zukunft zu erfahren;
bei Virgil entschwindet der schatten des Anchises mit herannahen des
morgens (V, 738: Jamquc vale; torquet medios nox humida cwrsus et
nie 8(wvus equis Oriens adflavit anhelis). Der verwante deutsche glaube
spricht sich bei Veldeke in den werten aus: ichn mach nicht langer
hie sin, e^ nähet der hanencrät. Kurz wird dann der gründung einer
Stadt för die zurückzulassenden erwähnt, und Äneas hierauf ohne alle
Umschweife zur Sibylle gefuhrt Sowol die episode bei Virgil, in der
Venus bei Neptun ihrem söhne günstige fahrt erwirkt als die andere,
in der der tod des Palinurus erzählt wird, sind der censur erlegen.
Dagegen verweilt der dichter mit verliebe bei dem sechsten buche
Virgils, bei der fahrt in die unterweit; überhaupt ein beliebtes thema bei
den höfischen dichtem (84, 21 — 110, 30). Freilich schrumpft die
Sibylle, die gottbegeisterte priesterin, bei Veldeke zu einer alten häss-
lichen hexe zusammen, die indes im gründe nicht so böse ist, wie sie
aussieht. In der beschreibung der Sibylle ist Veldeke seiner eigenen
einbildungskraft gefolgt (cf. Pey a. a. o. s. 9). Der tempel Apollos zu
Cumae wird zu einem hetehüs und von der Verzückung der Sibylle ist bei
Veldeke keine rede; wol kent auch die deutsche Aneis den goldenen
zweig (rfa^ m), welcher bei der fahrt in den Tartarus notwendig ist;
wie indes die episode Virgils vom tode des Misenus übergangen ist, so
auch der zug, dass ein taubenpar den Äneas zu dem goldenen zweige
führt. Veldeke begnügt sich damit zu erzählen , die götter hätten Äneas
zu dem rise geführt, dafür ist aber Veldeke (mit Benoit) vorsichtig genug
dem Äneas noch auf den weg ein kraut gegen den gestank der höUe und
eine salbe gegen das höllische feuer mitzugeben! Bei dem gange durch
die unterweit folgt Veldeke nach Benoit ziemlich genau den hauptmo-
menten der Virgilschen erzählung, die eigentümliche gestaltung dersel-
ben wird an einem anderen orte zu behandeln sein. Nicht mehr wun-
dem wird es uns, dass in der rede, in welcher Anchises seinem söhne
das ganze künftige Schicksal seines geschlechtes zeigt, die menge der
8*
116 E. WÖRNEE
anspielungen auf die spätere römische geschichte bis auf Augustus herab
in der mittelhochdeutschen dichtung übergangen sind. Wer von denen,
die Veldekes gedichte lesen hörten, würde auch diese anspielungen ver-
standen haben! Dafür hilft sich hier der dichter für eine Unterlassungs-
sünde, die er früherhin begangen hat. Während nämlich bei Virgil
im dritten buche die Celaeno und später der seher Helenus dem Aneas
verkündigt haben, dass er erst, nachdem er seinen eigenen tisch geges-
sen habe , eine stadt in Italien würde gründen können , lässt Veldeke dies
nachträglich in der unterweit den Anchises tun , nur indem er die tische
in schusseln umwandelte: pag. 110, 2 fg. {dorch not solt ir e^^en \ üwer
schu^dn üf üwerm tische).
So haben wir die erste hälfte der antiken dichtung betrachtet
und schon jetzt drängt sich die beobachtung auf, dass Virgils ersten
sechs büchem ungefähr nur das erste drittel von Veldekes dichtung
entspricht. Während bei Virgil das Interesse gleichraässig zwischen den
Schicksalen des Aneas seit der Zerstörung Trojas bis zum ende seiner
Irrfahrten und seiner Schicksale in Latium geteilt ist, föllt bei Veldeke
das hauptgewicht auf die kämpfe in Latium, das übrige wird nur als
einleitung betrachtet, die mit ausnähme des liebesabenteuers am hofe
der Dido so kurz wie möglich abgetan wird.
Genauer folgt Veldeke den sechs letzten büchern der Äneide; von
pag. 110, 31 — 150, 6 ist der Inhalt des siebenten buches behandelt.
Äneas wird mit übergehung der episoden von der Cajeta, der amme des
beiden, und von der nächtlichen fahrt vorüber an der küste Circes,
sogleich zu der mündung des Tiber geführt, da noch Montalbäne stM.
Die hungrigen Trojaner bedienen sich bei der mahlzeit des brotes als
Schüsseln fflr ihr fleisch und die fische , als tische dienen ihnen kniee und
beine, sagt Veldeke: als sie nun das fleisch verzehrt haben, essen sie
auch das brot dazu und Ascanius sagt scherzhaft: „das will ich nicht
vergessen , dass wir unsre schusseln essen." Da gedenkt Äneas der werte
seines vaters und verkündet nun seinen gefährten , dass hier der ort sei,
wo sie sich niederlassen selten (bei Virgil VIT, 122 steht ein Widerspruch
gegen das frühere). Die ganze Umänderung des mensas consumere in
„die schusseln" essen beruht auf der Verschiedenheit der antiken und
der deutschen sitte beim essen; nicht mehr auffallen wird es, dass hier
wider die weitläufige einführung des königs Latinus und seiner vielum-
freiten tochter Lavinia, sowie das orakel des Pannus unterdrückt ist
(VII, 37 — 106). Aneas erfährt dass Latinus könig des landes sei und
sendet zu ihm 300 gute ritter (bei Virgil 100 oratores) nach Laurentum
mit reichen geschenken , indem er ihm seine dienste entbieten lässt. Wie
bei Virgil heisst Latinus den Äneas nicht nur in seinem lande wilkom-
VIBOIL UND HEINBICH V. VELDEKE 117
men, sondern bietet ihm auch eingedenk des götterspruches seine toch-
ter Lavinia und mit ihr nach seinem tode das ganze reich an, hier wie
dort wird die gesantschaft mit rossen beschenkt. Unterdessen ist Äneas
auf einen hohen, steilen berg am meere geritten, den er sich zum bau
seiner bürg ausersieht, sehr charakteristisch gegen das Virgilische: ipse
humili des^ignat moenia fossa molitusque locum prinmsque in litore sedes
castrorum in moreni pinnis atqueaggere cingit. Als die boten zurück-
kamen, war die bürg bereits fertig. Bei Virgil tritt nun von neuem
Juno auf, welche , da sie die besitznahme Latiums nicht verhindern kann
dieselbe so sehr als möglich erschweren will, sie reizt daher durch die
furie Ällecto die gattin des Latinus Amata gegen den ankömling auf,
gewis eine der prachtvolsten Schilderungen Virgils. Als die königin den
sinn ihres gemahls nicht wenden kann , treibt sie eine bacchantische wut
in die wäldet, und gefolgt von einer schar gleich wütender frauen ver-
birgt sie ihre tochter in tiefe Waldgebirge, dann reizt Allecto auch den
Turnus zum kämpf gegen den fremdling auf, der ihm die bereits ver-
sprochene braut und mit ihr das reich entreissen will ; endlich verwickelt
die furie den jagenden Ascanius wegen des von ihm erlegten hirsches
des Tyrrheus in einen blutigen streit mit den bewohnern des landes, bei
dem der söhn des Tyrrheus und ein angesehener Latiner fällt: die ver-
anlassung zum kämpfe der Latiner gegen die fremdlinge. Dieses ganze
eingreifen der göttin ist bei Veldeke natürlich unterdrückt, die sache
nimt ihren natürlichen verlauf. Die königin, deren name bei Veldeke
nie genant wird, begünstigt die Vermählung ihrer tochter mit dem ein-
heimischen fürsten, und hat den könig bereits dazu vermocht, gegen die
ausdrückliche Weisung des götterspruchs dem Turnus die tochter zu gelo-
ben. Jetzt setzt sie ihren gemahl, zornig über so raschen sinneswech-
sel, zur rede, und als sie nichts über ihn vermag, berichtet sie dem Tur-
nus durch einen brief die gefahr, und fordert ihn zur behauptung seiner
ansprüche auf; so beschliesst Turnus den krieg mit den eindringlingen
und besendet seine verbündeten. Unterdessen baut Äneas seine bürg
aus, die veranlassung zum offenen ausbruch des krieges gibt auch hier
die erlegung des hirsches und der sich daran knüpfende kämpf des Asca-
nius mit Tyrrheus und seinen söhnen, der mit der Zerstörung der bürg
des Tyrrheus und mit dem tode eines der söhne endigt. Hierauf plün-
dern die Trojaner das umliegende land und versehen reichlich ihre bürg
Montalbane mit lebensmitteln, der belagerung gewis. Turnus erscheint
vor dem könig Latinus und klagt die Trojaner des friedensbruches an,
als der könig die fremden in schütz nehmen und die sache durch eine
ehrenhafte sühne ausgetragen wissen will, geht Turnus zornig zur köni-
gin und wird von ihr in seinem entschlusse zum kriege bestärkt. Nicht
118 E. WÖBNEB
findet sich bei Veldeke die angäbe, dass der greise Latinus sich jetzt,
wo alles gegen ihn ist, von der regierung zurückzieht, auch die uralte
römische sitte des öffnens der porta belli ist übergangen. Es erscheinen
nun die von Turnus herbeigerufenen beere der italischen forsten, von
denen Veldeke nur die vorzüglichsten anführt; bei der Camilla und der
beschreibung ihres aufzuges, besonders auch ihres pferdes, verweilt er
wider mit besonderer Vorliebe, auch hier im anschluss an Benoit (145,
31 — 150, 6). — Pag. 150, 7 — 174, 36 entspricht dem Inhalte des
achten buches der antiken dichtung; auch hier gibt es manche abwei-
chungen, die erkennen lassen, wie durchgängig die verschlungene, man-
nigfach in einander eingreifende handlung bei Virgil in der mittelhoch-
deutschen dichfiing vereinfacht ist, was bei Virgil gleichzeitig und neben-
einander geschieht, geschieht hier nacheinander; der lauf der erzählung
entspricht dem laufe der zeit. Gleich am anfang haben Benoit -Veldeke
den eigentümlichen zug, dass Turnus seine fürstlichen bundesgenossen
versammelt, ihnen die läge der sache und das ihm von Latinus zugefügte
unrecht darlegt, und sie zur hilfe gegen Aneas auffordert, worauf Mezen-
tius sich dafür ausspricht, vorerst den Äneas zur Verantwortung vor Tur-
nus zu bescheiden, wogegen Menapus auf sofortige er Öffnung der feind-
seligkeiten dringt; letztere meinung trägt den sieg davon, und nun wer-
den die Verteidigungsanstalten beschrieben , welche Äneas auf seiner bürg
trifft. Als Venus seine gefahrvolle läge sieht, söhnt sie sich mit ihrem
gatten, dem smidegotte, wider aus, dem sie seit jenem bekanten aben-
teuer mit Mars, gram geworden war, wobei Veldeke (nach Benoit) nicht
umhin kann seinen landsleuten das bekante geschichtchen aufzutischen,
von dem sich bei Virgil nichts findet. Vulcan schmiedet hierauf für
Äneas eine prachtvolle rüstung, freilich ganz im geschmack und nacli
bedürfiiis eines mittelalterlichen ritters; jedes einzelne stück wird ein-
gehend beschrieben, während bei Virgil nur die bildwerke des Schildes,
scenen aus der römischen geschichte, beschrieben werden. Durch den
boten, der ihm die waffen bringt, erhält Äneas zugleich die Weisung der
Venus, nach Pallante zum könig Evander zu ziehen und mit ihm sich
gegen seine feinde zu verbünden. Bei Virgil empfängt Äneas diesen rat
durch den flussgott des Tiber. Hierauf stärkt Äneas den mut seiner
leute durch eine lange rede , mahnt sie zur tapfem Verteidigung der bürg
und besteigt mit seinem gefolge das schiff , das ihn nach Pallante bringt,
dorthin wo jetzt Rom steht. Äneas trifft den könig Evander vor der
Stadt, wie er eben das andenken des Hercules, des Kakustöters, feier-
lich begeht. Die latinische starasage von Kakus, von Virgil sehr aus-
führlich behandelt, ist natürlich wider bei Veldeke mit wenigen worten
abgetan. Eakus ist ihm ein monstrum^ man weiss nicht ob er sich
VmOIf. UND HSIN&ICH V. VELDEKE 119
darunter einen lindwurm oder einen riesen gedacht hat; ebenso ist die
rede des Evander, in welche Virgil die ganze Urgeschichte des landes
von der regierung des Saturnus an eingeflochten hat, bei Yeldeke ganz
übergangen. Nur das was zur motivierung des freundlichen empfanges
beibehalten werden muste, nämlich dass sich^ Evander als gastfreund
des Anchises zu erkennen gibt, ist beibehalten worden; freilich ist bei
Veldeke Evander selbst in Troja gewesen, während umgekehrt bei Vir-
gil Anchises in Arcadien mit Evander zusammengetroffen ist. Bezeich-
nend ist es^ dass die fast ärmlichen und beschränkten Verhältnisse des
königs Evander, wie sie Virgil darstellt, um den gegensatz zu der nach-
maligen grosse und pracht der weltbeherschenden stadt hervorzuheben,
bei Veldeke sich nicht finden. Ihm ist Evander ein mächtiger könig,
der die schwertleite seines sohnes Pallas mit einer glänzenden festlich-
keit begeht, und der dem Aneas 10,000 mannen und 50 schiffe mitgibt.
So hat sich das mittelhochdeutsche gedieht den bund mit den Etruskern
erspart, zu welchem bei Virgil Evander den Aneas veranlasst, ebenso-
wenig weiss es freilich auch von der Sendung des Venulus zum Diome-
des nach Argyrippa, von der Virgil gleich im beginn des buches erzählte.
Mit diesem mächtigen heere tritt nun Än^as die rückfahrt an.
174, 37 — 198, 34 umfasst den Inhalt des neunten buches, dessen
Inhalt die belagerung der bürg oder des lagers der Trojaner ist. Bei
Virgil begint das buch damit , dass Juno durch die Iris dem Turnus die
entfernung des Aneas von den seinen kund tut und ihn zum beginn des
kampfes in diesem günstigen Zeitpunkte auffordert. Natürlich ist dieser
eingang wider in der deutschen Äneide unterdrückt, Turnus erföhrt dass
Aneas entronnen sei, und entschliesst sich die bürg zu belagern, die er
schnell zu erobern gedenkt. Bald merkt er aber, dass die bürg fest
und gut verteidigt ist, er muss sich nach dem ersten angriff mit gros-
sem Verluste zurückziehen , etwas anders bei Virgil. Darauf entdeckt er
die schiffe der Trojaner am ufer und lässt sie verbrennen, damit die
feinde nicht entkommen können ; nichts ist hingegen von dem wunder zu
lesen , durch welches bei Virgil die schiffe von Jupiter auf Cybeles bit-
ten in meernjrmphen verwandelt werden; bei Virgil begint auch der
Sturm aufs lagcr der Trojaner erst am folgenden morgen, die Latiner
hatten erwartet, dass die Trojaner eine offene feldschlacht eingehen wür-
den. Hierauf lagert sich das feindliche beer vor der bürg des Aneas und
überlässt sich, berauscht vom weine, von spiel und sang müde, einer
sorglosen ruhe; nichts weiss Veldeke von den Wachtposten, die in Vii-
gils Äneide das lager umstelt haben. Es folgt nun die episode von dem
nächtlichen gang des Euryalus und Nisus, in welcher Virgil entschieden
sentimentaler ist als Veldeke. Das abenteuer geht hier wie dort auf
120 B. WÖKNBR
gleiche weise aus, nur dass bei Veldeke Volscens „der here Volzän ze
Laurente'' mit dem leben davon komt. Am andern morgen zieht das
beer des Turnus zum stürm heran ; bei Virgil werden die köpfe des Nisus
und Euryalus vor dem beere hergetragen, während sie bei Veldeke an
einem galgen aufgehängt werden. Von den klagen der mutter des Eurya-
lus weiss die deutsche Aneide nichts. Nun folgt die beschreibung des
Sturmes auf das lager, die in den hauptmomenten genau nach Virgil
gedichtet ist; erst die allgemeine beschreibung des sturmes, dann der
Sturz des von Lycus und Helenor verteidigten turmes, hierauf die erle-
gung des prahlenden Eomulug durch Ascanius, endlich die grostaten der
beiden riesen Pandarus und Bytias am geöifheten tore der veste, beider
tod durch Turnus und dessen einschliessung in der bürg, aus welcher er
sich schliesslich durch einen sprung in den Tiber rettet. Veldeke lässt
ihn dagegen durch das burgtor hinausschlüpfen , als dieses von Pandarus
wider geöffnet wird , um die vor den toren kämpfenden Trojaner herein-
zulassen. Es kehrt nun Turnus zu den seinen zurück und aus den gros-
sen Verlusten, die sein beer erlitten hat, lässt sich erkennen, dass das
unrecht auf seiner seite ist.
198, 35 — 214, 40 entspricht dem Inhalte des zehnten buches;
der ganze anfang des buches bis 256 ist in der mittelhochdeutschen
dichtung übergangen. Natürlich ist es wider die götterversamlung
(X, 1 — 117), die gestrichen wurde; sie erscheint allerdings auch bei
Virgil für den fortschritt der handlung ziemlich überflüssig, denn ver-
geblich versucht Jupiter die Juno und Venus zu versöhnen und stelt
schliesslich doch alles dem Schicksale anheim. Ebensowenig geschieht
bei Veldeke des bündnissos erwähnung, welches Äneas mit den gegen
Mezentius empörten Etruskern schliesst, und somit ist auch die aufzäh-
lung der oberitalischen bundesgenossen des Äneas (bei Virgil X, 163
bis 214) überflüssig geworden. Der weite um weg ist in der deut-
sehen Aneide dem Aneas erspart worden, er erhält sogleich von Evan-
der die ansehnliche hilfsmacht von 10,000 mann, mit denen er auf
50 schiffen zu den seinen zurückkehrt. Ebensowenig bedarf es jetzt der
nymphen, in welche seine schiffe verwandelt worden sind, um ihm die
bedrängnisvolle läge der seinigen zu melden (X, 215 — 56), selbst die
ausführliche und lebendige beschreibung von der landung der etruskischen
flotte (256 — 309) ist mit wenigen werten abgetan. Veldeke hält sich
nirgends lange bei diesen einzelheiten auf; am nächsten morgen begint
bei ihm der stürm auf die bürg von neuem, da sehen die belagerten
den Aneas mit seiner flotte herbeikommen und beginnen vor freude zu
singen und zu blasen. Turnus hätte jenen zwar gern „die zufahrt genom-
men ,^^ aber sie sind bald aus den schiffen auf die rosse gekonunen, und
VIBOIL UND HBINBICH V. VELDEKE 121
nun begint die offene feldschlacht zwischen beiden beeren ; auch hier hat
Veldeke alles viel kürzer als Virgil erzählt. Abweichend von Virgil
begint die feldschlacht damit , dass Pallas und Turnus zwischen den bei-
den beeren ihre lanzen brechen, nun erst folgt der massenkampf; Vel-
deke hilft sich über die ausfuhrliche beschreibung desselben hinweg mit
den Worten: „es wäre allzu lang zu sagen, wer da fiel und wer da stach,
und wer da seine Speere brach, wer da starb und wer da schlug, denn
es waren deren viele und genug," nur lässt Turnus 20mal mehr tote
auf dem platze als Äneas. Unterdessen schickt Ascanius aus der bürg
500 ritter dem Äneas zu hilfe, die dem feinde viel schaden tun; bei
Virgil komt Ascanius selbst mit den belagerten Trojanern aus dem lager,
aber zu einem andern Zeitpunkte des kampfes, erst nach dem tode des
Pallas (cf. 602 — 605); so dauert das blutige kämpfen bis nachmittag.
Da gelingt es dem Turnus, einen teil der Trojaner in die flucht zu
schlagen (bei Virgil sind es die mit Pallas gekommenen Arcader). Der
junge Pallas bringt sie durch seine werte zum stehen und geht nun
selbst auf Turnus los , vor dem sie fliehen. Es folgt der Zweikampf zwi-
schen Pallas und Turnus, der mit des ersteren tode endigt Bei Virgil
nimt Turnus dem erschlagenen feinde das wehrgehenk von kostbarer
arbeit, bei Veldeke das ringlein, welches Äneas seinem jungen genossen
geschenkt hatte. Bei Virgil folgt nun d^s wüten des Äneas in den rei-
hen der feinde; Juno, dadurch um das leben des Turnus besorgt, lockt
diesen durch ein scheinbild des Äneas auf eins der schiffe, dessen anker-
seile sie alsbald löst. Turnus treibt in das offene moer hinaus. Auch
hier ist bei Benoit und nach ihm bei Veldeke mit offenbarer absichtlich-
keit das eingreifen der göttin unterdrückt worden, ein schütze, der sich
in einem der schiffe geborgen glaubt, verwundet von dort aus den Tur-
nus durch einen schuss , dieser springt in das schiff und tötet den schützen,
dabei aber löst sich das ankerseil und der wind treibt das schiff ins
offene meer; am andern morgen f&hrt der umspringende wind das schiff
wider ans land : vor eine horch da DampnAs sin vater here über was —
pag. 210, 28 f. (X, 688 et patris ardiquam Dauni defertur ad urbem).
Nun erst wendet sich Veldeke zur beschreibung der beiden taten, die der
über Pallas tod ergrimte Äneas volbringt, und Veldekes werte : her machetc
eine strafe enalmitten dorch^ gedrank — entsprechen ziemlich genau
den werten Virgils v. 513 f. latumque per agmen ardens liniitem agit
ferro. Für Turnus tritt nun bei Virgil und bei Veldeke Mezentius ein,
und sein und seines sohnes tragisches geschick wird in der deutschen
dichtung ziemlich getreu nacherzählt: Mezentius muss von Äneas ver-
wundet bald das Schlachtfeld verlassen, es tritt für ihn sein söhn Lau-
sus ein, der zuletzt den streichen des Äneas erliegt. Bei der künde
122 E. WÖRNEB
davon kehrt der alte Mezentius, der seiner wunden gepflegt hat, in den
kämpf zurück, um sich an Aneas zu rächen, es ereilt ihn aber dasselbe
geschick. Auch hier sind einzelne züge Virgils, z. b. der, dass Mezen-
tius sein schlachtross Rhoebe anredet, als er zum letzten kämpfe gelit,
in der höfischen dichtung nicht zu finden. Veldeke schliesst den kämpf
mit den worten : „ der storm wert allen dein taeh \ un^ da^ in diu 'naht
schiet, aJsus saget uns daz, lietJ^
215, 1 — 246, 40 umfasst den inhalt des elften buches, wider
mit wesentlichen abkürzungen, aber auch erweiterungen. Gleich der
anfang des buches, wo Aneas aus den erbeuteten waflFen des Mezentius
dem Mars ein tropaeum errichtet, ist in dem höfischen gedieht unter-
drückt, es war ja dies eine dem raittelalter unverständliche sitte. Es
wird bei Veldeke gleich die gesantschaft der Latiner (bei Virgil XI,
100 — 138) heraufgenommen, welche um einen Waffenstillstand für die
Verbrennung der toten bittet, und darauf in zwei halbzeilen die Verbren-
nung der toten erwähnt, die Virgil ausführlich schildert (XI, 182 — 224);
um so ausführlicher erzählt das deutsche gedieht die heimsejidung der
leiche des jungen Pallas, und hier ist wieder in einem zuge erzählt, was
bei Virgil durch eine episode unterbrochen ist (XI, 29 — 99. 138-180).
Die meisten momente der erzählung Virgils finden sich bei Veldeke wider,
der grund , warum andere unterdrückt sind, lässt sich leicht erkennen ; z. b.
findet sich bei Veldeke nicht die schöne vergleichung des toten Pallas mit
einer geknickten blume (XI , 68 fg.) , die doch selbst Benoit de Sainte
More beibehalten hat, einmal weil Veldeke consequent allen bildern «aus
dem wege geht, und dann weil ihm wahrscheinlich die Zusammenstel-
lung eines gefallenen ritters mit einer blume unpassend schien; die bei-
gäbe der kriegsgefangenen , die als totenopfer fallen sollen (XI, 81. 82),
war für jene zeit ungeniessbar , und das hinter der leiche weinend her-
schreitende streitross Äthra war wol auch fürs mittelalter unverständlich.
Dagegen ist die bahre, bei Virgil ein einfaches geflecht aus baumzwei-
gen (stramen agreste v. 67), bei Veldeke (nach Benoit) mit elfenbein,
edelsteinen und kostbaren gewändern reich geziert, und auch bei ihm
werden dem leichenzuge die rosse, Schilde und waffen beigegeben, die
Pallas erbeutet hat. Fast noch inniger als bei Virgil klingt in der höfi-
schen dichtung die klage des Äneas um den gefallenen; bei Virgil findet
man nicht den zug, dass Äneas mit gewalt von der leiche hinweggeria-
sen werden muss: sere er weinen began, unze in sine wise man mit
gwalde darvon brächen (p. 219, 7); wortreicher als der antike dichter,
aber auch lebenswahrer ist der deutsche hier, wo er die ausbräche des
Schmerzes erzählt, bei dem waffengenossen, bei dem vater und bei der
mutter; von drei verschiedenen gesichtspunkten aus leiht unser dichter
VIBOIL UND HBINSICH V. VELDBKE 123
dem schmerze worte , (man muss hier beachten , dass bei Virgil die mut-
ter des Pallas schon längst verstorben ist). Über Virgil hinaus wird
nun mit umgehender genauigkeit und mit sichtlicher Vorliebe für den
gegenständ die bestattung des Pallas in der heimat erzählt, das grab-
gewölbe, die grabschrifk, die unverlöschliche lampe, die noch braute,
als unter kaiser Friedrich das grab in Rom aufgefunden wurde , cf. p. 226.
(Ettmüller, vorrede zur ausgäbe p. XVT.) Benoit hat von der aufßndung
des grabes nichts. Die deutsche Äneide geht nun sogleich zu der ver-
samlung über , die der könig Latinus zu sich berufen hat in der absieht,
mit Äneas frieden zu schliessen. Kurz wird die rückkehr des Turnus
angedeutet, die rückkehr der zu Diomedes geschickten gesanten musto
natürlich auch hier unterbleiben , da schon früher ihre abseudung über-
gangen war. Die grimdgedanken der fiiedensrede , die bei Virgil könig
Latinus hält, lassen sich noch bei Veldeke widerfinden; er erklärt sich
bereit, dem Aneas das land zu Tuscäne zu lehen zu geben (cf. XI,
316 — 323), oder wenn er abziehen will, ihm zum neubau seiner flotte
behilflich zu sein. Die Charakteristik, die Virgil von dem beistimmen-
den Drances entwirft, hat sich auch bei Veldeke noch erhalten und dem
largus opum et lingua mdior sed frigida hello dextera (XI, 338) ent-
spricht ziemlich genau das Veldekische her was wise unde riche, . . .
vertoi^n unde redehaht, niwan da^ her ungerne vaht. Drances ist es,
der zur entscheidung des ganzen Streites einen Zweikampf zwischen Äneas
und Turnus vorschlägt und so den gedanken anregt, der die neue Wen-
dung der handlung bedingt; auch die spottende gegenrede des Turnus
hat Veldeke (nach Benoit) ziemlich treu widergegeben. Das boshafte
wort: üwer ros is so getan, \ swenne ir^ rüret mit den sporen, \ ez, lou-
fet allen den bevoren, \ die ü zu sprengen \ die verre und ouch die
letige, lässt sich wol vergleichen mit Virgils: An tibi Mavors ventosa
in lingua pedibusque fuga^cibus istis semper erit? v. 389 flf. (nur ist
im deutschen viel mehr humor). Es wird nun plötzlich die versam-
lung durch die nachricht aufgelöst, dass das beer des Äneas gegen
die Stadt anrücke. Nach Virgil XI, 511 — 26 hat Äneas die leichte
reiterei in der ebene gegen die stadt vorangeschickt, er selbst sucht
durch das gebirge auf um wegen dahin zu gelangen; diese Situation ist
bei Veldeke nicht klar dargelegt; vielleicht lag dies an seinem franzö-
sischen vorbilde; Turnus durch kundschafter gewarnt legt sich gegen
Äneas in einen hinterhalt, während Messapus und Camilla gegen die
leichte reiterei der Trojaner kämpfen müssen; es begint nun die erzäh-
lung des reitergefechtes , und mit ihm tritt Camilla in den Vordergrund.
Virgil unterlässt auch hier nicht eine göttin, die Diana, unmittelbar an
dem Schicksale der Camilla zu beteiligen; auch dies ist natürlich wider
124 E. WÖRNER
in den dichtungen des mittelalters übergangen. Die Trojaner werden
zuerst durch den heldenmut der Camilla und ihrer Jungfrauen aus dem
felde geschlagen. Die lebendige beschreibung des hin und her wogen-
den reitergefechtes bei Virgil hat die deutsche dichtung nicht , eigentüm-
lich ist ihr die auffassung , nach welcher die Trojaner zuerst die Camilla
und ihre Jungfrauen für göttinnen oder meerweiber (merminne) halten und
deshalb scheu vor ihnen fliehen, bis endlich einer von ihnen, Örilocus
(bei Virgil Orsilochus, derselbe, welchen dort Camilla im laufe einholt
und tötet, 694 — 720), eine der kriegerinnen erlegt und dadurch seinen
landsleuten die furcht vor den vermeintlichen göttinnen nimt. Nun trei-
ben die Trojaner die Camilla mit ihrer schar zurück, bis sie endlich
wider von Messapus vor Laurentums mauern in die flucht gejagt wer-
den. Da reitet der ritter Tarcün, ein harde hobesch Trojan (bei Virgil
ist Tarcho der anführer des etruskischen heeres XI, 727) hervor und
verspottet die Camilla, der besser ein anderer kämpf anstünde, nämlich
da^ vekten umb die minne, in dem sie wol immer siegen würde. Es
ist bemerkenswert, wie hier die ursprünglichen werte Tarchons verkehrt
sind. Bei Virgil reitet dieser ins treffen , stellt die Schlachtordnung wider
her, und schilt seine leute, dass sie vor einer frau die flucht ergriflFen;
V. 734 ff. femina palantes agit atque haec agmina veriit? quo ferrum
quidve haec gerimus tda irrita dextris? At non in Venerem segnes
nocturnaque hella, aut ubi curva choros indixit tibia Bacchi, exspectare
dapes et plenae pocula mensae et q. s. Bei Veldeke büsst Tarcün seine
spottrede mit dem leben, bei Virgil ermutigt er durch die gefangennähme
des Venulus seine leute, und so weicht auch in der erzählung vom tode
der Camilla die deutsche Äneis in nebenzügen von Virgils darstellung
ab, sie stirbt hinterlistig erschossen von dem schützen Arras (bei Virgil
Aruns), der ihr schon lange nachgeschlichen ist, und während dieser
Aruns bei Virgil durch den rächenden pfeil der nymphe Opis getroflFen
wird, die von der Diana aufgestellt ist denjenigen zu strafen, der den
tod der Camilla verschuldet, erliegt er bei Veldeke dem Schwertstreiche
einer der Jungfrauen. Die flucht der Latiner nach dem falle der Camilla
und das blutbad vor den toren Laurentums wird bei Veldeke kurz abge-
tan mit den werten, dass jene nun das feld räumten und dass Turnus
auf die nachricht vom tode der Camilla seinen Unterhalt verliess und
zur Stadt zurückkehrte. Nach abzug des Turnus komt bei Virgil Aneas
mit seinem beere an und findet den weg nach der Stadt oflen ; man sieht
hier wider die Unklarheit der Situation in der deutschen Äneide, in
der es heisst, Äneas habe zwar den Turnus abreiten sehen, aber nicht
gewagt ihn zu bestehen, da er nur 200 ritter bei sich gehabt; es wird
hier überhaupt nicht klar, wo Äneas die ganze zeit über geblieben ist.
VBBGIL UND HEINRICH V. VELDEKB 125
Beide beere schlagen hierauf vor Laurentum ihr lager auf. Aneas in der
absieht, nach diesen niederlagen des feindes die stadt zu belagern.
p. 247, 1 — 332, 26 umfasst den inhalt des zwölften buches. Hier
bewegen sich die mittelalterlichen dichter am freiesten. Gleich der erste
abschnitt dieser partie (247, 1—256, 10) ist eine freie erfindung des
französischen dichters, welcher Veldeke folgt. König Latinus bittet den
siegreichen Äneas um einen Waffenstillstand von 40 tagen , der ihm auch
gewährt wird. So gewint der dichter zeit ausfuhrlich zu beschreiben,
wie die leiche der Camilla von Turnus unter grossem gepränge heim-
gesendet, und sodann wie die Camilla bestattet wird. Die genaue beschrei-
bung ihres grabmals und seiner Schönheit, ihrer grabschrift, der unver-
löschlichen lampe und von anderem dergleichen wird hier , wie früher bei
der bestattung des Pallas, widerholt. Erst nachdem dies alles breit
erzählt ist, f&hrt der dichter mit dem weiter fort, was bei Virgil den
anfang des buches ausmacht, damit, dass sich jetzt endlich Turnus ent-
schüesst, dem kriege durch einen Zweikampf ein ende zu machen. Tur-
nus beharrt bei seinem vorsatz, trotz der abmahnenden rede des königs
(und trotz der bitten der königin nach Viigil). Der abgelaufene Waffen-
stillstand wird zur Vorbereitung far den Zweikampf noch um vierzehn tage
verlängert (so bei Veldeke, bei Benoit um acht tage, bei Virgil XII,
75. 76 soll er gleich am nächsten tage stattfinden). Hiermit gewinnen
wider die höfischen dichter zeit die episoden einzuflechten , auf die es
ihnen besonders ankam, nämlich die Unterredung der königin mit ihrer
tochter Lavinia von der minne. Die mutter will der tochter lehren, dass
sie den Turnus lieben, Aneas hassen muss, die tochter will überhaupt
nichts von der minne wissen; auch in diesem berühmten gespräch zwi-
schen mutter und tochter, welches Gervinus für reine erfindung des deut-
schen dichters hielt, ist dieser in vielen stücken dem französischen ori-
ginale gefolgt, wenn auch nicht in allen. Da während des Waffenstill-
standes beide parteien friedlich mit einander verkehren , reitet eines tages
(nach jener Unterredung über die minne) Äneas mit seinem gefolge vor
die mauern der stadt und hält gerade gegenüber dem palaste. des königs.
Da sieht Lavinia den schönen ritter und wird alsbald von liebe .zu ihm
ergriffen, der dichter sagt: do scJw^ si frouwe Venus mit einer schar^
phen sträle; sie, die vorher von ihrer mutter gar keine belehi-ung über
die minne annehmen wolte^ weiss jetzt auf einmal, wie minne tut i^d
was minne ist Die mutter bemerkt am andern morgen die Veränderung,
die im wesen der Lavinia vor sich gegangen ist , und nimt sie nuiv' ins
gebet; nach langem zögern gesteht jene endlich der königin, di^ ihr
nur die minne zu Turnus erlaubt hatte, dass sie den Trojane,,, lieb
habe, sie kann das aber nicht sagen, sie schreibt es (auch der z^ig und
126 E. WÖRNER
die stelle 282, 16 — 22 ist genau nach Benoit). Nun ist die königin
zornig und sagt dem Aueas, dem treulosen Trojaner, alles schlechte nach,
aber Lavinia bleibt standhaft in ihrem glauben an ihn; das mägdleiu
weiss sich aber keinen andern rat , als durch einen brief Äneas ihrer minne
zu versichern, den brief bindet sie an einen pfeil und als am mittag
Äneas wider zur bürg geritten komt, lässt sie durch einen schützen den
pfeil zu Äneas hinunterschiessen. Der lässt den pfeil aufheben und ent-
deckt bald an ihm den minniglicheu brief; er grüsst hinauf zur Jungfrau,
die im fenster liegt, sie grüsst hinunter und damit ist die ,fruntscliaft'
zwischen den beiden eröffnet. Äneas klagt die nacht über seine liebes-
leiden gerade so, wie in der vorangegangenen nacht die Lavinia. Am
andern tage erwartet Lavinia ungeduldig den geliebten; als er lange
ausbleibt, steigen allerlei zweifei in ihr auf und kleinmut bemächtigt
sich ihrer, wofür sie sich aber um desto grössere vorwürfe macht, als
sie Äneas endlich daherreiten sieht. Nun begint das hinauf- und hin-
untergrüssen von neuem. So wird die erwerbung der Lavinia in der
höfischen dichtung fär Äneas eine herzenssache ; bei Virgil ist Lavinia
nur eine beigäbe, an die sich das reiche erbe des Latinus knüpfte. Der
tag des Zweikampfes komt nun heran. König Latinus erscheint gefolgt
von seinen forsten auf dem kampfplatze , er selbst führt seine götter mit
sich, sagt Veldeke, auf welche jene schwören selten. Die feierlichen
eide, wie sie Virgil ausfuhrt (XII, 175 — 215), sind bei Veldeke kurz
abgetan, dafür lässt er den Aneas eine längere rede halten, in der er
mit berufung auf seinen ahnherrn Dardanus, der könig in Italien wai*,
ein altes recht auf das land nachzuweisen sucht (cf. 309 , 10 ff.) : alsus
hin ich in ir (der gote) geböte kamen an min rehte^ erbe^ und sodann im
fall seines todes für Ascanius seinen söhn freien abzug fordert. Noch
ehe es zum Zweikampf komt , erhebt sich ein streit zwischen beiden bee-
ren. Bei Virgil hat wider Juno die Schwester des Turnus, Juturna,
aufgereizt, dass sie den beschworenen vertrag breche und ihren bruder
dem gewissen tode entreisse (134 — 160). Juturna stachelt unter der
gestalt desjÖJtmers die Eutuler auf, das unbillige bündnis und den Zwei-
kampf zu hintertreiben. Diese werden in ihrer Sinnesänderung noch
bestärkt durch ein ihrer sache scheinbar günstiges anzeichen, günstig
au^h von ihrem seher Tolunmius gedeutet, der selbst der erste ist,
wacher die lanze gegen die Trojaner schleudert Bei den höfischen dich-
terta ist wider die Ursache dieses Vertragsbruches einfach auf einen edlen
ritteü: zurückgeführt. Es erhebt sich nun ein allgemeines getümmel , könig
Latinus flieht mit seinen göttem davon, Äneas will den streit scheiden,
wirdvaher durch einen pfeil verwundet und muss aus dem getümmel
gefüh^ werden. Bei Virgil versucht vergeblich der arzt lapis seine
VIRQIL UND HEINRICH V. VELDEKE 127
kunst an der wunde, Venus muss herbeikommen und mit dem auf dem
kretäischen Ida gepflückten (liciammimy mit anüyrosia und pnnacea die
wunde heilen (383 — 429) , in dem höfischen gedieht tut dies alles der
arzt Lapis mit dem „triakeV^ und ^.dictam" und einer kleinen zangc,
er heilt die wunde mit „pigmenf" und mit einem mächtigen pflaster auf
der stelle (314). Unterdessen hat Turnus, als er seinen feind verwun-
det aus dem kämpfe bringen sieht , neue hofifnung geschöpft und ist rasch
den seinen zu hilfe gekommen , es entbrent wider eine heftige schlacht,
aus welcher Veldeke besonders den kämpf des Trojaners Neptanabus (ein
name, der sich bei Virgil nicht findet)* mit Turnus hervorhebt; endlich
müssen die Trojaner weichen, bis der gesundete Äneas wider zu ihnen
komt, nun wird Turnus samt seinen leuten in die flucht geschlagen,
Äneas rückt gegen die stadt selbst heran und steckt die Vorstädte in
brand; bei Virgil tritt hier die episode vom Selbstmorde der königin ein,
in der deutschen dichtung wird der tod der königin erst an späterer
stelle erzählt. Turnus erbietet sich jetzt, da er die stadt in solcher
gefahr sieht, von neuem, den Zweikampf aufzunehmen, schnell werden
die Vorbereitungen dazu getroflfen, die beiden ritter rüsten sich zum ent-
scheidenden kämpfe. Hier bringt der höfische dichter wider einen eigen-
tümlichen zug herein : Lavinia schaut oben von der bürg dem kämpfe zu,
und da wünscht sie, um dastehen des Äneas besorgt, dass sie ihm eines
von ihren kleinodien gegeben hätte , welches ihn im kämpfe schützen und
stark machen würde. Die hauptmomente des Zweikampfes, wie sie Vir-
gil darstellt, lassen sich auch noch bei Veldeke erkennen. Bei Virgil
das werfen der Wurfspeere , bei Veldeke das brechen der lanzen zu rosse,
dann der schwerterkampf, der damit endigt, dass dem Turnus die klinge
springt, dann die flucht des waffenlosen, der zuletzt einen grossen stein
ergreift und damit den Äneas trifft , dass dieser wankt und kaum stehen
kann ; am Schlüsse greift Turnus nach seinem zerbrochenen speerschafte,
seiner letzten waffe. Äneas schlägt ihm den -dickschenkel durch, (bei
Virgil durchbohrt er ihm mit dem speer die hüfte v. 92G). Da fleht
der bezwungene feind um Schonung seines lebens, und Äneas würde es
ihm geschenkt haben , hätte er nicht an seinem finger das ringlein erblickt,
welches er zuvor dem Pallas geraubt hatte; eingedenk des schwures
den tod des jungen Pallas zu rächen, versetzt er ihm den todesstreich.
Hier schliesst die Äneide Viigils. Veldeke spricht dem gefallenen noch
den preis eines wahren ritters zu. Juturna und Juno und die von Jupi-
ter gesante Megaera sind auch in dem letzten kämpfe in der höfischen
dichtung aus dem spiele geblieben. Was nun noch folgt ist die erfin-
dung des französischen dichters: 332, 27 bis zum schluss.
1) Der uaiiie NeptaDubus staint aus der Alexandersage; dort fahrt ihn der zu
Alexanders vater gemachte letzte einheimisehe könig von Aegypten. Z.
128 E. WÖBNER
Nach beendigtem kämpfe erinnert Äneas den Latinus an sein ver-
sprechen ihm die Lavinia zum weibe zu geben und der könig komt mit
ihm überein, über 14 tage die hochzeit zu begehen. Er reitet zurück
in seine herberge, ohne die Lavinia gesehen zu haben, zu deren gros-
sem leidwesen; denn jene erkent darin, mit der eigentümlichen reizbar-
keit der liebenden, eine arge Zurücksetzung, und desto mehr bereut
nachher Äneas seine Unterlassungssünde, doch sind die vorwürfe, die er
sich macht, bei Veldeke kürzer als bei Benoit. Milde erweist er sich
jetzt gegen die, welche seine gnade suchen, überall hin tragen die boten
die einladung zu seinem hochzeitsfeste. Vor der hochzeit besucht er
noch einmal in festlichem aufzuge seine braut, ein zug, der sich bei
Benoit nicht findet, und sendet ihr und ihren frauen reiche geschenke.
Hier erst flicht das deutsche gedieht die zornige rede der alten königin
ein, der die Verheiratung ihrer tochter mit dem Äneas ein greuel ist;
nicht wie bei Virgil legt sie selbst band an sich, vielmehr „mit großen
rouwen " liegt sie an ir bete , bis ihr der tod ins herz kam. Auch davon
findet sich bei Benoit nichts. Nun ziehen forsten und ritter in grosser
menge zum feste herbei, und auch die spielleute bleiben nicht aus; es
wird ein so prächtiges und grossartiges fest gefeiert, wie es nirgends
gefeiert worden ist, wenn nicht die festlichen tage von Mainz, wo kai-
ser Friedrich seinen söhnen die Schwerter gab, sich ihm gleichstellten.
Hierauf erzählt der dichter das eheliche glück des Äneas , wie er seinem
söhn Ascanius einen teil seines reiches mit dem neuerbauten Albano
gibt, wie ihm die Lavinia den Silvius gebiert, dessen söhn der Silvius
Aeneas ist und dessen nachkommen in weiterer folge Bomulus und Bemus,
die gründer Boms. Dann erwähnt er, wie aus dem geschlechte des
Ascanius lulus und des Bomulus ein mächtiger fürst geboren wurde,
Julius Caesar , welcher der werlde vil betwank , bis er zuletzt von Sena-
toren getötet wurde, und dass nach ihm gewaltig im römischen reiche
Augustus herschte, unter dem Christus geboren sei, der uns alle erlöst
habe. So schliesst das gedieht mit einem änien in nomine domini.
Das resultat dieser vergleichenden darstellung lässt sich kurz dahin
zusammenfassen, dass die vielfach mit episoden durchwirkte und durch
diese retardierte handlung der antiken dichtung bei Veldeke vereinfacht
ist, und schlicht und recht, ohne viele ab weichungen von der hauptstrassa
der erzählung, immer gerade auf das ziel lossteuert. Schon aus der obi-
gen vergleichung geht hervor, wie abwehrend sich der höfische dichter
zu dem ganzen mythologischen apparat Virgils verhält. Es ist bei ihm
fast regel geworden, die episoden, welche die unmittelbare einwirkuug
irgend einer gottheit zum gegenstände haben, ohne weiteres zu unter-
drücken , und dass er dies tat , erklärt sich aus der christlichen anschau-
VIRGIL UND HEINRICH V. VELDEKE 129
ungsweise seiner zeit, der ein so unmittelbares teilnehmen der götter an
den menschlichen und irdischen handeln nur befremdlich, wenn nicht
anstössig gewesen wäre; aber noch mehr, auch gegen die unerschöpfliche
fülle von notizen über eigentümliche sitten und brauche des classischen
altertums , vor allem auch gegen die antike geographie , verhält sich unser
dichter gleichgiltig , und wie konte es anders sein in einer zeit, der
selbstverständlich noch aller sinn für objective auffassung des altertums
abgehen muste? und in einem gedichte, das fiir die höfischen kreise
jener zeit gedichtet war?
In Virgils Äneide kämpfen fortwährend Venus und Juno mit ein-
ander. Jede spur dieses antagonismus konte Veldeke nicht unterdrücken,
weil darin zu tief der gang der handlung begründet ist. Aber doch
erscheint Juno bei ihm nur an zwei stellen und zwar im anfange des
gedichtes, und bezeichnend genug ist es, dass sie während der kämpfe
in Latium niemals erwähnt wird, im strengsten gegensatze zu Virgil, der
hier erst recht ihre tätigkeit anheben lässt. Die erste jener beiden stel-
len (spalte 21 fif.) sagt von der Juno, sie habe „dorch den apphcl van
ifdde \ den Paris froun Venüse gdb'^ den Äneas gehasst und ihn sie-
ben jähre lang von dem lande zurückgehalten, wo er gern gewesen wäre;
einmal habe sie ihm gar unsanft ihre macht gezeigt, und seine schifte
drei tage und nachte mit Unwetter heimgesucht. (Des Aolus wird, hier-
bei nicht gedacht). An der anderen stelle (sp. 27, 25) heisst es, nahe
dem palaste der Dido habe ein tempel der Juno gestanden, in welchem
die göttin früh und spät verehrt worden sei, damit sie Karthago zur
hauptstadt aller reiche mache. Aber von nun an verschwindet die göt-
tin aus der erzählung. Häufiger tritt in der höfischen dichtung die göt-
tin Venus handelnd auf. Gleich im anfange des gedichtes wird sie als
die mutter des Äneas eingeführt: y, Venus diu gotinne, diu frowe is über
die minney wäre sin müder und Cupidö sin hrüder'' Sie ist es, welche
den mund des Ascanius mit ihrem feuer berührt, so dass Dido, die ihn
küsst, von heftiger liebe zu Aneas erfasst wird; sie sendet der Dido die
mächtige liebe : „ die starken minne sande \ diu gotinne Venus \ frouwen
IHdön ze hüs'* (38, 14 ft*.), und denselben gedanken variiert der dichter
mit Vorliebe ; so heisst es 38 , 38 : „ ir Venus die strcde in da^ herze
geschö^y" und dazu komt nun nochCupido, der früh und spät sein feuer
an die wunde hält (p. 39). In ihrer liebesqual fleht Dido den Cupido und
die Venus um gnade an, und als sie dann vorgibt, sich durch das
magische opfer von der unseligen liebe zu Äneas frei machen zu wollen,
sagt sie: „icÄ mü^ ein opher nmcJien dem gote von der minne und Veneri
der gotinne'' (p. 75, 7); ihnen beiden gibt sie auch die schuld, dass sie
ihr das herz so ganz genommen hätten, dass ihr jetzt alle ihre sinne
ZE1TSCHK. P. DEUTRCHE PHIl.OL. «D. III. 9
130 E. WÖRNER
nichts nützteu. Hierauf tritt Venus aber erst wider im zweiten teile
des gediclites auf, als sie ihren söhn von den feinden bedroht sieht ; sie
beredet den Vulcan ihm die prachtvolle rüstung zu fertigen , und verweist
ihren söhn durch den boten, der ihm die rüstung bringt, auf das bünd-
nis mit dem könig Evander. Hier ist sie also auch . ausserhalb ihres
eigensten gebietes , ausserhalb der minne tätig. Zuletzt erobert sie noch
das herz der Lavinia fiir den Aneas, sie verwundet auch diese „mit
ehicr scharphen sfräle," als das mägdlein zum ersten male den schönen
Trojaner erblickt. Wir sehen also, der dichter lässt sie fast nur da
auftreten, wo die minne ins spiel komt, und eben wegen des ausgebil-
deten minnecultus war Venus unter allen antiken gottheiten im mittel-
alter die bekanteste , sie ist nur das antike gegenstück zu der deutschen
frotiwe Minne, und auch frouwe Minne ist bei den höfischen dichtem
durch ihre pfeile den herzen der armen sterblichen sehr gefahrlich; so
sagt ja Walther v. d. Vogelweide 40, 32: frowe Minne ir hat mich
(feschoz,s,efH ; 40, 36: ich toei^ wol ir Jmbet strale mef muget irs in ir
herze schieben. Gewöhnlich erscheint bei Veldeke die Venus in beglei-
tung des Cupido oder sogar des Amor und Cupido. Aneas selbst, als
er von heisser liebe zu Lavinia erfasst ist, beklagt sich über Amor und
Cupido : „ die mine brüder solden sin und Venus diu müder min "
(293, 10). Die alte königin belehrt ihre tochter Lavinia folgendermasseu
über die minne (p. 264): „ du hast dicke wol gesehen | wie der here Amor
stet in dem imipld , da man in get | engegen der ture inne, da^ bezeichent
die Minne /^ und dann beschreibt sie weiter, dass er in der einen band
eine büchse, in der andern zwei gere habe, von denen der eine gol-
den ist, wen er mit diesem verwunde, der minne alsobald, der andere
sei bleiern, wen er mit diesem treffe, der sei stets der minne gram. In
der büchse aber sei die salbe, mit der die minne den wider heile,- den
sie früher verwundet habe. Ähnliche auffassungen von der minne sind
später sogar in die bildende kunst eingedrungen. Piper erwähnt in sei-
ner Mythologie und Symbolik der christlichen Kunst 1 , 249 ein elfenbeiu-
schnitzwerk aus dem 13. Jahrhundert, auf dem die frau Minne dargestellt
ist als gekrönte und geflügelte frau, in jeder band mit einem pfwl, zu
beiden selten zwei geflügelte figuren, die doch wol Cupido und Amor
vorstellen sollen.
Wie sehr auch sonst der höfische dichter vermeidet, die götter
unmittelbar an der handlung teilnehmen zu lassen, so wenig vermeidet
er es gelegentlich ilire namen zu nennen. In der rede des Sinon ist es
beibehalten, dass fron Pallas heftig auf die Griechen zürnt, weil sie
iiir bild zerbrochen haben (sp. 44), und jene wollen ihren zorn versöh-
nen dunih das mächtige ross, auf welches noch das bildnis der göttin
• VIRGIL UND HEINBICH V. VELDEKK 131
in voller rüstung gesetzt werden solte (sp. 45). Ja bei der rüstung des
Äneas befindet sich eine fahne, die kunstvoll von der göttin Pallas
gewirkt ist im Wettstreit mit der Arachne (Aränje bei Veldeke), welche
von der göttin besiegt zur spinne wurde (p. 162, 17 fgg.). Als Dido und
Äneas hinaus auf die jagd reiten , wird jene vom dichter mit der Diana,
der gotinne von dem wilde, Aneas aber mit PMbüs, einem gofe vil
here verglichen (pag.62, 6 fgg. vgl. Virg. Aen. IV, 143 fgg.). Neptunus, der
könig von dem meere, sendet seinem söhne Messapus 1000 ritter (pag. 144,
19 fgg.) und Volcän ,yder smidegot" schmiedet für Äneas (aber ohne cy do-
pen) die prachtvolle rüstung (p. 157 fgg.)- ües Mars {des iviges got) wird bei
der erzählung jenes bekanten abenteuers mit der Venus gedacht, (welches
sogar in der Berliner handschrift bildlich dargestellt ist, cf Piper I,
247). Selbst jßoMs „kunich von den ivinden" wird nicht vergessen, ihm
müssen die Griechen opfern, damit er ihnen die heimlahrt gewähre; ja
ehe er in die unterweit geht, belehrt die Sibylle den Äneas noch darüber,
dass in diesein reiche Pluto hersche und diu frouwe Proserpine, diu
aide winje sine (90, 26). Selbst nicht an heroen fehlt es in dem höfi-
schen gedieht: Aventinus hat die löwenhaut seines vaters Hercules zu
seinem Schilde gemacht (p. 143), und zu ehren des Hercules, des Kakus-
töters feiert könig Evander ein prächtiges fest. Kakus, der nach der
mythe ein söhn des Vulcan oder ein riese ist, wird bei Veldeke zu
einem wunderbaren ungeheuer (kunder), das in einer höhle wohnt, also
etwa zu einem lindwurm oder drachen. Den meisten beiden des alter-
tums begegnen wir in der höUenfahrt des Aneas. Da finden sich die
beiden des thebanischen krieges und die Trojaner und Griechen , die vor
Troja gefallen sind (cf. 100 fgg.); der dichter kent die strafen, welche die
Titanen im Tartarus zu leiden haben, er erwähnt die quälen des Tanta-
lus , auch bei ihm fressen Geier dem Tityos das herz ab , das immer von
neuem nachwächst; nur hat er hier die alte mythe verkehrt, denn nicht
Dianen wollte jener zum weihe gewinnen, wie Veldeke sagt, sondern
deren mutter Latona (cf Virg. Aen. VI, 595 — 000). Eädaniantü,%
der Schalk ist der höllenwirt und Minos der gesetzgeber der hölle
(p. 105, 34); selbst die Tisiphone bleibt nicht unerwähnt (p. 103, 37).
Überhaupt ist der gang des Äneas durch die unterweit die einzige epi-
sode, welche Veldeke beibehalten hat, es war dies eben ein anziehender
stoflf für die kreise, für welche er dichtete, und in der Berliner hand-
schrift ist Äneas höUenfahrt reichlich illustriert (cf. Piper: p. 246).
Aber gerade an der behandlung dieser episode zeigt sich, wie das antike
sich nach der mittelalterlichen anschauung des dichters fast von selbst
umgestaltet. Die Cumäische Sibylle , bei Virgil das ebenbUd der Pythia,
schrumpft bei Veldeke zu einer hässlichen alten hexe zusammen, die
9*
132 E. WÖRNER
ihr leben freudelos verbringt. An ihr scheint der dichter versucht zu
haben, was er in beschreibung des hässlichen leisten könte. Grau, stark,
verwirrt sind ihre hare wie eines pferdes mahne , aus den obren hängt ihr
dick wie moos das haar , ihre äugen liegen tief unter den langen , grauen
augenbrauen, die bis zur nase hinab reichen, schwarz und kalt ist ihr
mund, spärlich stehen ihr darin die langen, gelben zahne, ihr hals ist
schwarz und gekrümt , sie sitzt zusammengekauert in schlechtem gewande,
ihre arme und bände sind stark geädert und fahl, und doch soll bald
ihre hässlichkeit noch überboten werden. Die miterwelt kann sich Vel-
deke nicht anders als unter dem bilde der höUe denken mit ihrem gestank
und rauch, gegen welche die Sibylle dem Äneas ein kraut zu essen gibt,
mit dem höllischen feuer , gegen welches er sich mit einer salbe bestrei-
chen muss, mit der schwarzen finstemis, in welcher ilim sein blankes
schwort leuchten soll. So tief wurzelte im dichter die anschauung der
christlichen hölle. Die eigentliche hölle, bei Virgil der Tartarus, ist für
Veldeke eine stadt mit glühender eiserner mauer, es erschallen daraus
die klagen der armen seelen, die tag und nacht im feuer brennen und
denen Rädamantüs ihre Sünden vorhält; dieses fegefeuer ist aber ohne
licht und brent so grimmig, dass das irdische feuer nur wasser dagegen
ist. Die Seelen derer , die durch eigene schuld das leben verwirkt haben,
leiden dort unten, ehe sie von Charon übergesetzt werden, in finsterem
walde grosse kälte von eis und schnee und werden jämmerlich zerfleischt
von wilden Ungetümen — „die trachen und die lewen \ und die lint-
warme \ die suchten sie ze storme, \ und die lebarde \ muten si vil harde^^
(pag. 91). Wie die unterweit zur hölle geworden ist, so wird nun auch
Charon zum teufel: „e^ was ein tüvd^ niht ein man'' (92, 26); er ist die
zweite schreckensgestalt, die von Veldeke vorgeführt \rird. Charon hat
einen langen schaltbaum von glühendem stahl in der band, mit dem er
die herandrängenden seelen schlägt und das schiflF steuert; sein köpf ist
wie der eines leoparden, seine äugen glühen wie feuer, seine augen-
brauen sind spitz wie dornen, scharf sind seine klauen an bänden und
füssen, seine zahne über und über rot, lang und gross, und da er nun
einmal ein teufel ist, so darf ihm auch der schwänz nicht fehlen. Der
dichter sagt: „her het ein zagel als ein hunt" (94, G). Ein würdiges
gegenstück zu dem furchtbaren waldmenschen, den Hartmann im Iweiu
425—470 beschreibt. Die höfischen dichter gefielen sich auch in der dar-
stellung des hässlichen und schrecklichen. Der „ubile schalk'' Cha-
ron redet bei Veldeke in dem groben tone eines alten fährknechtes,
und doch liegt darin mehr Charakteristik, als in dem hohlen pathos des
Virgilischen föhrmans. — cf. „dune wellest dich versinnen und varest
schimr hinnen, dir wirt lihte ein stach, da^ dir der rucke brechen madi*'*
VIRGIL UND HEINBICH V. VELDEKE 133
(sp. 95, 7 fgg.). Bei Virgil VI, 392 — 397 wird dea Hercules Cerberusraub
und des Theseus und Pirithous anschlag auf die Proserpina von Charon
erwähnt, um sein mistrauen gegen Aneas zu rechtfertigen. Auffallend
ist es , dass bei Veldeke Charon den Cerberusräuber Phocus nent (cf. Ettm.
p. 381)) und dann noch abweichend von Vii-gil der höllenfahrt des Orpheus
{der gute harphäre) gedenkt. Aber noch nicht sind alle schrecken der
hölle erschöpft. Nachdem Charon, sobald er den goldenen zweig erblickt
hatte, den Äneas samt der Sibylle übergesetzt hat, und beide an der
Lethe (bei Veldeke Obiivid!) vorübergekommen sind, gelangen sie zum
Cerberus {der helle portenäre), und wider verweilt der dichter mit ver-
liebe bei der beschreibung dieses Ungetüms; es hat drei grosse furcht-
bare köpfe, die äugen glühen wie feurige kohlen, feuer fliegt ihm aus
dem maul, und aus nase und obren stinkender rauch, die zahne glühen
ihm wie eisen im feuer, heissen, bitteren schäum wirft er aus dem
munde, an seinem leibe sträuben sich überall nattern und schlangen,
kurze und lange, grosse und kleine; als er den fremden kommen sieht,
springt er auf, weit sperrt er das maul auf, er sträubt sich vor zorn,
und die nattern und schlangen an ihm zischen und heulen und machen
einen solchen lärm , dass die hölle erzittert , und das geschrei ist so gross,
als ob der teufel jagte. (Ist das nicht ein anklang an die uralte sage
von der wilden jagd?) Doch auf das Zauberwort der Sibylle legt sich
das Ungetüm. Das elysium , Elysii gevilde, ist mit kurzen werten abge-
tan; es stimte wol auch das elysium unter der erde nicht recht zur
christlichen anschauung vom himmel. Wir sehen, es fehlt nicht an
mythologischem beiwerk bei Veldeke, aber überall dringt die christ-
liche anschauung der zeit in dasselbe ein. Die christliche anschau-
ung des dichters macht sich oft ganz unwillkürlich luft, so wenn
er von dem Selbstmord der Dido sagt, er sei geschehen auf die einge-
bung des bösen: „der viant da geriet der frowen, da^ si sich erslüch^*^
(80, 28 fg.).
Viel häufiger als von einzelnen göttern redet Veldeke von den göt-
tern, gleichsam als einem geschlossenen ganzen, und dieser ausdruck
komt doch schon der christlichen auffassung von gott etwas näher; „von
den goten" vernimt Aneas, dass er nach Italien fahren und dort ein
neues reich 'gründen soll; als er bei der Dido weilt entbieten ihm die
„gote" ein starkes märe (nicht wie bei Virgil Jupiter durch Mercur),
dass er das land verlassen müsse; die gote wollen es, dass Äneas in
der hölle sein Schicksal aus dem munde seines vaters erfahrt, und indem
er ihrer Weisung folgt , hat er ihrer aller huld erworben , er selbst betont
immer seinen feinden gegenüber, dass er in der gote gebot in das land
gekommen sei, die gote haben es dem Latinus befohlen, dass er die
IM E. WÖENER
Lavinia dem Äneas zum weibe gebe: die gote schlechtweg nent Äneas
sine mäge (cf. 47, 32. 118, 19).
Die eigentümlichen gottesdienstlichen gebrauche der alten, beson-
ders die Opfer, die Virgil sehr oft eingehend beschreibt, werden bei Vel-
deke gewöhnlich nur kurz erwähnt mit Worten wie : si opherden ir goten,
oder zuweilen vom christlichen Standpunkte aus: si opherden ir abgo-
ten (cf. 112, 31); so opfert Äneas auch seinen göttern am tage nach
dem siege über seine feinde (336, 16); ehe er mit der Sibylle in die
höUe geht, empfehlen sie sich den göttern; die mutter des jungen hol-
den Pallas flucht den göttern, dass sie ihren lieben söhn nicht besser
in der Schlacht geschützt haben, obgleich sie ihnen doch ihr ganzes
leben gedient und opfer gebracht hat (222, 4 fgg.). Latinus lässt vor
begin des Zweikampfes Turnus und Äneas auf seine götter schwören,
und als dann der tumult entsteht, flieht er mit seinem liebsten gotte,
der dichter sagt fast scherzend: „der andern aller her verga^^* (312, 34.
cf. Virg. Aen. XII, 285 fg.).
Die christliche anschauungsweise zeigt sich wider in der bezeich-
nung des antiken tempels. Das wort templum komt zwar bei Veldeke
vor (z. b. 223, 23. 251, 31. 264, 20), ja einmal sogar Synagoge (224, 1),
aber in Carthago steht ein münster der Juno (27, 29), die Trojaner stel-
len das hölzerne pferd vor ihres münsters tor auf (40, 21), die Sibylle
sitzt in einem betehüs (84, 39), und der leichnam der Camilla wird in
das hetehüs zu Laurente getragen (246). Der „Mre Chores , der Troiärc
prester und ir ewe mester," der sich ebenso gut- auf die bücher als aufs
Schwert versteht, gleicht aufs haar einem reisigen abt oder bischof des
mittelalters (243, 18). — Das verbrennen der leichnarae, bei Virgil
immer ausführlich beschrieben, wird bei Veldeke mit kurzen worten
abgetan, z. b. ir toten sie verbranden, also man do phlach (216, 8). —
Wie Virgil der Verbrennung der leiche des Misenus im sechsten buche
eine episode widmet, so verweilt unser dichter mit besonderer verliebe
bei der beschreibung der bestattung der Dido, des Pallas und der Camilla.
Hier weicht er ganz von dem antiken dichter ab, und hier komt der
geschmack seiner zeit mit am deutlichsten zur anschauung. Die asche
der Dido sammeln sie in ein goldenes röhr und dieses legen sie wider
in einen kostbaren sarg, das war ein „p^ase^n grüne alse ein gras,''
kunstvoll gearbeitet; darauf steht mit goldenen buchstaben die grab-
schrift (p. 79, 35 fgg.)- Noch viel ausführlicher wird des Pallas bestattung
erzählt. Seine wunden werden mit wein und mit spezereien {mit pig-
niente) ausgewaschen.^ man salbt ihn mit baisam und „arömatä," nun
wird er nach königlicher art gekleidet, die kröne aufs haupt, das scep-
ter in die haud, den goldenen reif an den finger, darnach tragen sie
VIKGIL UKJ) llElKiUCH V. VKLDEKE 135
ihn in das grabgewölbe des tempcls, welches köiiig Evander für sich
hatte bauen lassen. Das war rund und nicht liocli, kunstvoll gebaut
und reich verziert, der fiissboden bestand aus reinem kristalle, aus Jas-
pis und corallen, die säulen waren aus marmor, die wände von elfen-
bein, mit edolsteinen verziert, die decke des gewölbes war golden, in
der mitte steht der sarg auf vier pfeilern von porphyr , die von fern her
gekommen waren. Der sarg ist ein kunstvoll gearbeiteter ,yprashi'^
grüner färbe. Dabei standen zwei kleine krüge, der eine von gold mit
baisam gefüllt, der andere ein edeler stein, ein „sardine,'^ gefällt mit
jydlde'' und „ zerhentine.'' Aus beiden gefössen trugen goldene röhren den
wolgeruch in den leichnam. Auf dem sarge liegt ein edler aniatiste^ der
die grabschrift trägt; zuletzt wird eine lampe (lamjiadv) über den sarg
gehängt; diese lampe ist aus einem blutroten .Jachanf' gearbeitet, das
öl ißt baisam, die ketten, woran sie hängt, rotes gold, darin liegt eine
.ytviken'' von einem hesteoncy einem edlen stein, der im teuer brent
und nie verlischt (cf. pag. 223 — 226). Die umfiinglichste beschreibung
ist die von der beisetzung der Camilla. Ihre bahre wird von Turnus und
seinen leuten, die kerzen in den bänden tragen, wol eine halbe meile
weit geleitet. Camilla hatte sich schon bei lebzeiten von dem weisen
Geomctras ihr grabgewölbe bauen lassen und zwar hoch oben über der
erde. Ein runder platz ist mit marmor ummauert, der fussboden ist von
Jaspis gebaut, 20 fiiss weit innen, darinnen stehen vier steine einander
gegenüber und tragen zwei Schwibbogen, die 20 fuss hoch waren; da,
wo sie sich oben kreuzweise trafen, war ein „füchstein'' eingelegt aus
[)orpliyr , darauf stand wider ein 40 fuss hoher mannol-pfeiler , oben mit
einem sieben fuss im durchmesser fassenden runden simsstein bedeckt;
hierüber erhob sich erst das eigentliche grabgewölbe, 40 fuss hoch und
20 fuss weit; der fussboden besteht wider aus edelsteinen, nach vier
Seiten liin hat es vier fenster y,voii granäte und von saphiere, \ von
snuiragden und ruhtnen, \ vofi crisolUen tmd von Sardinen y | tojya^ien
und berillen,'' Die decke des gewölbes ist mit gold musivisch verziert.
Der sarg war ein teurer ,yCalciddnje/' ihn bedeckte ein „sardonje'':
daneben stehen abermals zwei gefasse mit baisam, die den leichnam nicht
in fäulnis übergehen lassen. Auf dem sarge ist die grabschrift mit
geschmolzenem sardone geschrieben. Schliesslich wird eine un verlösch -
liehe lampe an goldener kette aufgehängt. Die kette geht einer taulx»
durch den Schnabel, die auf einem steine sitzt, kunstvoll ausgehauen.
An der wand steht, ebenfalls in stein gearbeitet, das bild eines mannes
mit einem gespanten bogen, der bolzen ist angesetzt; lässt man den
bogen abschiessen, so trift der bolzen gerade die taube, das lieldva^
fallt heruntei', und das licht erlischt. Anders kann man es nicht zum
136 E. WÖRNBR
erlöschen bringeo. Überdies ist oben an dem bau werk ein Spiegel ange-
bracht, in dem man, wenn der tag licht ist, alles sehen kann innerhalb
einer raeile entfernung. Bezeichnend ist es , dass es ausdrücklich heisst,
ein Grieche und der weise Geonietras^ der sich auf die list von geome-
trien verstand, seien die baumeister gewesen. Von Byzanz aus kam
die anregung zu neuen bauten nach dem abendlande ; die freude und das
interesse an edeln steinen zieht sich durch die ganze germanische Vor-
zeit, man denke an den Nibelungenschatz. Das behagen, mit welchem
der dichter die grabgewölbe beschreibt, die kunstvolle arbeit in stein,
beweisen, wie damals schon in den höheren kreisen der geselschaffc der
sinn für baukunst und bildende kunst nicht fehlte, der geeignete bodjBn,
von dem aus sich dann in den folgenden Jahrhunderten die deutsche bau-
kunst zu so hoher blute erhob.
Wir kommen jetzt nochmals zu der früheren beobachtung zurück,
dass die höfischen dichter sich gewöhnlich gleichgiltig verhalten gegen
die antiken sitten und brauche, die Virgil gelegentlich in die erzählung
einzuflechten liebt. So findet sich z. b. nichts bei Veldeke von dem öff-
nen der porta belli beim ausbrach des krieges, indessen gibt es auch
hier einige ausnahmen. Bei Virgil erscheinen fast immer die gesanten
mit Ölzweigen, dem zeichen des friedens geschmückt. So gehen die
hundert oratores des Aneas mit Ölzweigen {yelati ramis Palladis VII, 154)
zum Latinus; die gesanten dieses, die um einen Waffenstillstand nach-
suchen, tragen dasselbe abzeichen (XI, 101 vdati ramis deae), und
als Äneas hilfe suchend zum Evander komt, heisst es von ihm bei Vir-
gil VIII, 116: padferaeqae manu ramum praetendit olivae. An dieser
stelle erwähnt auch Veldeke nach dem vorgange von Benoit diese eigen-
tümliche sitte des altertums 169, 21 — 32:
dö het ouch here iJneas \ getan als da sife was,
und die mit im wären homen, \ die heten alle genomen
aller ritter gelich \ einen olees zwich.
da^ hezeichent den fride \ und was in den ziten side
mtcn über manich lant , \ swcr da^ hefe in siner hant,
im ne schadete nieman niet, \ des phlach die heidensche diet
Dieses ist aber auch die einzige stelle, in welcher die sitte des alter-
tums im gegensatz zur sitte jener zeit so eingehend bezeichnet wird.
Im glauben an Zauberei und zauberer haben sich die zeiten Virgils und
das mittelalter an mehr als einem punkte berührt, und zweifellos trägt
die Äneide und die beschreibung magischer opfer in den eclogen die
hauptschuld, dass Virgil im mittelalter för einen erzzauberer galt und
hoch berühmt war (cf. VirgUius der märe p. 18, 11). So ist es nicht
aufl^llig, dass bei Veldeke die erzählung Virgils von der alten zauber-
VIRGIL UND HEINRICH V. VELDEKE 137
kundigen priesterin , welche Dido zu sich rufen lässt , ziemlich genau bei-
behalten ist (cf. rV, 483 — 91 mit pag. 74, 4 — 19). BeiVirgil versteht
sich die zauberin darauf durch Zauberformeln die herzen zu trennen und
aneinander zu fesseln, sie kann das wasser in den Aussen zum stehen
bringen und den lauf der gestirne verändern, sie kann die geister der
verstorbenen herbeirufen und dergleichen mehr. Nicht viel anders bei
Veldeke. Das weib versteht bei ihm viel von niinnen und viel von
erzenie, sie hat auch ihren fleiss auf die Philosophie gerichtet, sie kent
die art der planeten und liest in den sternen was jemandem geschehen
soll, sie verfinstert den mond, wenn sie will, und nimt der sonne ihren
schein. Liebestränke, durch welche man eine andere liebe einzuflössen
suchte , kante das altertum eben so gut wie das mittelalter. Der dichter
Lucrez soll durch einen solchen liebestrank wahnsinnig geworden sein,
und die unverlöschliche liebe Tristans zur Isolde rührte von einem sol-
chen tränke her. Hierauf beziehen sich wol auch die werte der Dido
(p. 77, 7): mir is vreisUche vergeben.
Wir kommen jetzt zu einer andern seite des antiken stotfes, mit
der sich die höfischen dichter nicht viel zu tun machten , zur geographie.
Die masse geographischer notizen, die Virgil mit so vielem geschick in
den gang der erzählung einzuflechten weiss , ist bei den mittelalterlichen
dichtem fast vollständig unterdrückt; natürlich die notwendigsten namen
wieTroja, Carthago, Laurentum, musten auch hier genant werden, aber
das geographische beiwerk, welches Virgil z. b. bei der aufzählung des
bundesheeres der Latiner und der bundesgenossen der Etrusker ange-
bracht hat, findet sich in den höfischen gedichten nicht wider. Wer
hätte sich aber auch in den höfischen kreisen auf alte geograpliie ver-
standen? Ebenso wenig dichter als hörer waren gelehrte leute. Dies
scheint auch der grund gewesen zu sein, warum schon Benoit das ganze
dritte buch der Äneide, die irrfahrten des Äneas durchs mittelmeer, bei
seite gelassen hat. Wir haben noch mehiere deutliche beispiele, wie es
der dichter anfing, um an obscuren geographischen namen vorüber zu
kommen. Da wo der scheinabzug des griechischen heeres von Troja
erzählt wird heisst es (11, 37):
tmde für bi naht da^ here \ mit den schiffen in daz, mere,
hin dan in ein lant, \ da man si sint inne vant.
So ist hier die nennung der insel Tenedos umgangen. Ferner : Als Äneas
von Carthago abgefahren war, fuhr er auf dem meere von heftigem
winde getrieben: „tinzer da ze lande quam, \ da sin vater begraben lach^*^
(80, 34). Hier ist also nicht einmal Sicilien genant , obgleich doch drin-
gende veranlassung dazu war, denn vorher ist nirgends gesagt, wo
138 £. WÖBMEB
Anchises gestorben sei. Dasselbe streben zeigt sich nun auch bei der
aufzählung der bundesgenossen des Turnus. Von Mezentius, der bei Vir-
gil Tyrrlienis ab oris komt (VII, 647) heisst es bei Veldeke „iedocli so
was verre dannen \ sin laut undc sin hüs^^ (14=3, 4). Aventhius wohnt
nach 143, 40 bi dem tvestern mere. Caeculus, Praenestinae fundafor
urhis (VII, 678) wird allerdings bei Veldeke (144, 3) ein herzöge von
Prenestine genant, und ausserdem fingiert sich unser dichter (144, 15) einen
niargräven von Pallante, von dem Virgil nichts weiss. Clausus SaMno-
rum prisca de geilte (VII, 706) wird bei Veldeke zu Claudius, herrn
von SaUäne (145, 14) und Caniilla Volsea de gcnte (VII, 803) zu einer
königin von Volcäne (145, 39). Aber zu ende dieser anführungen föllt Vel-
deke nach Vorgang Benoits plötzlich aus dem tone, oder besser erst recht
in den ton seiner zeit hinein, wenn er kurz resümiert (145, 15 fgg.):
dar nach qiiämen die Barbaiine,
die Pulloise und die Lathie,
die von Näplisy von Salerne,
von Calabric, von Volterncy
die von Genüe, die Pisäne,
die Ungere und die Vetieziane,
Dass Städte wie Neapel, Salerno, Genua, Pisa, Venedig in den höfischen
kreisen, die doch durch die römerzüge in nahe berührung mit dem ita-
lienischen Volke kommen musten, bekant und berühmt waren, liegt auf
der band; die Pulloise sind die Apulier, unter den Barbarinen sind wol
die Sarazenen zu verstehen, die von Nordafrika (Berberei) aus nach Sici-
lien und dem südlichen Italien vorgedrungen waren. Die Ungarn mögen
damals in vielfacher beziehung zu Italien gestanden haben, zu Ungarn
gehörte ja ein teil der illyrischen küste und war nicht Triest eine zeit
lang der eigentliche hafenplatz fürs königreich Ungarn? Unter denen von
Volterne vermutet EttmüUer seien die adcolae amnis Volturni (VII, 729)
zu verstehen. So kan es auch nicht wunder nehmen, dass ein könig
von Marokko (vone Mar roh) dem Evander ein edles ross gesant hat
(200, 19 fgg.).
Nur einmal weiss Veldeke merkwürdiger weise bessern bescheid in der
alten geographie als sein vorbild Benoit: dieser lässt nämlich den Evander
könig inArcadien sein, dagegen hält sich Veldeke genau nach Virgil, bei
dem der aus Arcadien eingewanderte Evander zu Pallanteum, da wo später
Rom erbaut wurde, residiert (VIII, 54). So auch bei Veldeke (167, 38):
ze Pallante . . . aldä Börne nü stet. Hat sich hier Veldeke vielleicht direct
aus Virgil selbst unterrichtet? etwa durch einen gelehrten schuolcere?
oder verstand er selbst etwas latein? Wir haben schon oben (s. 133) gesehen,
VIBOIL UND HEINRICH V. VELDEKE 139
dass er bei dem gange durch die unterweit , die Lethe mit Oblivio über-
setzt, während bei Benoit der Lethe gar keine erwähnung geschieht.
An einem anderen orte ist , wenn ich nicht ganz irre , dem Veldeke
bis jetzt unrecht getan worden. Anchises verweist seinen söhn an die
Sibylle mit den werten (82, 15): „ee Iconjen isirhüs,'^ So hätte also
Veldeke Iconium in Kleinasien mit Cumae in Italien verwechselt? Ett-
müUer hat es so in den text aufgenommen, indes in der ältesten hand-
schrift Veldekes, in der Berliner, steht: zu chomen, nach Ettmüllers
angäbe undeutlich geschrieben, und daran wird wol auch nichts oder
wenig zu ändern sein, und es wird ze Chomen oder ^e Cönwn, d. i. zu
Cumä, in den text zu setzen sein. Der Schreiber der Heidelberger hand-
schrift aus dem 14. Jahrhunderte wüste wahrscheinlich nichts aus dem
ze chomen zu machen, und änderte zicmiien; wie leicht ist der Übergang
von m in ni.
Es ergibt sich aus dem vorausgehenden, wie abwehrend sich der
höfische dichter gegen alles, was antike götter- und heldensage, beson-
ders italische stamsage, sitten - und landeskunde betrifft, verhalten hat,
und wie er auch dann , wenn er dergleichen dinge beibehielt, unwillkür-
lich die anschauungen seiner zeit auf dieselben übertrug. Dieselbe beob-
achtung wird nur noch in höherem grade bestätigt werden, wenn wir
zusehen, wie sich die beiden und menschen des antiken gedieh ts unter
der band der mittelalterlichen dichter veränderten.
Die antike weit hat also der mittelalterlichen weichen müssen, und
so finden wir sogleich, was in dem antiken gedichte fast gar nicht her-
vortritt, die scharfe Scheidung der stände im mittelalter. Hierher gehört
schon die genaue Scheidung der fürstlichen würde. Äneas ist in Troja
„herzog" und steht unzweifelhaft in einem abhängigkeitsverhältnis zum
könig Priamus (cf. p. 18, 8. 19, 3 usw.), ähnlich wie der herzog Tumus
zum könig Latinus steht (116, 32. 122, 9). Unter den bundesgenossen
des Turnus gibt es einen herzog von Prenestine, einen markgraven von
Pallante, Camilla die königin von Volcäne; auf seite des Äneas steht
der könig Evander von Pallante. Die sieben tore Carthagos werden von
sieben mächtigen grafen bewacht, die der königin Dido als ihrer lehns-
herrin Untertan sind. Das gefolge dieser fürstlichen herren, der kern
ihrer beere, sind immer die ritter; nicht mit einem ärmlichen häufen
flüchtiger Trojaner zieht der herzog Äneas hinweg von Troja, sondern
mit 3000 rittern, „mit vil herlichen scharen'' (47, 38. cf 21, 6). Auch
macht er nicht zu fuss wie bei Virgil, etwa vom treuen Achates beglei-
tet, den kundschaftergang ins Libysche land, nein der fiirstliche herr
sendet 20 ritter nach kauf und speise aus, und als er dann auf Didos
einladung nach Karthago reitet, wählt er aus seinem beere ein gefolge
140 iE. WÖRNER
von 500 rittern aus. Selbst die gesantschaft an könig Latinus besteht
nicht aus 100 oratores wie bei Virgil, sondern aus 300 rittern, „gute
mit gerendem mute'' (113, 25). So wird auch Tyrrheus, der bei Virgil
sein holz selbst spaltet, ein y,edil fnan/' der eine feste bürg (ein veste^
km) bewohnt und als solcher wird er here Tyrretis genant. Nisus und
Euryalus sind zwei edele ritter. Wenn der fürstliche herr ausreitet, ist
er von rittern umgeben. Selbst wenn Äneas vor seines liebchens fenster
reitet, ist er von seinen mannen gefolgt. Es wird überhaupt in dem
höfischen gedichte wenig gegangen, fast immer geritten. Der könig
Priamus reitet, als sich die Griechen entfernt haben, mit seinen man-
nen aus der bürg (42, 9). Natürlich ist es, dass in einem höfischen
gedichte die übrigen kreise der menschlichen gesellschaft nur sehr sel-
ten und höchst beiläufig genant werden. Aber erwähnt werden sie
wenigstens bei Veldeke. Als Äneas sein lager vor Laurente aufgeschla-
gen hat, da laufen auf die mauer die ritäre und gebüre^ knehte und
koufman, ritter und bauom, handwerker und kaufleute (248, 5), man
vergleiche (320, 20 fgg.) : „do die bor gäre da^ vorborge sägen brinnen, \ da
vorhten si in dar innen \ in der mittern müren, \ koufman und gebü-
ren,\ ritterunde heren." Dass neben handwerkem und kaufleuten auch
noch bauern als einwohner der stadt genant werden, wird sich daher
erklären , dass im mittelalter , wie jetzt noch in kleinen städten , ein teil
der bürger landwirtschaft trieb. Dass gebur bei Veldeke „bauern"
bedeutet, geht aus 137, 38 hervor. Über alle diese stände erhaben
steht der kaiser; es ist das höchste lob, wenn Veldeke sagt, das gefolge
des Äneas sei so schön gewesen, dass es dem kaiser angemessen gewe-
sen wäre, „ob si vor (=^mir) den keiser solden gän'' (34, 23) und wenn
er vom Schwerte des Aneas sagt: „solde man^ vor den keiser tragen, ,
den hersten, der ie kröne trüch, \ e^ wäre lobelich genüch" (160, 36). Und
so sind auch noch die rechtlichen bezieh ungen zu erkennen, welche zwi-
schen fürsten und vasallen statt haben; das ganze lehnswesen des mit-
telalters spielt mit in die erzählung hinein. Sehr charakteristisch ist in
dieser beziehung (26 , 22 fgg.) die stelle , die wir schon oben angefilhrt
haben. An jedem der sieben tore Karthagos sitzt ein greve rlcher, der
im notfall die stadt mit 300 rittern verteidigen muss; für diesen dienst
empfängt er das lehen der Dido, „die fromven müsten si alle flehen ,
die riehen hüsgenöz^nJ' Die mächtigen vasallen standen alle im Verhält-
nis der „flehenden, bittenden" zur herrin Dido, von ihr geht alle
macht aus. Erst von diesem gosichtspunkte aus gewint die Stellung des
Äneas zu seinen leuten das richtige licht. Ehe er aus Troja flieht,
befiehlt er nicht seinen leuten ihm zu folgen, sondern er fragt sie um
ihi'en rat und versichert ihnen, dass er zu ihnen stehen wolle in allem,
VIRGIL UND HEINRICH V. VELDEKE 141
worin sie ihm beizustehen wagten, „des ir mir getorret stän U, \ des
helfe ich m, ob ich mach*^ (19, 36); sie heissen sine mäge und sine man,
auch sifie holden, seine dienstleute, aber es sind freie leute, die sich
freiwillig unter ihn gestellt haben zu ehrenvollem kriegs- und Waffen-
dienst. Allen wichtigen schritten geht eine beratung mit seinen leuten
voraus (so 33, 25. 66, 28), so besonders, ehe er zum Evander fährt. Hier
mahnt er sie zu standhafter gegenwehr und bezeichnend sind seine worte
(105,39): „obgleich ich das voraus habe, dass ihr mich zum herrn gewählt
habt, so bin ich doch nur 6in mann." Die dienstmannen gehören zum
hause des lehnsherrn und sind insofern seine hüsgcnö^e (120, 24); sie
sind entweder frei oder leibeigen , und so unterscheidet Herbort (liet von
Troie v. 4202) „fursten, frigen, dinstman. Dieselbe Unterscheidung
macht Veldeke wenn er sagt von Turnus: „im sal ditze dink | vil td/lle
yevallen \ und shien fründen edlen, \ den eigen und den frien"' (117, G).
Und wie stellt sich Aneas, als er nach Latium komt zum könig Lati-
nus? Er entbietet ihm seinen dienst, und verspricht, ihm dienstbereit zu
sein zu allen geboten, und um keinerlei mühe willen von dem abzustehen,
was er ihm befehlen würde, kurz er gelobt ihm die treue eines Vasal-
len; und dazu passen nicht übel die geschenke, die er dem Latiuus
überbringen lässt, scepter, kröne und mantel (freilich übereinstimmend
mit Virgil VII, 245. cf. 114, 6 fgg.). Noch deutlicher tritt dieses Ver-
hältnis des Vasallen zum lehnsherrn hervor an Turnus und seinen bundes-
genossen. Boten bringen briefe zu seinen mugen und mannen weithin
über das land, und als dann diese mit ihren beeren erschienen sind,
versammelt er sie eines morgens um sich, er redet sie mine lantheren
an, das ist der bezeichnende ausdruck für die vornehmsten vasallen im
lande, dankt ihnen für die ehre, die sie ihm erwiesen, und dann setzt
er ihnen noch einmal die läge der dinge auseinander; glaubten sie, dass
seine sache ungerecht sei, dann sollten sie ihm nicht dazu helfen, gern
wolle er abstehen davon , sei aber seine sache so beschaffen , dass sie sein
recht anerkennen, dann sollten sie ihm wie freunde beistehen „als üwer
truwe gut st" (p. 151 fgg.). Wir sehen auch hier wider das auf freier
Unterordnung und auf treue beruhende Verhältnis. Andrerseits steht
wider der lehnsherr für seinen vasallen ein, und so spricht denn der könig
Latinus gegen Turnus (140, 24 fgg.): „Der here Äneas hat unsere hilfe
und genade gesucht , ich habe ihn in meinen frieden genommen samt
seinem volk und seinem gut, wer ihm etwas böses tut, der hat wider
mich gehandelt und hat mich ganz und gar aufgegeben." Drances, der
feind des Turnus auf seite der Latiner rühmt sich, dass er weder erbe
noch leben vom herzog Turnus habe und ihn darum nicht zu flehen
brauche. Mehr als einmal werden versamlungen , zu denen der lehns-
142 E. WÖRNER
hen- seine vasallen beruft, beschrieben, immer wii'd die ansieht, die den
meisten beifall findet, zur ausfuhrung gebracht (cf. 232, 20. 155, 8 fgg-X
und nicht fehlt es in ihnen an heftiger rede und gegenrede. Es finden
sich aber auch noch andere anklänge an das rechtsleben des deutschen
nüttalalters, die wol hier gleich ihren geeignetsten platz finden.
Sehen wir uns zunächst die ansprüche an, welche Turnus gegen
Äneas geltend macht. Der altersschwache könig Latinus hatte beson-
ders auf betreiben seiner gemahlin dem jungen heldenhaften herzog Tur-
nus bei seinen lebzeiten „borge unde lant^^ übergeben und ihn zum mit-
regenten eingesetzt (cf 127, 7 — 130, 7. p. 151. 152), ferner ihm auch
seine tochter Lavinia versprochen, so dass er nach des Latinus tode erbe
des ganzen reiches werden muste. Veldeke stelt dies so dar, als hätte
der könig vor seinen versammelten mannen und vasallen dem Turnus
die Lavinia zugeschworen und ihm die Verwaltung des reichs übergeben.
Deshalb musten ihm als dem mitregenten auch die vasallen des königs
den eid der treue schwören, und darauf bezieht sich, was Turnus (127, 8)
sagt: „mir hat gesworen der kunich unde sine ^nan" und (129, 6): „ich hän
die borge und da^ lant \ alle in minem eide" (cf. 151, 25 fg.). Ja der
sitte gemäss hat ihm der könig auch geisein gegeben: „der hat mir giseJ
gegeben, \ sine man, die ich kos" (127, 17—18), und nun der könig mein-
eidig wird, will Turnus die Wahrheit seiner ansprüche durch die geisein
bestätigen lassen. Das stellen von geisein zu grösserer Sicherheit ein-
gegangener Verpflichtungen wird auch sonst noch vom dichter erwähnt.
So nimt Latinus, als sich Turnus und Äneas zum Zweikampf bereit
erklären, beiden geisein ab (259, 40. 321, 20). — Mezentius vertritt
in der versamlung der bundesgenossen des Turnus die ansieht, dem frie-
densstörer Äneas einen termin zu setzen, an welchem er vor Turnus
und seinen mannen zu erscheinen und rede zu stehen habe um alle seine
missetat (p. 153). Dagegen aber wendet Messapus das schleppende eines
solchen rechtsverfahrens ein (155, 4): „wände ez, mrt vile lank, \ e dan
manz, mit gedinge \ ze fromem ende bringe," Die schliessliche entscheidung
des ganzen streites durch einen Zweikampf zwischen Turnus und Äneas,
welche schon durch das antike Vorbild gegeben war, ist ein zug, wel-
cher der deutschen rechtsanschauung durchaus nicht fremd ist. Die ent-
scheidung eines gerichtlichen streites durch einen Zweikampf war ja im
mittelalter etwas ganz gewöhnliches, und beispiele aus der ältesten deut-
schen geschichte, dass bereits schlagfertig gegen einander stehende beere
aus ihrer mitte kämpfer erlasen , die für das ganze fochten , führt Grimm
in dep Deutschen rechtsaltertümern p. 928 an.
Wie tief die einheimischen rechtsgebräuche in fleisch und blut der
damaligen menschen übergegangen waren, zeigt die häufige erwähnung
VIROIL UND IIETNBICH V. VRLDEKE 143
von fristen bei Veldeke. Nacli dum veisoliwiiiden des Turnus schliessen
die Latiner einen Waffenstillstand mit Äneas {frede über vierzehen naht
215, 35); als Aneas sich bereits daran macht die stadt Lauren tum zu
belagern, bittet ihn der könig Latinus um einen Waffenstillstand von sechs
Wochen, und es wird der frede gesjyrochni über vierzich tage und vierzich
naht (248, 35); als nach ablauf dieser frist Turims den Äneas zum Zwei-
kampf herausfordert, wird der Waffenstillstand über vwrzeJieti naht ver-
längert. Die frist von 14 tagen oder besser nachten ist die gewöhnlichste
der deutschen fristen, die oft genug in der lex Salica und im Sachsenspiegel
vorkomt. (Nach Grimm, Rechtsaltertümer s.821, entsprechen diese vierzehn
nachte der zeit zwischen vollmond und neumond.) Die vierzigtägige frist
ist nach Grimm a. a. o. s. 219 gleichfalls eine alte fristbestimmung , die
sich schon in der lex Salica und Ripuaria findet (cf. Iwein 4152. 5744).
Selbst da, wo Benoit eine zwölftägige frist ansetzt, wie sie bei Virgil
XI, 133 (bis senos pepiijere dies) nach römischem brauche gegeben ist,
wird beim deutschen dichter ganz selbstverständlich die zwölftägige zu
einer vierzehntägigen frist. Zu weit würde es führen, hier nocli auf die
grosse zahl fester formelartiger Wendungen einzugehen , die Veldeke ganz
gewis aus dem gerichtslebeu seiner zeit geschöpft hat.
Durch den vorausgegangenen excurs sind wir etwas von unserem
Vorsätze abgelenkt worden , den Übergang der antiken beiden in die ritter
des mittelalters nachzuweisen. Nehmen wir ihn jetzt wider auf.
Den ritter erkent man sogleich an der rüstung. Das ideal einer
solchen ritterlichen rüstung ist bei Veldeke (wie bei Benoit) die rustung
des Äneas, die der smidegot selbst gearbeitet hat. Bei Virgil Vllf,
GOH -731 wird nur der schild genauer beschrieben, die übrigen teile der
rüstung kurz aufgezählt , ganz anders bei Veldeke. Hier wird (s. 1 59 fgg.)
stück für stück sorgfaltig durchgenommen. Zuerst der hnlspereh, das pan-
zerhemd , in welchem man vor aller art wunden sicher war, er glänzt von
prächtiger arbeit und doch ist er so leicht, dass mit geringer anstren-
gung ein mann ihn tragen und sich darin wie in einem leinenen gewand
bewegen kann. Bezeichnend ist, wie viel worte der dichter über die geringe
schwere des panzerhemdes verliert, er preist darin zweifelsohne einen
fortschritt in der herstellung dieses wichtigrsten Stückes der ritterliclien
rüstung. Dazu kommen zwei hosen veste von deinen ringen y aus rin-
gen bestand übrigens gewöhnlich auch der halspercJi, daher bei Herbort
vom anlegen desselben gesagt wird: „st sctäfen We wappen an'' (4202).
Das aus ringen bestehende panzerhemd und die panzerhosen wurden
buchstäblich an- und ausgeschüttelt. Bei Veldeke werden immer die
eisenhosen und der halsperch „angelegt," bei ihm findet sich also jener
kunstausdruck nicht. Vom heim heisst es weiter, er sei hrün^ Wer
144 E. WÖBNEB
als ein glas^ glänzend und hell wie glas; oben als belmschmuck dient
nicht ein löwe oder drache, sondern eine blume von getriebenem golde
gearbeitet. Darin steht ein röter hyacinth, die helmleiste und auch das
halsband sind golden, mit edelsteinen besetzt, golden sind die ringe, und
die schnüre, mit denen er festgebunden wird, sind seiden. Das schwort
ist härter und schärfer als der Eckesas, Mmiink, Nagdrink und Halte-
cleir und Durendart. Das ist der erste und einzige anklang bei Vel-
deke an die deutschen und karlingischen heldensagen, ein ihm eigen-
tümlicher zug, der sich bei Benoit nicht findet. Das schwort hat gol-
dene und silberne Verzierungen, golden und mit edelsteinen besetzt ist
die scheide, knöpf und schwertgrüf von gold und von gesrndze, der
schwertgurt ist eine handbreite borde , der schild auf der einen seite mit
borde und teurem phelle ausgeschlagen, dieses ist mit goldenen nägelu
an das gesteile befestigt, das brett wol gemiten, gefücldiche gebogen, wol
behütet und wol bezogen, das riemzeug ist aus dem berühmten corduani-
schen leder, auf dem riemzeug wider eine teure borde angenäht, auf
der untern seite des riemzeuges samt, damit die riemen beim tragen
des Schildes dem ritter nicht die haut aufreiben. Die buckel inmitten
des Schildes ist weisses silber mit edelsteinen geziert; der dichter unter-
lässt hier nicht , sechs arten von edelsteinen aufzuzählen, die alle kunst-
voll eingefügt waren. Das schildbild ist ein roter löwe. Den schluss
der rüstung macht die vane, das meisterstück der Pallas. Es ist nicht
unwahrscheinlich, dass Veldeke bei dieser ausführlichen beschreibuug
alles das mit berücksichtigt hat, was für vervollkomnung und aus-
schmückung der waffen zu seiner zeit geschehen war. Über das panzer-
hemd tragen die ritter noch den waffenrock; so reitet Turnus in der
feldschlacht mit Äneas in einem waffenrock von rotem und gelbem samt
einher, und dem entsprechend ist auch die färbe des wappenbildes , das
er auf seinem schilde führt: „ein zeichen für der an der hand, da^ was
gele unde rot'' (200, 2). Dagegen ist der waffenrock seines feiudes Pal-
las phellin, von feiner seide, von grünem taffet (cindai) ist das wappen-
bild darauf genäht, dem entsprechend ist die färbe seines Schildes grün.
Auch die ritterliche Camilla trägt panzer und eisenhosen, ihr heim ist
lauter und glänzend wie glas, wol mit steinen verziert, was aber das
merkwürdigste ist, ihr schild ist elfenbeinern, wol besniten und wol
gebogen ungehütet und unbezogen, die buckel golden mit edelsteinen
besetzt. Sie trägt mit ihren frauen seidene Schleier nach ihres landes
Sitte um die helme gebunden (23G , 27 fg.). Ein prachtexemplar von
einem helme ist der des herrn Chores (243, 35); oben auf steht ein
rubin, die helmleiste mit smaragden und amatisten besetzt und vorn am
nasebaiü steht ein gelber adamatit. Nach Herborts beschreibuug hän-
VIROIL UND HEINRICH V. VELDEKE 145
gen die forsten im belagerten Troja an ihren herbergen die schilde aus,
stecken ihre baniere auf, ohne zweifei, damit sich ihr volk zu ihnen
sammele (4629 fg.).
Die wesentlichste zierde des ritters ist sein ross. Als die beiden
vorzüglichsten rafen gelten die arabische und die castilianische. Kastd-
län und ravit kommen unzählige male in den höfischen gedichten vor.
Als Äneas mit seinen 500 rittern an den hof der Dido reitet, heisst es
von ihm: rnau saget uns, da^ si nämen \ manich gut kastelän \ snd
linde wol getan \ und manieh schöne ravit (34 , 24). B6im letzten ent-
scheidenden Zweikampf reitet Äneas einen castilier , Turnus ein arabisches
ross (324, 25). Die Camilla reitet am tage ihres letzten kampfes einen
ravit, der mit zindale bedeckt ist. Der eigentliche ausdruck für diesen
schmuck des rosses ist kovertiure^ er findet sich merkwürdiger weise
noch nicht bei Veldeke, während er bei Herbort bereits ganz gewöhn-
lich ist (8708. 8720). Wie Pallas ein ross reitet, das seinem vater vom
könig von „Mar roh'' gesendet worden ist (p. 200, 21), so erscheint
Camilla auf einem prachtpferde , das ihr „ über se " ein „ more " gesendet
hat (148, 20). Das linke ohr und die mahne sind ihm weiss wie
Schnee, das rechte ohr und der hals schwarz wie einem raben, dagegen
der köpf rot, ebenso der eine vorderfuss rot, der andere falb, die selten
glänzen ihm wie einem erzürnten pfau, diu ein gofe was aphelgräwe,
rchte als ein lebart. Der schwänz ist einfarbig, schwarz wie pech. Das
pferd geht „ebene'' leise und doch schnell genug. Am sattel sind die
Sattelbogen aus elfenbein gearbeitet, mit edelsteinen verziert, die decke
ist samten, mit goldenen nageln besetzt. Der bauchgurt seiden, die
antphange, an die man ihn schnalte, eine teuere borde, ebenso ist der
brustriemen des pferdes (vorbüge) eine auf sammet genähte, zwei finger
breite borde. Aus der breite, mit welcher Veldeke hier das pferd und
seinen putz beschreibt, kan man wol zurückschliessen auf das Interesse,
welches die zuhörer an derartigen, bis ins einzelnste gehenden beschrei-
bungen haben musten. — Eine sehr anschauliche Schilderung von der
rüstung des ritters zum kämpfe gibt Herbort 8719 fgg.:
ir ros sttmden bereit,
kovertilren üf geleite
dar über phellil und dar mit
eindät unde samit.
Wapenen si sich begunden,
so sie beste künden:
in die kolken (stiefeln), halsperge ane,
rot und un^ als ein swane
gel blä zindM
ZEIT8CUB. F. DBUT8CHB PHILOLOGIE. BD. UI. 10
146 E. WÖBNEB
über die sarewät,
hdm üfy sper an die hant,
sporn umbe alzuhant,
zur sUen schilt, dar under swert,
üf die ros, üf die phert
herren unde knechte, usw.
Die pracht der rüstimgen und gewandungen beschreibt auch Conrad mit
besonderer verliebe, z. b. als das beer der Trojaner zum kämpf mit den
Griechen ausrückt (30774 fgg.)- Man kau nicht beide noch sand sehen
vor der menge glänzender kovertiiiren; wie wenn der ganze plan in brand
gesteckt wäre, so flamt das gefilde von gold. Eine menge von wunder-
vögeln und Wundertieren zieren die decken der rosse und die prächtigen
Wämser (Jcursit) der ritter. Edelsteine leuchten um die wette über tal
und borg, es gleisst das Stahlwerk und das geschmeide. — Als Aneas
vor der Stadt Laurentum sein lager aufschlägt, unterlässt es Veldeke
nicht , das kostbare zeit des beiden zu beschreiben ; an einem hohen mast
wird es aufgezogen, das zelttuch ist doppelfarbiger sammet, der zeit-
knöpf golden mit einem goldenen adler gekrönt (sp. 247). Überall
herscht dieselbe freude nicht nur an kostbaren waflFen und edlen rossen,
sondern auch an schönen kleidern. Nirgends wird seide und sammet,
nirgends wird edeles gestein gespart. So hebt Heinrich von Veldeke mit
besonderem nachdruck die schönen gewänder hervor, mit denen sich die
Trojaner auf ihrer fahrt zur Dido schmücken (34 , 2 fgg.) : ml wol si sich
gereiten mit herlichem gewande, \ des si von ir lande \ genüch dare brah-
ten. Freilich findet sich in der beschreibung nirgends viel abwechselung,
wie von den edlen rossen immer ravit und kastdän widerkehrt, so von
den teuren stoflFen phellel und samit.
Haben wir uns bisher die rüstung und den ganzen staat des ritters
betrachtet , so wollen wir ihm jetzt weiter folgen in die schlacht.
Den kern des heeres bilden immer die ritter, nur ihre anzahl wird
daher bei der angäbe der heeresstärke genant. So heisst es von Aven-
tinus (143, 38): tüsent ritter heter brdht \ sunder schützen, und fü^hcre;
(144, 16) vom markgrafen von Pallante:
tüsetit ritter sunder sarjaiüe
und hundert sohutzen brahter dare.
Bei Veldeke ist das zur stehenden formel geworden; Turnus stelt dem
Aneas entgegen: zehen tusent ritter ze were sunder schützen und fü^-
here.
Das fussher bestand wol aus den „schildknechten," wie sie Vel-
deke gewöhnlich nent. Turnus lässt bei der belagerung von Montalbäne
VIRGIL UND HEINRICH V. VELDEKE 147
die schildknechte den stürm auf die bürg eröffnen (177, 22) und dass
die schildkncchte der verachtetste teil des heeres waren, geht aus den
gleich folgenden werten (177, 38) hervor:
Solde nian schiltknehte klagen,
so nwM da michel jänier wesefi.
In höherem ansehen standen die schützen; sie musten bei der belage-
rung durch ihre geschosse die Verteidiger von mauern und zinnen ver-
treiben, oben wurde einmal ihre zahl besonders angegeben. Die sarjante,
die auch oben erwähnt wurden, sind die knappen der ritter. Pussheer
und schützen treten aber ganz zurück in offener feldschlacht. Diese ist
bei Veldeke wie bei Herbort und Conrad ein kämpf zu ross von rittern
gegen ritter gekämpft. Bevor die beere gegen einander rücken, werden
die „zeichen" — die fahnen — angebunden (175, 25. 199, 39. cf. Nibel.
1535, 3: er haut oiich zeime Schafte ein zeichen da^ was rot). Wenn
die scharen gegeneinander reiten, sprengen aus den reihen diQ anfuhrer
hervor und bestehen einander im ritterlichen einzelkampfe. Hier haben
wir einen verwanten zug der höfischen dichtung mit dem antiken epos.
Der massenkampf tritt zurück , der einzelne berühmte ritter sucht seinen
wolbekanten gegner auf. So besteht Turnus den Pallas, Aneas den
Mezentius. Bei Virgil fällt der junge held Pallas von Turnus speer
getroffen , im höfischen gedichte fällt er nach kunstgerechtem ritterlichem
Zweikampfe (cf. sp. 205). Sie rennen zu rosse gegeneinander, beide
decken sich mit den Schilden ritterlich, beide werfen sich vom rosse,
nun greifen sie zu den schwertera, die Schilde sind bald zerhauen, da
schlägt Pallas dem Turnus mit einem mächtigen hiebe den heim durch
und die ringe der kopfhaube unter dem helme, so dass jener in die kniee
sinkt, unfähig zum schlagen auszuholen; da ersieht er die gelegenheit
und stösst dem aufrecht vor ihm stehenden Pallas das schwort unter den
panzer in den leib. — Die kraft war auf beiden selten gleich, die list
trägt hier den sieg davon.
Äneas setzt im Zweikampf den Lausus, den söhn des Mezentius,
eine speerlänge hinters ross auf den sand, er selbst schiesst natürlich
bei dem mächtigen anlauf weit über den gefallenen gegner hinaus, aber
beim umkehren haut ihm Lausus das ross hinter dem Sattelbogen aus-
einander. Nun komt es auch hier ^ zum schwertkampf: si gehen und
neinen die siege f reisliche, hierbei beweist Äneas seine grössere kunst
im vehten tmde schirmen (mit dem Schilde parieren) , und dadurch über-
windet er seinen gegner. — An der Camilla wird gerühmt (243, 5 fgg.) :
wie s^i slüch und tvie si stach
und wie si ir spere hra^h
10*
148 B. WÖRNEB
tmd wie si justierde
und wie si pungierde.
In dem Zweikampf zwischen Äneas und Turnus gibt sich letzterer erst
dann als besiegt, nachdem ihm der dickschenkel durchhauen ist, von
einer derartigen Verwundung ist bei Virgil nichts zu lesen; bei Veldeke
hat früher Turnus dem riesen Bitias den Schenkel durchgehauen und ihn
auf diese weise kampfunfähig gemacht (197, 29); ich erinnere mich aus
der Gunlaugs saga Ormstunga, dass dort auch Gunlaugr auf eben diese
weise seinen gegner Hrafn besiegt. Im ganzen fasst sich Veldeke ver-
glichen mit Herbort und Conrad bei beschreibung der schlachten kurz:
e^ wäre ze sagene alze lanJc, \ wer da viel und wer da stach
und wer da sin spere brach, \ wer da starb und wer da slüch
want der was vil unde gnüch. (201 , 32 fgg.)
Fast mehr fleiss als auf die beschreibung der feldschlachten hat Veldeke
auf die Zeichnung der belagerung verwendet. Das alte römische lager,
welches sich bei Virgil mit seiner linken seite an den Tiber anlehnt, ist
bei Veldeke zu einer bürg geworden , die auf dem steilen berge Montal-
bane (der dichter denkt sich ihn an der mündung des Tiber gelegen)
erbaut ist. Sp. 118 fgg. wird die läge des berges genau beschrieben, es
ist ein hoher , steiler felsen am meere , rings von gutem lande umgeben ;
ein von natur fester ort, oben entspringt ein quell, dessen wasser
stark hinabströmt ins meer. Nur an einer seite ist der aufgang mög-
lich über einen schmalen rücken des berges (einhalb dar zu gienk \ ein
hals, der ne was niht breit). Diesen ort also ersieht sich Äneas für
seine bürg aus, und wenn man die läge der noch erhaltenen alten bür-
gen vergleicht , so stimt sie ja in den meisten föllen mit unserer beschrei-
bung überein. Gewöhnlich liegen sie auf dem gipfel eines nach drei Sei-
ten hin steil abfallenden bergkegels. — Der schmale hals wird nun
durchbrochen und durch zwei graben unzugänglich gemacht. Der nie-
dere gi'aben ist weit und tief, er ist erfüllt vom wasser des bergquells,
davor ist noch ein kleinerer graben (p. 177, 2 fgg.). Der berg wird durch
bercfride, warttürme, und mit crkären befestigt; über den graben führt
die «Zugbrücke , diese wird durch einen bcrcfrid beherscht (156, 9 fgg.
191, 6). Aneas trift nun gegen das anrückende belagerungsheer seine
verteidiguugsanstalten. Es werden genau bestimt die, welche auf den
türmen und die auf den zinnen der burgniauer platz haben, wer des
nachts die wache haben und wer schlafen solle. Die waflFen werden fer-
tig gemacht, die besten schützen werden auf dem burgtore postiert, die
schwachen stellen der bm-g mit der stärksten besatzung versehen. Als
nun das beer des Turnus zum stürm heranrückt, wird die brücke auf-
VIBOIL UND HEINRICH V. VELDEKE 149
gezogen, die zinnen und türme besetzt, die dächer abgebrochen, die
fahne aufgesteckt (175, 31). Den ersten stürm auf die feste fuhren die
schildknechte aus, sie kommen aber nicht über den graben, und müssen
mit grossen Verlusten zurückgehen. Die Trojaner empfangen von den
zinnen und erkern aus die stürmenden mit hageln von pfeilen und stei-
nen. Am nächsten tage sucht Tunius den graben zu lullen. Es werden
grosse wagen mit reisig herbeigefahren, aber ehe sie die trachten in
den graben werfen und zurecht legen können, sind schon die belagerten
mit „smalz, swehel tind hech'* bei der band und stecken das holz in
brand. Als der graben nicht mit holz gefallt werden kann, wird erde
herbeigeschafft, mangen werden errichtet mit seilen bespant und bemant.
Es sind die kriegsmaschinen zum schleudern grosser steine. Man stelt
ferner die ebenhöhen auf, von denen aus man die belagerten auf der
mauer erreichen konte, treibt sie gegen die mauer heran und besetzt sie
mit schützen. Jetzt begint der allgemeine stürm, die Trojaner müssen
vor der menge der pfeile und gere und brandspiesse (materetle) die
zinnen verlassen, nur die mit panzer gerüsteten können sich noch oben
halten. Askanius fuhrt sie zurück, die stürmenden sind bereits bis zu
den zinnen emporgestiegen, oben empfängt man sie mit schweren stei-
nen und bleikolben; die läz,steine werden herabgerolt und reissen im
falle die stürmenden mit sich in den graben hinab. Diesen ist es unter-
dessen gelungen, den bercfridj der die brücke beherscht, in brand zu
stecken , dieser stürzt zusammen und so gewinnen jene die brücke. Kurz
die beschreibung der belageiaing von Montalbane gehört zu den leben-
digsten partieen des ganzen gedieh tes. Auch bei den städten des lan-
des ist für unsern dichter immer die feste läge von der höchsten Wich-
tigkeit; Veldeke hat nichts, was Virgil vom baue Carthagos und seineu
palfisten erzählt, aber wie fest die läge der horch Carthago sei, beschreibt
er ausführlich (p. 27, 11 fgg.). Auf der einen seite bespült das meer, auf
der andern seite breite ströme ihre mauern; da enmittcn stunt diu
horch so rast, \ da^ si niene vorhte ein hast \ aUe^ irdische here.
Verlassen wir nun den krieg und begleiten den ritter zu den hoch-
geziteyu So war ja sein leben : bald draussen in kämpf und abenteuern,
bald am glänzenden hofe bei frohen festen.
All dieser reiche staat, die golddurchwirkten gewänder, die pracht-
vollen rüstungen, die teuren coverturen, die rosse, das alles muste gese-
hen werden, muste angestaunt und bewundert werden. Darum immer
die pomphaften aufzüge, wenn irgend ein fürstlicher herr in eine bürg
oder in eine stadt einreitet. Der herzog Äneas hält mit 500 rittern sei-
nen einzug in Carthago, und in den breiten Strassen mit den schönen
häuseru und marmornen palästen sieht er zu beiden selten der Strasse
150 E. WÖBNEB
(wol in den fenstern liegen) die frauen und Jungfrauen „gezieret mid
gebunden'^ in schönen kleidern und zierlichem harputz, die ihre freude
am schauen haben (35, 2). Die ritterliche königin Camilla von Vol-
zäne reitet durch Laurentum. Da eilen ritter und edelfrauen herbei , die
sie gern sehen wollen , si quämen zu den strafen , si stunden unde sä^en,
ze den venstcrn si lägen (p. 149). Als Aneas seine braut in Laurentum
besucht, reitet er mit so grosser pracht einher, dass die blümen und da^
gras ihre färbe verlieren, mit herliehem gedrange, mit 2Mfen und mit
gesange, mit trumben und mit seitspile (337, 37). Das sind die beglei-
ter aller MchgezUen ^ das festliche gedränge, gesang und musik. Die
häuser der stadt Laurentum sind mit pheUe und kostbaren teppichen
behangen. — Bezeichnend ist es, dass Veldeke die festspiele, die Aneas
zu ehren seines vaters veranstaltet, nur mit einigen werten erwähnt,
andere festlichkeiten aber in menge beschreibt, von denen bei Virgil
sich keine spur findet. Während Äneas beim könig Evander weilt, wird
an des königs hofe die schwertleite des jungen Pallas gefeiert (cf. p. 171,
16 — 21. 173, 39 — 174, 27). Der könig gibt seinem söhne das schwert,
welches dieser schon lange begehrt hat, und macht ihn dadurch zum
ritter. Zugleich damit ist aber auch des jungen fürsten krönung ver-
bunden {unde wil in cronen 171, 21), die feierliche anerkennung des
sohnes als nachfolger des vaters." Es finden sich bei Veldeke in der
kurzen beschreibung der festlichkeiten sehr viele von den zügen, die wir
auch aus der schwertleite Siegfrieds im Nibelungenliede kennen (cf.
str. 28 — 44). Wie hier der junge Pallas gekrönt wird, so verteilt dort
Siegfried als junger könig noch einmal die lehen, (wiewol er nicht die
kröne tragen will , so lange Sigmunt und Sigelint leben). Hier wie dort
sendet der könig botschaft über das land, und lässt verkündigen, wer von
den edelbürtigen Jünglingen ritter werden wolle, solle an den hof kom-
men und mit dem jungen könig zugleich schwert, ross und gewand
empfangen. Die schwertleite eines jungen fürsten empfieng also erst
dadurch ihren rechten glänz, dass von nah und fern die söhne der edel-
bürtigen dabei erschienen , und zugleich mit ihm , gleichsam sein junger
hofstat , das schwert empfiengen. Der könig gibt Urnen dafür ross , schätz
und gewand , das schwert empfiengen sie wol von eitern und verwanten.
Das andere grosse fest, welches Veldeke beschreibt, ist die hoch-
zeit des Äneas mit der Lavinia. Auch hierbei eilen boten mit briefen
nach allen reichen, die man zu pferde oder zu schifle erreichen konte.
Der könig Evander ladet seine freunde und mannen ein; bezeichnend ist
die stelle: swer gut umb ere tvolde, da^ her fröliclie qudme und es so
vile näme, da^ e^ im iemer mohte fromen und allen sinen nachkamen
(336, 4 fgg.). Die eingeladenen erweisen durch ihr erscheinen dem Äneas
VntGIL UND HBUmiCH V. VELDEKE 151
ehre , und für diese ihre ehrenerweisimg lohnt ihnen der wirt mit reichen
geschenken. Das gut um die ehre! Darin besteht die« vielgerühmte
fürstliche müde. — Die gaste lassen nicht auf sich warten. Von allen
selten , in schiffen und auf den Strassen , ziehen die ritter zahllos herbei,
diu werUlichen Hute (die spielleute , die gerende dief) , bleiben nicht aus.
An der hochzeitstafel herscht „Meine stille, ^^ der schall ist so gross,
da^ e^ die bösen hedrö^. Das ist das charakteristische aller mittelalter-
lichen festlichkeiten : laut schallende festesfreude und gedränge des Vol-
kes. Da war spiel und gesang , ritterliches turnier {huhurt) und gedrang,
pfeifen und springen, geigen und singen, orgeln und saitenspiel. Und
nun wird die füi'stliche milde des Aneas geschildert. Da er der hehrste
der anwesenden fürsten ist, so begint er das geben. Wen er beschenkt,
der hatte bis an seines lebens ende genug und noch seine kinder genos-
sen dessen. Aber Aneas konte auch geben, es fehlte ihm beim gut
nicht der willige müt. Nach ihm geben die übrigen fürsten vollauf.
Teures seidengewand, gold und aller art kostbarkeiten , silber- und gold-
gefösse, maultiere und edle rosse, seide und sammet ungeschnitteu , rote
goldspangen, zobel und hermelin wird unter die spielleute verteilt, so
dass sie froh von dannen scheiden und das lob des königs singen, jeder
in seiner zunge. Dabei gedenkt Veldeke der festlichen tage von Mainz,
als kaiser Friedrich seinen söhnen das schwort gab, ein fest, von dem
man erzählen wird bis an den jüngsten tag. Es waren fui* die spielleute
unter den Hohenstaufen andere zeiten gekommen, als die von denen der
annalist zum jähre 1043 bei gelegenheit des hochzeitsfestes Heinrich des
Dritten erzählt: Infinitam histrionum et joculatormn multitudinem ad
laudis Sitae cumulum (!) vacuam et inanem sine cibo et muneribus moe-
rentem ahire permisit.
Aus den bisherigen zügen lässt sich schliessen, ein wie reges,
glänzendes leben an den fürstenhöfen schon zu Veldekes zeit geherscht
haben muss. Das ist aber nur die aussenseite dieses lebens. Sehen wir
bei Veldeke nach dem masse, nach dem der wahre wert des ritters
gemessen wurde. Nirgends finden sich dergleichen gedanken deutlicher
ausgesprochen, als in den klagen um gefallene holden. So die worte
des Aneas in seiner klage um Pallas (218, 20):
schone^ bilde, reiner degen!
wa^ ich in korzen stunden
tugende an dir hän vunden!
manheit unde sinne,
trouwe unde minne,
künheit unde mannes rät
und loillich herze zu der tat,
152 E. WÖBNER
gtUe list und gro^ Jcraft!
du wäre stdte und ernisthaft,
milde und reinmütey
du hetest site gute
und aller tagende genüch.
Dem Turnus widmet der dichter einen langen nachruf zum preise seiner
ritterlichen tugenden (332, 6 fgg.):
her was des libes ein degen, \ hüne unde mahtichy \ wise Wide hedah-
tich, I getrouwe unde wärhafi, \ müde unde erhaft, \ ein addar sines gutes, \
ein lewe sines mütes , \ ein ekkesfein der eren , \ ein Spiegel der lieren, \ her
hete wol getanen Hb, \ vil lieb tmren im diu unb, \ si wären ouch itne
holt: I da^ was siner tugende scholt.
Als drittes beispiel möge hier das lob der tugenden Jasons bei
Herbort v. Fritzlar stehen (134 — 163):
Er was vrum von sinnen, er was ze gote reine, dem folke gar
gemeine, den armen ze gebene, sinen geliehen ebene, sinen Untertanen
otmutig, sinen übertragenden hochmütig, kindisch den kinden, grimme
den sunnden, äne wort frume zu der tat, unde mit den Worten rät,
herte zu u/ngerete, zu dem gelubede stete, zu rehter gäbe milde, gefuge
zu dem Schilde, sinen finden offenbar, sinen fründen äne vär, g^-u^am
in der strafe, und von gutem getane, einfeltic an der gebere, manic-
faltic an der lere, kunstic an dem sinne, redelich an dem getvimie,
gebouge zu der wisheit, starg zu der erbeit, in vertrüc dehein shi
Schönheit, im was sin leit niht zu leit, noch sin liep zu liep niht, da^
doch vil selten geschiht , mit zuhten zu juste und zu spil.
Aus diesen beispielen leuchtet schnell ein, worin eigentlich die
cardinaltugenden eines ritters bestanden. Eine derselben, oder wol bes-
ser die erste von allen, war die treue. Sie fehlt in keiner der drei
lobreden. Auf die treue gründet sich ja das Verhältnis des lehns-
mannes zum lehnsherrn, sie war das sittliche band, welches den stat
zusammenhielt. Wenn Äneas an Pallas trouwe und minne gefunden hat,
so heisst das wol soviel, als er hat in ihm einen treuen freund gefun-
den, ebenso heisst Pallas auch stäte und ernisthaft, fest im denken und
handeln; Turnus trägt das lob eines getrouwen und wärhuften , und das-
selbe meint Herbort mit den werten: ze gdubede stete, sinen frümien
äne vär. Äneas hat eigentlich mit der flucht aus Troja die treue gegen
seine mägen und freunde gebrochen; als er sie daher in der unterweit
widersieht, da schämt er sich und es dünkt ihm unere, dass er sich von
ihnen getrent hat.
Dazu kommen die männlichen tugenden der tatkraft, kühnheit, aber
auch der besonnenheit : künheit unde mannes rät und willicJi herze zu der
VIBGIL UND HEINRICH V. VELDEKB 153
tai, wie es von Pallas, hune undc mahticli , tvise unde hedahticli, wie es
von Turnus, äiie wort frum zu der tat, unde mit den Worten rät, wie
es vom lason heisst Es ist das ärgste, was man dem herrn Drances
nachsagt, dass er zwar gut im rat sei, dass er aber ungern vaht und
gerne gcinach hatte (230, 16), oder wie es 233, 4 heisst, dass ihm sein
leben zu lieb sei.
Aus allen diesen tugenden entspringt die ehre des ritters, das
ansehen und die hochschätzung desselben bei den leuten. Die ehre geht
über das leben, spricht auch Veldeke oftmals mit deutlichen werten aus;
um ehre zu gewinnen stürzt sich der ritter in gefahr. 181, 15 wird
Nisus ein edler ritter genant, der gern um der ehre willen ungemach
erdulden wolte ; Pallas stirbt zwar gleich bei seinem ersten waflFeugange,
aber er fällt im kämpfe mit einem hochberühmten gegner (Turnus) , und
nachdem er schon vorher wunder der tapferkeit getan. Wäre er mit
schänden gefallen , so wäre er vergessen worden , so aber starb er geehrt
und untadelig (p. 207). — Mehr als einmal wird dem Äneas vorgewor-
fen, dass er lieber heimat und verwante verlassen habe, anstatt mit
ihnen ehrenvoll zu sterben. Oifenbar ist die ironie in Veldekes werten
gleich anfangs (p. 20, 1): „Es habe den ausziehenden Trojanern besser
gedünkt ihr land zu räumen, als dort rühm zu erwerben, um den sie
hätten sterben müssen.'* Turnus spricht gewis nur das allgemeine
urteil über des Äneas verhalten aus, wenn er sagt (128, 12 — 15):
hefer sin eigen laut gewert,
danner mit sehanden tvart vertriben,
war er mit cren da bdihen, (geblieben, gefallen)
so het er manliche getan.
Acht ritterlich denkt Turnus, dass sein leben nichts mehr wert sei,
wenn er sich vom Trojaner land und weih nehmen liesse: „er selbst
verdiene dann , dass man ihm schild und schwort , die abzeichen des rit-
ters, und all seine ehre nehme und er aus der guten gesellschaft verbaut
werde" (128, 19). Er sagt daher von sich: ich hän den tcillen und
den müt^ da^ ich mm ere und mm gut gerne behaJde, Und so trift
auf ihn auch der schöne lobspruch : ein addar sines gutes , ein ekkestein
der eren.
Den tugenden des ritters setzt die huld der frauen die kröne auf.
So rühmt Veldeke von Turnus: her hcte wol getanen Üb, vil lieh wären
im diu wtby si wären onch ime holt, da^ was siner tilgende scholt.
Merkwürdig ist, wie Veldeke das Verhältnis des Nisus und Eurya-
lus, und Herbort von Fritzlar das zwischen Achilles und Patroclus dar-
154 E. WÖBNEB
gestelt haben. Veldeke erzählt von Nisus und Euryalus, es sei an den
beiden tapferen rittern wol offenbar geworden, dass sie freunde waren,
denn nichts hätte sie während ihres lebens geschieden als der name:
„wan si dulde beide, da§ si ein Üb wären (180, 40). Nisus selber sagt
(181, 20): ivir sin ein Üb und ein geist; und in gleicher weise klagt
Achilles bei Herbort (6081) über den tod des Patroklus: ich was du,
du wer ich, beide dich und mich hete eine trüwe, du bist immer min
rüwe, din not min not, ich bin mit dir halb tot, din geist ist halp mit
mir. Die höfischen dichter sahen also darin eine Schwertbrüderschaft
bis zum tode; die antike auffassung, wie sie bei Virgil noch ist (IX, 179:
Euryalus quo pulchrior alter non fuit Aeneadum, Trqjana nequ^ i^vduit
arma ; ora puer prima signans intonsa juventa) ist glücklicher weise
den mittelalterlichen dichtem unverständlich gewesen.
Der weite abstand der antiken und modernen auffassung zeigt sich
nirgends deutlicher, als in der darstellung der Stellung des weibes in
der gesellschaft. Wie die beiden der antiken epen zu ächten deutschen
rittern wurden, so sind die frauengestalten jener zeit in edelfrauen des
•mitt'elalters übergegangen. Die edelfrau zeigt sich schon in der äussern
erscheinung. Es wird uns nach dem vorhergehenden nicht auffallen,
dass auch hier der dichter stets mit verliebe die kleider der fürstlichen
frauen beschreibt. So wird beim jagdaufzuge der Dido nicht das zier-
liche, schön genähte, mit goldstickerei geschmückte hemd vergessen,
nicht der weisse hermelinpelz mit roten kehlstücken, mit weiten ärmeln
und dem Überzug von grünem sammet, der mit perlen und goldnen bor-
den reich besetzt ist, und hier verschmäht es auch der dichter nicht
französische modeworte einzuflechten wie gezimierct, geriddieret. Der
gürtel der frau ist aus silber und gold gewirkt, darüber sitzt der grün-
samtene mantel mit hermelinbesatz und futter aus zobel; das har ist
ihr mit einer teuern borde aufgebunden, der samthut wider mit.borden
verziert (p. 59 fgg., cf. sp. 145). Hierin bleibt Herbort hinter Veldeke
nicht zurück (cf. 585), er putzt die Medea stattlich für den empfang
lasons heraus. Nachdem sie ihr har gekämt und geflochten , die scheitel
berichtet hat, setzt sie einen kopfputz auf aus rotem golde, aus dem ein
karfunkel blitzt, sie legt das zierlich gefältelte und gekräuselte Oberhemd
an, das blendendweisse mit den enganliegenden ärmeln, darüber wirft
sie ein seidenes golddurchwebtes gewand. Und was gehört nicht noch
alles zui- toilette der edelfrau? Veldeke gibt (p. 322) ein artiges Ver-
zeichnis dieser kleinode; das harband, der Schleier, der weitherabhän-
gende ärmel {mouwe), spangen und gürtel. In diesem geschmack sind
nun auch die geschenke, welche den frauen gesendet werden. Aneas
sendet der Dido einen hermelinmantel mit braunem zobel besetzt, der
VIBGIL UND HBXHBICH V. YELDEKE 155
lang bis zu den füssen herabreicht, rotsamten ist der Überzug, dazu
zwei armspangen, einen fingerreif und eine goldene spange für den
mantel (nuske), dazu noch ein kleid aus dalmatischer seide (Virg. I,
648 pallam signis auroque rigentem et circnmtextum croceo velatnen
acantho).
Die statte der frau ist das haus, genauer die kemenäte, der ort
ihres wirkens. Wie fest hierin der dichter an der anschauung seiner
zeit hält, kan man aus folgenden kleinen zügen sehen: Bei Virgil lässt
Dido den Scheiterhaufen in dem Innern hofraum ihres palastes errichten
(IV, 494 [cf. 504]: pijram tecto inferiore suh auras erige). Bei den
höfischen dichtem wird das feuer in der kemenäte selbst angezündet,
dort nimt sich Dido das leben, und ihre Schwester Anna findet die keme-
näte verschlossen und klopft vergebens um einlass. Bei Herbort von
Fritzlar wird auch das gadem erwähnt, das obere Stockwerk des hau-
ses und der sah Der knappe des Achilles findet die Polyxena am
swibbogen des sales stehen (Herbort 11410). Auch bei Veldeke wird
neben der kemenäte des sales erwähnung getan (39, 24). Die kemenäte
war ein heizbares gemach , oft wird wol ein einstöckiges haus so genant.
Dieser sinn muss liegen in den werten: die boten des Äneas treffen die
Dido in einer kemenäfen nähen hi ir palas (28, 28). Die kemenäten
im palaste des königs Latinus sind mit seidenen Stoffen ausgeschlagen,
der fussboden mit teppichen bedeckt, die polster glänzen von seide, sam-
met und „dimite/' Hierher gehört auch die eingehende beschreibung des
bettes und der kemenäte, welche Dido zur ruhestätte des Aneas bestimt
hat (sp. 48, 31 fgg.) Besonders wird hervorgehoben die angenehme wärme
des gemaches, das feuer „ohne rauch," das tageshelle licht, welches die
kerzen im zimmer verbreiten. Das bett, von jeher der stolz der deut-
schen hausfrau, ist ein wahres prachtstück. Über dem bett liegt ein
deckelaehen (eine zudecke) von purpur mit marderfeil wattiert, über das
weiche und weite upterbett ist das zierliche „weisse" bettuch gebreitet;
doppelt ist der Überzug des Unterbettes, das von federn strotzt, der
äussere samten, der innere {diu underzieclie) von leder, so dass das
bett weich und doch fest ist. Das Unterbett liegt wider auf einer
matratze von zindäle^ diese erst auf dem stroh; das kopfkissen ist sam-
ten wie der Überzug des Unterbettes, und der bolster (wol das keilkissen,
um die erhöhung für den köpf herzustellen) ist phelldin. Ich glaube an
solchen stellen hat (trotz Gervinus p. 295, der die beschreibung des bet-
tes eine Spielerei nent) die deutsche burgfrau recht andächtig und gespant
zugehört. Die mauern der paläste sind so dick, dass die frauen buch-
stäblich in den fenstern sitzen oder stehen müssen , wenn sie hinaussehen
wollen. Die fi-auen sind im mittelalter gebildeter als die männer. Sie
156 E. WÖRNER
können gewöhnlich schreiben und lesen. Veldeke unterlässt nicht zu
erwähnen , dass die erzürnte gemahlin des Latinus mit eigener band dem
Turnus einen brief schreibt: „einen brief si seihe tihte, den si mit sclw-
7ien worden vant, und sereib in mit ir selber hant (p. 125), von Turnus
dagegen heisst es: er hie^ brieve scriben. Lavinia s^chreibt auf perga-
ment in schönem latein ihren liebesbrief an Aneas (sp. 286). — Aber
noch mehr, die frauen waren die eigentlichen pflegerinnen der höfischen
Sitte. Auch aus den nur gelegentlichen andeutungen Veldekes kan man
erraten, dass sich das ganze gesellschaftliche leben jener tage in
bestimten , von der sitte vorgeschriebenen formen bewegte , auf die streng
geachtet wurde. Der ist ein hovescher man, der sich leicht und sicher
in allen diesen formen zu bewegen weiss. Den anstand in irgend einer
weise zu vernachlässigen, ist unhöfisch: e^ is ein unhoveseh site, daz,
man der zulde niene gert (sp. 145, 6). Die boten des Aneas werden
von der Dido gütliche empfangen: und si geneideten der frouwen der
minnen und der trouwen (sp. 28). Dies die stehende formel für den höf-
lichen empfang und den höflichen dank. Als Turnus die königin in ihrer
Jcemenäte aufsucht, empfangt sie ihn minnecliche, mit der den frauen
eigentümlichen liebenswürdigkeit, und er dankt ihr höflich (d. i. mit höf-
licher verneigung): vil ge^ogenUclie genädete her ir darwider. Der sich
entfernende nimt urlotdj, er bittet sich die erlaubnis aus, gehen zu dür-
fen (cf. p. 141. 142). Aneas nimt bei seiner fahrt zum Evander sogar
Urlaub bei seinem söhne: urlotd) her do nam ze Ascänjo, sime sun, als
er von rehte solde tun (167, 6 fgg.). — Die zürnende königin lässt sich
unsanft neben ihrem gemahl Latinus nieder, ohne sich vorher vor ihm
zu verneigen. Es heisst daher von ihr: ir ziüite sie vergaß, unsanfte
sie nider sa^, daz, sie dem Jcunege niJd cnneich (121, 1). Dem eben-
bürtigen gaste geht die wirtin entgegen und reicht ihm den kuss des
wilkommens, so die Dido dem Aneas (35, 32); aber als Aneae seine
braut Lavinia besucht, wartet er, bis ihm der könig heisst seine tochter
zu küssen {e^ hete gerne Uneas an des kuneges bete getan 338, 36). Der
Dido, die für den ritt zur jagd ihren zeiter besteigt, ist Äneas der sitte
gemäss behilflich (61, 10): er diende ir da si üf saz, er führte ihr ross
am Zügel. Und wie höflich verkehren bei Herbort Ulixes und Diomedes
mit Dolon. Dieser hat jene aus Troja geleitet, er will sich verabschie-
den und spricht: Gebietet mir! got segen üch! got lone dir! (8091 fg.).
Beim schmause, den Dido den Trojanern gibt, heisst es: man trug die
speisen „gefüchUche'' vor, man gab ihnen gezogcnliche (31), 30). — Aber
die gesellschaft gab auch etwas aufgewallte Unterhaltung; nicht umsonst
ist es erwähnt, dass die 600 ritter, mit denen Aneas an den hof der
Dido reitet, wol sprechen und gebären konten (p. 34), und ebendahin
VIROIL UND HEINRICH V. VELDEKE 157
gehört, wenn es von den kammerfrauen der Lavinia heisst: sie waren
ivol gesogen imde geret, tvol geJdeit und wol geleret ze tverJcen und ze
worden (p. 341). •
Tacitus hebt hervor , in wie hoher achtuug das weibliche geschlecht
bei den alten Deutschen gestanden habe; das mittelalter ist von dem
minne- und frauendienst geradezu beherscht. Es ist sicherlich ein cha-
rakteristischer zug, wie das deutsche minne sich von igio^ und anior in
der grundbedeutung unterscheidet; in dem griechischen und lateinischen
Worte waltet der begriff des sinnlichen triebes vor, im worte minne
liegt mehr das sinnen und denken an den geliebten, das den geliebten
gegenständ im gedanken tragen. — Darin zeigt sich deutlicher als
irgendwo anders das vorwiegen des gemüts im deutschen volkscharakter.
An tiefer auffassung des Seelenlebens stehen die Nibelungen über der
Ilias, und aus welchem anderen streben sind diese langen monologe
bei den höfischen dichtem hervorgegangen, als aus dem, den inneren
Vorgängen im gemüte des menschen nahe zu kommen und ihnen einen
ausdruck zu geben? Nirgends ist der abstand der höfischen von der
antiken Aneis weiter, als in dem auftreten der Lavinia; bei Virgil ist
die Lavinia eine stumme person , in dem höfischen gedichte tritt sie mit-
tätig auf und ergreift partei. Mit dieser neuerung ist in dem höfischen
gedieht erst die minne in ihr volles recht eingesetzt. Während bei
Virgil sich Lavinia ohne eigenen willen (echt römisch) in den willen ihrer
mutter fugt, entscheidet sich in der höfischen dichtung die Jungfrau gegen
den willen der mutter, bloss ihrer neigung folgend; während bei Virgil
von liebe des Äneas zu der ihm durch götterspruch beschiedenen braut
keine rede ist , wird in der höfischen dichtung der besitz der Lavinia für
Äneas eine herzenssache. Obgleich die Dido der höfischen gedichte ziem-
lich genau der Vii-gilischen nachgezeichnet ist, bekomt ihr Charakter doch
durch ihr schliessliches auftreten eine von der Virgüischen ganz ver-
schiedene farbung. Bei Virgil stirbt die königin unversöhnt, hass im
herzen und Verwünschungen auf den lippen gegen den treulosen Trojaner
(IV, 615 — G29). Ganz anders die Dido bei Veldeke. Sie ist in ihren
letzten augenblicken mild, weich, wehmütig gestimt; verlassen von Äneas
klagt sie zu ihrer schwester Anna: „mir is so im umbe den leiden
lieben man, da^ iehs gesagen niene kanJ^ Nicht ihm gibt sie die schuld
an ihrem Unglück, vielmehr sagt sie: „mich hat min selber wille crsla-
gen'' (74, 36); sie verzeiht dem treulosen: „ivande ir sit es äne scholt, ir
wäret mir genüch Jiolt/' aber sie hat ihn „z'unmä^en'' geliebt, ihre mass-
lose liebe hat sie in schade und schände gebracht. Sie stirbt endlich
nicht mit dem moriemur intdti, sie stirbt vergebend: „die scholde ml
158 B. WÖRNER
ich ü vergeben, ichn mach ü nicht wesen gram*' (p. 78). Freilich Gervi-
nus nent die Veldekesche Dido einen gehaltlosen schatten!
Ich glaube, aus diesen betrachtungen geht hervor, dass BenoitundVel-
deke in den rahmen, welchen ihnen das antike epos bot, ein reiches stück
von dem handeln , denken und empfinden ihrer zeit hineingedichtet haben.
Wird man dichtem, wie Heinrich von Veldeke, gerecht werden wollen,
SG wird man nicht ihre dichtungen von einem absolut künstlerischen
Standpunkt aus mit denen des altertums vergleichen dürfen , wie es Ger-
vinus tut, sondern man wird untersuchen müssen, in wie weit sie trotz
des antiken Stoffes , den sie behandelten , ihrer zeit genug getan haben.
Die vorstehende Untersuchung ergibt, dass Benoit und Veldeke mit mass
und takt den antiken stoff nach der anschauungsweise ihrer zeit umge-
dichtet haben; dass unser deutscher dichter den rechten ton traf, dürfen
wir aus der übereinstimmenden anerkennung schliessen , welche ihm seine
Zeitgenossen zollen. Die art, wie Gervinus diese anerkennung zu deu-
ten unternimt (p. 297 fgg.), ist zu gekünstelt, als dass sie den unbefan-
genen überzeugen könte. Überhaupt hat Gervinus den wert der Eneit
auf kosten des Alexanderliedes ungebürlich heruntergedrückt. Die gestalt
Alexanders ist für jeden dichter ein anderer Vorwurf als die des Äneas,
und eine ganze anzahl ausstellungen des litteraturhistorikers treffen Vir-
gil viel härter als den deutschen nachdichter. Ausrufe wie der auf
s. 294: „Bedauern müssen wir gleichwol, dass Virgil von Franzosen und
Deutschen entweder nicht gekant oder entstelt wurde" — entbehren
streng genommen jeglichen sinnes. Setzt denn Gervinus alles ernstes
bei den menschen des zwölften Jahrhunderts das objective Verständnis des
altertums, seiner zustände und seiner kunstwerke voraus, wie die neu-
zeit sich dieses nach vorangegangener Jahrhunderte langer arbeit in
dem kleineu kreise der „classisch gebildeten" mühsam angeeignet hat?
Sehr lehrreich ist es Bernhardys urteil über Virgil mit Gervinus urteil
über Veldeke zu vergleichen. Bernhardy nent (Gesch. der R.-Litt.
3. bearb. s. 449) Virgils Äneide „das erste romantische heldengedicht,
welches den Übergang machte zu den modernen gleich zwitterhaften
epen." Er sagt am selben orte: Virgil hat „ verschliffene figuren auf
gleicher linie mit seiner gegenwart gebildet , die wunder des mythus und
der götterweit in die prosa seiner tage gezogen, überhaupt die verschie-
denen Zeiten und culturstufen vermischt Seinen Charakteren ist hier-
durch lebensluft und freie bewegung entzogen , vor andern aber erscheint
sein held marklos und unsicher, mehr in werten als in taten gross."
Wenn aber Virgil selbst „ römische färben auf sitte und gesinnungen der
handelnden personen unwillkürlich übertragen hat," was können wir
VIBGIL UND HBINBICH V. VELDEKE 159
unserm dichter für einen Vorwurf daraus machen, dass er statt Virgil-
scher helden wirkliche menschen seiner zeit dargestellt hat und nicht
unwillkürlich, sondern ganz absichtlich bilder aus seiner zeit in den anti-
ken rahmen hinein malte. Die höfischen kreise waren hungrig nach
neuen stofifen der geselligen Unterhaltung. Man nahm sie, wo man sie
fand, also auch aus dem altertum. Wenn nun (nach Bernhardy) Vir-
gils Äneide an innerer aimut des Stoffes leidet, d. h. wenn die handlung
darin spärlich und wenig spannend ist, so wird es nicht wunder nehmen,
dass unsere Eneit an denselben schwächen krankt. Virgils kunst liegt
in seiner spräche, in seiner einzel- und kleinmalerei , in seiner epischen
technik. Die glanzpunkte , „ die grossen momente *' seines epos findet man
in den episoden. Nimt man diese äussere kunstvolle hülle weg , so bleibt
nichts als eine ärmliche, wenig besagende handlung. Mit diesem dürren
kern der erzählung musten unsere mittelalterlichen dichter wirtschaften;
wenn man dies erwägt, so haben sie ihre aufgäbe nicht schlecht gelöst.
Das römische volk konte auf seinen gi'iechischen ahnherrn nicht stolz
sein, das bleibt eine schwächliche figur, aus der auch die sublime Vir-
gilische technik nichts machen konte. Dass aber das Schicksal des hel-
den viele Vergleichungspunkte darbot mit den Schicksalen manches fah-
renden ritters jener zeit , dafür gibt uns die geschichte belege. Darin
mochte auch für die höfischen kreise das anziehende der erzählung lie-
gen, sonst wäre es doch kaum erklärlich, wie ein antiker stoflF so viel-
fach gelesen worden ist, wie nach dem urteil der Zeitgenossen Veldekes
Eneit gelesen und abgeschrieben wurde. Den punkt, in welchem die
mittelalterlichen dichter über Virgil hinausgehen musten, wenn sie ihrer
zeit genug tun weiten , das selbsttätige auftreten der Lavinia , haben sie
richtig herausgefunden und darauf auch die meiste kunst eigener erfin-
dung und ausschmückung vei*wendet. Ich hebe hier noch einige ver-
fehlte urteile bei Gervinus heraus. Seite 295 heisst es: „In diesem Vel-
deke ist es zuerst sichtbar, wie sich ein erregtes innere, das eine nah-
rung für die seele sucht, gegen jede (!) Weitläufigkeit und kleinlichkeit
sträubt , und er lehnt daher detaillierte beschreibungen von Städtebau und
dergleichen, die nichts für gefühl und empfindung bieten, ab, die noch
in seiner wälschen quelle sich vorfanden." — Der erste teil ist insofern
unrichtig, weil sich bei Veldeke sehr viele Schilderungen finden, die
nach unserm geschmack weitläufig und nach Gervinus eignem urteile
kleinlich sind. Ich erinnere an die häufigen beschreibungen von klei-
dem, waflfen, pferden, an das bett der Dido und an das pferdeohr, an
die grabmale (cf. Gervinus s. 297). Der dichter suchte sich für seine
Schilderungen eben die stoffe heraus , welche das interesse seiner zuhörer
für sich hatten. Zweitens ist aber der angeführte beleg, die unterlas-
160 E. WÖBNEB, VIBGIL INI) HEINBICH V. VELDEKE
sene beschreibung des Städtebaues, nicht zutreffend. Denn Gervinus macht
damit eine ausnähme zur regel. Bei Virgil selbst findet sich (I, 425 —
440) nicht eben viel über den bau Carthagos, sieben hexameter füllt
dort das bild von der emsigen tätigkeit der bienen aus. Hier weicht
auch Veldeke nicht sowol von Virgil ab, obschon er sich den anschein
gibt, als vielmehr von Benoit, welcher in 250 halbzeilen seinen lands-
leuten die wunder der afrikanischen stadt beschrieb (cf. Pey. a. a. o.).
Wir haben hier also eine stelle, wo der deutsche dichter seine franzö-
sische vorläge abkürzte (sp. 26, 20 — 27, 24) und aus der französischen
quelle nur die angaben über besatzung, läge und festigkeit der stadt
heraushob. Ebenso schief scheint mir die bestechende an tithese bei Ger-
vinus ausgefallen zu sein: „Im Virgil dünkt man sich in einer alten,
aus dem schutt aufgegrabenen stadt zu wandeln , die aus jedem steine
stumm zu uns spricht und grosse ruinen erhalten hat. Hier geht man
träge und getäuscht zwischen wüsten trümmerhaufen, unter denen uns
ein gutmeinender, eingelernter (?), abergläubischer, auf seinen unsinn
stolzer Cicerone mit endlosem geschwätz und fabeln fast zur Verzweif-
lung bringt." — Ich möchte dem gegenüberstellen: Der eindruck, wel-
chen Virgils Äneide nach rascher lesung im geiste des lesers zurück-
läsöt, gleicht etwa dem eindruck, den ein kunstvoll gefügter mosaikfuss-
boden auf den beschauer macht. Die einzelnen steinchen sind von einem
feinfilhligen , kunstsinnigen samler und forscher, der eiü herz für die
grosse seines volkes hatte, aus einem weitschichtigen material des ver-
schiedensten alters und Ursprungs zu einem grossen bilde mit national -
römischer tendenz zusammengestellt worden. Dem bilde fehlt es an
Schwung, trotz aller feinheit der Zeichnung im einzelnen macht sich
zu sehr eine überlegte künstelei bemerklich und das heterogene material
will oft nicht recht zusammenpassen. Bei Veldekes Eneit komt mir der
eindruck in den sinn, welchen bilder der altdeutschen schule -- etwa die
kreuzigung darstellend — auf den beschauer hervorbringen. Da hat man
nicht römische krieger, sondern deutsche landsknechte , nicht römische
ritter , sondern deutsche kriegsobersten , männer und frauen sind in tracht,
geberde und gesichtsausdruck durchaus deutsch. Und doch welche Innig-
keit schaut aus den gesichtern der frauen, welche oigenart aus den
köpfen der männer. Die. dichter wie die maier dachten nicht daran aus
den grenzen ihrer zeit herauszutreten, sie dachten und malten für ihre
Zeitgenossen.
ST. AFRA BEI MEISSEN. E. WÖRNER.
161
BERICHT ÜBER NEUERE DEUTSCHE MUNDARTLICHE
LITTERATUR
I.
Die Alemannische Sprache rechts des Rheins seit dem XIII. Jahr-
hundert von Dr. Anton Birlingrer. Erster Theil. Grenzen, Jahrzeitnamen,
Grammatik. Berlin 1868.
Bairische Grammatik von Dr. Karl Welnhold. Berlin 1867.
Bayerisches Wörterbuch vonJ. Andreas Schmeller. Zweite mit des Ver-
fassers Nachtragen vermehrte Ausgabe im Auftrage der historischen Commis-
sion bei der königlichen Academie der Wissenschaften bearbeitet von G. Karl
Frommann. Erste bis dritte Lieferung (A bis Foissen). München 1869.
Ein Ausflug nach Gottschee. Beitrag zur Erforschung der Gottscheewer
Mundart von K. J. Schröer. Wien 1869. (Besonderer abdruck aus dem octo-
berhefte des Jahrganges 1868 der Sitzungsberichte der philosophisch - histori-
schen klasse der kaiserlichen academie der Wissenschaften).
Idiotikon von Kurhessen. Zusammengestellt von Dr. A, F. C. Tllmar,
Ritter des kurfürstlichen Wilhelm sordens , ordentl. Professor der Theologie zu
Marburg, Oonsistorialrath. Marburg und Leipzig 18G8.
Beobachtungen auf dem gebiete der vocalschwächung im Mittel-
binnendeutschen, bes. im Hessischen und Thüringischen. Von
Ernst Wülcker. H. L. Brönners druckerei in Frankfurt a. M. 1868.
Die Ruhlaer Mundart dargestellt von Karl Regel. Weimar 1868.
Des Matthias v.Beheim Evangelienbuch in mitteldeutscher Sprache,
1343, herausgegeben von Reinhold Beehstein. Leipzig 1867.
Über die Sprache Luthers. Ein Beitrag zur Geschichte des Neuhochdeut-
schen von Dr. E. Opitz. Halle 1869.
Unsere zusammenfassende übersieht hervorragender erscheinungen
auf dem gebiete der deutschen mundartlichen forschung mag in diesem
ersten versuche sich bis zu einem gewissen maasse von den zeitlichen und
örtlichen grenzen dispensieren, die wir später, falls unser unternehmen
einigerraassen anklang findet, einzuhalten gedenken. Denn obgleich die
litterarische tatigkeit auf diesem felde verglichen mit der auf vielen
anderen verwanten feldern inmierhin nur eine beschränkte zu nennen ist,
so ist sie doch so ausgedehnt, dass sich kaum das, was ein einziges
jähr zu markte bringt, in den bescheiden zugemessenen rahmen einer
solchen übersichtlichen betrachtung fassen lässt, wie wir sie hier beab-
sichtigen , während wir diesmal auf die erträgnisse mehrerer jähre zurück-
greifen wollen. Auch wird es sich empfehlen, auf einmal nicht das
ganze räumlich und sachlich so ungeheuere gebiet aller deutschen mund-
arten heranzuziehen, sondern nur immer eine oder einige ihrer grösseren
natürlichen gruppen , z. b. die beiden oberdeutschen , die mitteldeutschen,
die nordwestlichen niederdeutschen usw. zu berücksichtigen und die anderen
ZBITSCHB. F. DEUTSCHS PHILOL. BD. III. H
162 EÜCKEET
für ein anderes mal aufzusparen. Auch davon haben wir diesmal inso-
fern abzusehen für practisch gehalten, als wir wenigstens ausser den
beiden oberdeutschen auch noch einiges aus dem weiten bereiche des
mitteldeutschen heranzuziehen gesonnen sind. Da wir ausdrücklich vor-
angestellt haben, dass es sich hier nur um eine auswahl einschlagender
litteraturproducte handelt, so kau natürlich irgend welche Vollständigkeit
oder gar eine im bibliogi*aphischen sinne erschöpfende erörterung des
materials hier nicht gefordert werden. Besässen wir noch eine special-
zeitschrift für den gegenständ, so würde ihr diese aufgäbe zufallen, wie
sie jahrelang von Frommanns „ Deutschen Mundarten " unter der rubrik
„fortsetzung und ergänzungen zu Paul Trömels litteratur der deutschen
mundarten " mit gewissenhaftem fleisse gelöst worden ist. Seitdem Pfeif-
fers Germania alljährlich von Bartschens band eine bibliographische
Übersicht der gesamten litteratur der deutschen altertumskunde bringt,
kann man dort sich rates erholen , obgleich die nur einmal jährlich erfol-
gende aufstellung dieses Verzeichnisses es nicht gestattet die neuigkeiten
so rasch zu registrieren, als es für viele wünschenswert wäre.
Wir beginnen unsern gang, wie billig, mit dem südwestlichsten
deutschen Sprachgebiete , das , so weit wir es geschichtlich rückwärts ver-
folgen können, noch bis heute die stärkste Individualisierung seiner mund-
artlichen eigentümlichkeiten , die reichste und vielseitigste gestaltungs-
kraft in diesen naiven sprachprocessen betätigt hat.
Birlingers buch, erster teil, — das erscheinen eines zweiten, wofür
dem Verfasser, wie wir persönlich wissen , reiches material zu geböte steht,
ist zwar in aussieht gestellt , aber als dies geschrieben wurde noch nicht
erfolgt — führt uns in eine der drei grossen dialectgruppen , die sich inner-
halb der gesamtheit des Alemannisch - Schwäbischen , oder wie man es sonst
bezeichnen will, von selbst als ihre nächsten Unterabteilungen zu erkennen
geben. Wir haben als gesamtnamen den am meisten in der Wissenschaft
neuerdings gebräuchlichen Alemannisch - Schwäbisch angewant, woför
andere , z. b. Weinhold , bloss Alemannisch , wider andere , besonders ältere
schriftsteiler Schwäbisch setzen. Im gründe komt auf alle solche kunstaus-
drücke wenig an, wenn man nur weiss, was damit gemeint ist. Dieser
aber, so oder so, hat den übelstand, dass er eine nur je für einen oder
zwei teile passende bezeichnung zu der des ganzen stempelt. Vielleicht
wäre die einfach topische benennung Südwestdeutsch die geeignetste , dem
würde, zunächst sich Südostdeutsch für Bairisch oder Bairisch- österrei-
chisch anreihen, denn auch hier ist beinahe derselbe einwand wie dort
gegen die herkömliche ethnographische benennung zu erheben. Südwest-
deutsch könte höchstens deshalb angefochten werden, weil es in der tat
ÜBEB DBÜT8CHB MTTNDABTL. LITTBBATX7B 163
noch eine andere selbständige süd westdeutsche sprachgruppe gibt, die
reste des Burgundischen. Aber diese sind so schwach vertreten, von so
geringer örtlicher ausdehnung, und auch in sich durch ihre fortwäh-
rende berührung und anlehnung an den grösseren nachbardialect , eben
den sogenanten alemannischen, verhältnismässig von so untergeordneter
eigenart, dass da, wo es sich darum handelt, die grossen deutschen
Sprachmassen durch entsprechende topische bezeichnungen anschaulich
hervortreten zu lassen, sie nicht berücksichtigt zu werden brauchen.
Es ist nun nicht eine ganze grössere Unterabteilung des Sudwestdeut-
schen, die Birlingers buch umfasst, sondern nur ihre nördliche gliedening:
„die alemannische spräche rechts des Rheines" besagt der titel,
und man wird dabei gut tun, sich zu erinnern, dass der Rhein in seinem Ober-
lauf durch deutsches Sprachgebiet erst nördlich, dann auch eine lange strecke
geradeaus von osten nach westen fliesst, ehe er wider seine nordrich-
tung, die der phantasie die vorhersehend giltige ist, einschlägt. Dieser
halbkreis, den der ström umspant, bildet den grösseren teil des bodens,
auf dem der alemannische dialect rechts des Rheins zu hause ist. Der
Rhein in seiner ersten nördlichen, dann in seiner westlichen richtung
trent dieses gebiet, wie im ganzen politisch, so auch sprachlich sehr
bestimt von dem südwestlich und südlich daranstossenden. Letzteres gehört
zwar unzweifelhaft noch unter die allgemeine kategorie des Alemanni-
schen, also mit dem nördlich daranstossenden unter die eine von den
drei grossen hauptabteilungen des Südwestdeutschen , aber es bildet inner-
halb derselben doch eine, scharf umrissene sprachliche Individualität, die
natürlich, wenn man näher an sie herantritt, in eine weitere menge
untergeordneter sich zerlegen lässt. Für diese südliclie gruppe gebricht
es nicht an einem volkonmien passenden namen, der auch als algemein
angenommen gelten darf. Wir nennen sie lieber Schweizerdeutsch als
Hochalemannisch, wie manche, z. b. auch Weinhold, es tun. Ihnen
heisst dann die nördliche gruppe Niederalemannisch, obgleich ihr Ver-
breitungsgebiet topisch zum teil bedeutend höher gestellt ist , als das der
ersten. Wir befürchten nicht, dass jene schon erwähnten trümmer des
Burgundischen, die zumeist innerhalb der politischen grenzen der heu-
tigen Schweiz sich erhalten haben — nur die sogenanten deutschen
colonien südlich vom Monte Rosa fallen ausserhalb derselben — dieser
bezeichnung im wege stünden. Das Schweizerdeutsch ist also von
vornherein in einer darstellung des Alemannischen rechts vom Rheine
ausgeschlossen, obgleich es auch Alemannisch im engeren sinne heissen
darf. Dass an einigen stellen ein zweifei möglich ist, ob ein localdialect
der nördlichen oder südlichen alemannischen gruppe zuzuweisen sei, ist
selbstverständlich. Es kann aber ebensowol an der noch unvollständigen
11*
164 KÜCKBBT
wissenschaftlichen erkentnis des materials wie an dem objectiven tat-
bestande selbst gelegen sein, wenn ein solcher zweifei sich erhebt. So
fragt es sich für uns immer noch, wohin wir die mmidarten im canton
Schafifhausen zu stellen haben. Geographisch gehören sie entschieden zu
der nördlichen gruppe und dass sie jetzt gemeinhin zum Schweizerdeutsch
gerechnet werden, wäre linguistisch ohne belang, wenn nicht in der tat
so manches in ihnen mehr nach der südlichen als nach der nördlichen
Seite hinwiese. So vor allem ihr lexicalisches material, das mit dem
der anstossenden linksrheinischen gebiete genauer stimt, als mit dem
der anderen rechtsrheinischen. In lauten und formen aber berühren sie
sich wider näher mit diesen , vielleicht die städtische mundart von Schaff-
hausen selbst ausgenommen. Aber stadtmundarten bilden überall, wie
jeder weiss, der sich mit dem gegenstände beschäftigt hat, eine art von
Sprachinseln. So weit die geschichtlichen documente aufschluss geben,
würde bis etwa zum 16. oder 17. Jahrhundert die Verbindung mit dem
norden noch deutlicher heraustreten als heute , und demgemäss kann man
wol annehmen, dass neuere culturhistorische einflüsse auch hier wie so
oft den ursprünglichen typus der mundart stark veränderten. Seit die-
ser zeit mag die einwanderung und Verbreitung lexicalischer eigentüm-
lichkeiten von dem linken rheinufer nicht begonnen, aber doch in greif-
barerer gestalt sich vollzogen haben. So würde ein alle momente,
geschichte und gegenwart, berücksichtigendes urteil hier einen wirklichen
mischdialect anerkennen, der vielleicht zukünftig sich ganz der südlichen
gruppe anschliessen dürfte. Unser Verfasser der „Alemannischen Sprache
rechts des Rheins" bringt zwar selbst unter verschiedenen rubriken seines
buches tatsachen, die für unsere auffassung sprechen, zieht aber auch
hier seine südliche grenzlinie durch den lauf des Rheins. An einer
anderen stelle aber sieht er sich doch genötigt, die stromgrenze aufzu-
geben, nämlich in der äussersten südwestecke des gebietes. Der Breis-
gau wird mit recht von ihm — allerdings ist es auch schon von anderen
vor ihm geschehen — zu der westlichen hauptgruppe, die man gewöhn-
lich die elsässische nent, gerechnet, also von der alemannischen ganz
geschieden. Die schwierigste aufgäbe aber ist die genaue bezeichnong
der nördlichen und nordöstlichen grenzlinie gegen die schwäbischen
mundarten im engeren sinne. Ob eine solche gefunden werden könne, ist
zwar öfters bezweifelt worden, doch herscht neuerdings bei den eigent-
lichen Sprachforschern, die sich mit dem gegenstände beschäftigt haben,
über das ob kein, streit mehr, nur über das wie? So z. b. weicht die von
Weinhold (Alemannnische grammatik p. 8) aufgestellte grenze sehr stark von
der Birlingers ab. So viel wir aus dem gedruckten material urteilen,
das wir allerdings nicht durch neuerlichst aufgefrischte unmittelbare
ÜBBB DEUTSCHS MUNDABTL. LITTBBATUB 165
eindrücke , sondern nur durch schon in der erinnerung etwas verblasste zu
ergänzen und zu beleben vermögen, berichtigt Birlingers darstellung die
Weinholds namentlich an einer wesentlichen stelle. Weinhold lässt seine
nordgrenze mit dem nordufer des Bodensees zusammenfallen, Birlinger
dagegen zieht den alten Linz - und Argengau noch zum alemannischen und
mit rechi Denn in beiden — jetzt die südspitze des neueren Würtemberg —
ist alles, spräche, sitte, tracht alemannisch, oder zunächst anders als bei den
nördlichen und östlichen schwäbischen nachbarn, und gerade hier wird auch
im Yolksmunde der unterschied gegen die Schwaben und das Schwäbische
eben so scharf betont wie in dem Schweizerdeutschen. Es bedarf wol
keiner bemerkung, dass dieselben leute, die recht gut wissen, dass sie
keine Schwaben sind, wie ihre nachbarn in halbstündiger entfernung,
doch mit dem namen Alemannisch ganz unbekant sind. Er gilt über-
haupt nur in der litteratur und nirgends im volke. Während man m
Schwaben selbst von Schwaben und Schwäbisch mehr als genug reden
hört, während auch die westliche hauptgruppe, das Elsässische, noch als
volkstümliche bezeichnung sich erhalten hat — gebricht es auch im
Volke und nicht bloss in der Wissenschaft an einem wirklich lebendigen
namen für das nördliche Alemannische. Ohne zweifei ist dies nicht so
sehr aus der topographischen wie aus der politischen und teilweise aus
der confessionellen Zerklüftung dieses gebietes zu erklären, wogegen der
grössere teil der eigentlichen Schwaben, die deutschen Eidgenossen, und
die Elsässer inmier in einem staatsverbande zusammengefasst waren.
Die confessionelle Zerklüftung erstreckt sich allerdings auch über die
anderen grupp^, doch wird sie entweder durch das politische moment^
wie in der Schweiz, oder durch das topische, wie in Schwaben und dem
Elsass, zu gunsten des einheitlichen wider ausgeglichen.
Wie Birlinger bei dieser heikein grenzbestimmung den grossen Vorzug
geniesst, dass er als ein landeseingeborener und zugleich als ein rüsti-
ger perieget sich überall auf das Zeugnis seines auges und seines obres
berufen kann , so ist darin überhaupt der eigentümliche wert seines buches
ZU suchen. Nicht als wenn es ganz aus solchem selbst erwandertem mate-
riale zusammengesetzt wäre. Jeder, der seine früheren arbeiten kent, die
mehr oder minder doch alle derselben Sphäre wie dies buch angehören,
weiss, dass er sich redlich bemüht, litterarische Zeugnisse aller art,
namentlich auch die eigentlich geschichtlichen documente, zu seinen
zwecken zu verwerten. Auch hier hat er das mit eifer getan, und viel-
leicht ihnen mitunter eine zu weit gehende berechtigung zugestanden;
so namentlich, wenn er die alten kirchlichen grenzen überall auch als
Sprachgrenzen nachzuweisen bemüht ist Im grossen und ganzen fällt
ja, das liigt auf derhand, die nord- und nordostgrenze seines „ Aleman-
166 BÜCKEBT
nischen rechts vom Rhein " zusammen mit der entsprechenden der Con-
stanzer diöcese und der von Chur , aber im einzelnen ist nicht abzusehen,
wie bei der feststellung der letzteren irgend eine andere practische rück-
sicht vor der doctrinären und so ganz modernen der einhaltung der
Sprachgrenzen habe zurücktreten sollen. Demzufolge würde sich viel-
leicht auch diese letztere im einzelnen doch noch etwas anders, als Birlinger
will , gestalten , was freilich nur die sorgfaltigsten localforschungen ermit-
teln können, wozu in der studierstube nicht der richtige ort ist. Wir
wären selbst nicht zum zweifei angeregt worden , wenn nicht dies behaup-
tete so ganz reinliche zusammenfallen beider grenzzüge uns stutzig
gemacht hätte. Im letzten gründe liegt dieser ganzen auffassung doch
noch immer die einstige Langsche theorie von dem zusammenfedlen der
gau- und archidiaconatsprengel und dem entsprechend auch der diöce-
san- und metropolitangrenzen mit denen der grösseren politischen und
ethnographischen einheiten zu gründe. Sie ist aber nunmehr als beseitigt
anzusehen , wenigstens so weit sie eine stricte regel aufstellen wollte. Sind
ja doch nicht einmal die alten gaugrenzen selbst, von denen man es am
ersten voraussetzen könte, mit irgend welcher anderer berücksichtigung
des ethnographischen momentes — was für uns wenigstens im princip
oder in seiner urgestalt mit dem linguistischen zusammenfällt — gezo-
gen, ausser mit einer ganz allgemeinen, dass z. b. wo möglich keine
fränkischen Volksbestandteile mit einem sächsischen gau verbunden wur-
den , keine bairischen mit einem alemannischen , obgleich selbst hier , wie
der Albegau und Ammergau zeigen , ausnahmen zu finden sind. Selbsi>-
verständlich läugnen wir also nicht, dass in sehr vielen fällen die gau-
grenzen wirklich mit sprach- oder dialectgrenzen zusammenfallen , nament-
lich wenn dieselben auch geographisch als solche auftreten, aber es
entspricht sehr wenig dem rein practischen sinne unserer vorzeit, in
diesen dingen überall etwas schematisches oder systematisches sehen zu
wollen.
Schon aus der richtung, in der wir bisher Birlingers buch verfolgt haben,
lässt sich abnehmen, dass es keine blosse grammatische oder lingui-
stische arbeit im engeren sinne genant werden kann, obgleich es ein
linguistisches thema zum titel gewählt hat. Es sind linguistisch -cultur-
geschichtliche Studien aus dem bereiche und zur beleuchtung der heimat-
lichen mundart des Verfassers. In dieser art unterscheidet es sich sehr präg-
nant von seinem Vorgänger und vorbilde , Weinholds Alemannischer gram-
matik. Birlinger selbst nimt für sich nur das verdienst in anspruch. Wein-
hold zu ergänzen und fortzusetzen. Er sagt: „Was den terminus a quo
anlaugt, so glaube ich dem herausgeber der Alemannischen granunatik da
begegnen zu sollen , wo seine hauptkraft abzunehmen scheint. iMit vereh-
ÜBEB BDÜTSCHE MUVDABTL. UTfBRATUB 167
rung muss man an dem herlichen material und dessen wissenschafblicher
behandlung emporblicken, das uns seine Alemannische grammatik vom
8. — 13. Jahrhundert bringt, und ich schätze mich glücklich, wenn ich mit
meiner arbeit irgendwie Weinholds buch ergänzen könte." Überblicken wir
aber nur das inhaltsverzeichnis Birlingers, so ergibt sich, dass „ ergänzen ^^
hier in etwas weitem sinne zu nehmen ist Es ist eben ein ganz anderes
System, ein weiterer horizont, der diesem buche, im gegensatze zu der stren-
gen und knappen beschränkung Weinholds auf das bloss linguistische, neben
den vielen wertvollen linguistischen beitragen und „ergänzungen^' im
gewöhnlichen sinne , teils auch erheblichen berichtigungen seiner Vorgän-
ger , eine eigentümlich lebendige färbung gibt. Um dies auf kürzestem
wege deutlich zu machen , setzen wir das inhaltsverzeichnis her mit eini-
gen beiläufigen bemerkungen: L „Grenzen. Politische, kirchliche alte
grenzen sind Sprachgrenzen. Es gibt zwei Sprachgrenzen nördlich. S. W.
der Rhein angesetzt.^^ Über den einen punkt haben wir bisher schon
manches teils bestätigend teils zweifelnd gesagt. Über den anderen sei
bemerkt, dass Birlinger unter den zwei Sprachgrenzen die des gesamtdia-
lectes , des südwestdeutschen , wie wir ihn nennen möchten , versteht. Er
sucht nachzuweisen , und der nachweis ist , da ausreichende geschichtliche
Zeugnisse vom 4. Jahrhundert ab zu geböte stehen, nicht schwer, dass die
ursprüngliche nordgrenze des Sprachgebietes mit der ältesten nordgrenze
der Alemannen auf dem rechten Rheinufer , also von dem römischen limes
bis ungefähr an die mündung des Mains zusammenfiel: auf dem linken
Rheinufer, wo die Verhältnisse bekantlich viel weniger klar vorliegen,
gelingt es auch ihm nicht etwas sicheres aufzustellen. Diese sprach -
und volksgrenze ist seit 496, seit der ersten niederwerftmg der Aleman-
nen durch Chlodwig, verschoben. Das linksrheinische gebiet gehört von
nun an politisch unmittelbar zu dem fränkischen reiche , ebenso auf dem
rechten Rheinufer das land bis südlich zur mündung der Murg und dann
über das gebirge hinüber bis zum oberlaufe des Neckar, und die frän-
kische grenze erreichte oberhalb . Ulm die Donau. In diesem landstriche
tritt nun neben der fränkischen occupation, die unzweifelhaft auch die
sprachlichen Verhältnisse modificierte, ein eigenartiger, wenn auch ver-
wanter ethnographischer bestandteil auf, die seit dem 4. Jahrhundert
als nachbam und genossen der Alemannen oft genanten Juthungen. Für
den künftigen monographen der eigentlich schwäbischen mundart mii es
darauf ankommen zu zeigen, wie weit dies äusserst rätselhafte — denn
was von und seit Zeuss darüber vermutet wurde, ist keine lösung, nur
eine verschlingung des „ haftes " — juthungische dement auf die bildung
des specifisch Schwäbischen eingewirkt hat, das nach unserer ansieht
keineswegs allein auf jenes zurückzuführen ist. Birlinger hat sich mit
168 BÜCKEBT
recht auf diese so schwierige und jenseit der grenzen seiner aufgäbe lie-
gende Untersuchung nicht weiter eingelassen. Darauf folgt als ü. „Jahr-
zeitnamen. Unterschied der Alemannen, Schwaben und Baiern in benen-
nung der monate, Wochentage." Eine menge urkundliches, und nicht
wenig der lebendigen spräche entnommenes material, sehr brauchbare
ergänzungen der einschlägigen Zusammenstellungen in der „ geschichte der
deutscheu spräche" und in Weinholds abhandlung über „die deutsche jahres-
einteilung," während die 1869 verfasste abhandlung desselben über „die deut-
schen monatnamen ," obgleich dem datum nach jünger als Birlingers buch,
dies noch nicht benutzt zu haben scheint. So sind beide als unabhän-
gig von einander hie und da durch einander zu ergänzen, gelegentlich auch
zu berichtigen. Namentlich zeigt sich, dass manches, was Birlinger für
specüisch alemannisch zu halten geneigt ist, bei ausgedehnter Übersicht
über das material einen viel weiteren Verbreitungsbezirk hat. Erst mit
III. treten wir in den eigentlich linguistischen bestandteil. Er enthält
„Die vocale"; IV. „Die consonanten"; V. „Substantiv. Bildung, geschlecht,
declination " ; VI. „Adjectiv, adverb"; VII. „ Interjunctionen , conjunc-
tionen"; VIII. „Interjectionen, lockrufe, schmerzensrufe usw.," wobei
der samler so recht gelegenheit hat sein talent für die erfassung des
volkstümlichen zu entfalten. Denn gerade in diesem bereiche leisten alle
mundarten wahrhaft überschwängliches , die alemannische übertrifft sie
aber doch alle. IX. „Präpositionen"; X. „Zahlwörter"; XL „Prono-
mina"; XII. „Zeitwort. Hilfszeitwörter, die hauptunterscheidung der
Alemannen und ihrer Nachbarn," d. h. die sogenanten präteritopräsentia
sollen, mögen, können, wollen und die beiden gewöhnlich so genanten
hilfszeitwörter sein und haben zeigen im Alemannischen rechts des Eheins
^'ine anzahl eigentümlicher formen, die bei den andern grossen gruppen
des Süd westdeutschen nicht vorkommen. So die nasalierten formen von
sollen: sond^ sünd, oder die assimilierten sott usw., die freilich aber auch
im Schweizerdeutsch sich finden, dem entsprechend mund, münd von
müssen, und meid, nwt von mögen usw.; nichts neues, denn alle diese
formen sind auch schon bei Weinhold verzeichnet. Aber ihre locale
abgrenzung ist immerhin nicht ohne bedeutung für die linguistik. Im
ganzen ist übrigens diese rubrik des verbums etwas dürftig ausgestattet.
Namentlich hätten sich unter den mundartlichen Verwechselungen der
verschiedenen starken conjugationen doch wol noch zahlreichere belege,
als die wenigen p. 193 aufspüren lassen.
Endlich XII. „Über einige stellen bei Ammian: über die alten gau-
namen; zur heldensage; wie dachten die Elsässer von der schwäbisch -
alemannischen grenze ? Mones versuch einer kleinen oberrheinischen laut-
lefire" führt wider, wie man sieht, zum grösseren teil in den kultur-
ÜBEB DEUTSCHE MÜNDARTL. LITTEBATÜB 169
geschichtlichen bereich zurück, von dem der Verfasser ausgeht. Unter
dem interessanten vielerlei dieser rubrik heben wir die hübsche Unter-
suchung über die specifisch alemannische bezeichnung hära, jetzt haaty
hervor. Die vier urkundlich vorkommenden haaren , die Adalhartespära,
Albwinespära, Foicholtespära und die bedeutendste von allen, die^erÄ-
toldespära oder Birhtilonispära sind hier zum ersten male genauer
bestirnt. Namentlich für die Berhtoldesbära dürften wol alle älteren
urkundlichen erwähnungen hier zusammengetragen sein. — Die sprach-
liche erklärung p. 205 , wo es auf die wurzel hat, gotisch bairan zurück-
gefahrt wird, ist jedenfalls richtiger als alle früheren deutungen von
Grimm, Graflf, Pörstemann usw., von den keltischen phantasieön Mones
und anderer ganz abgesehen. Das entscheidende ist , dass das ältere pära
ein langes a haben muss, was Förstemann, Graff und Grimm nicht
beachteten. Allerdings gibt es dafür kein handschriftliches zeugnis , aber
ein viel besseres aus der lebendigen spräche , worauf Birlinger als auf die
sicherste stütze seiner etymologie hätte verweisen können. Wäre ä anzu-
nehmen, so müste es im heutigen dialect harr lauten^ während es här
gesprochen wird , was denn auch die officielle Schreibung haar widergibt.
Ob nun aber gerade ein waldentblösstes getreideland — das ist ganz
gewis die heutige haar — damit gemeint sei, steht dahin. Vermutun-
gen sind in solchen dingen so wolfeil wie brombeeren, also wollen wir
nicht mit neuen zu markte fahren. — In dem bereiche der heldensage
legt der Verfasser mit recht grosses gewicht auf die localisierung der
Dietrichsage, die gerade so weit nach norden reicht, wie die dialect-
grenze gegen das eigentlich Schwäbische. Die von den schwäbischen
dichtem viel gefeierte Wurmlinger capelle ist der nördlichste punkt, wo
sie sich localisiert hat; im eigentlich schwäbischen gebiete hat sich bis
jetzt noch keine sichere spur davon gezeigt. Dass der einfluss der Fran-
ken allein dabei nicht hemmend wirkte , wie Birlinger anzunehmen geneigt
ist^ geht aus der zweiten heimat der Dietrichsage am fränkischen Nieder-
rhein mit Sicherheit hervor. Es scheint, als wenn die Juthungen als
eines der grundbestandteile des Schwabentumes sich aus uns einstweilen
undurchsichtigen gründen spröde dagegen verhielten.
Die älteren volkstümlichen Zeugnisse für die elsässische dialect-
grenze aus Geiler, Pauli und anderen zeigen, dass man auch damals wol
im allgemeinen den unterschied der heimischen mundart gegen nahe ver-
wante stark empfand, wofür aus noch viel früherer zeit die bekante stelle
des Renner, die auch heute noch zutreffende characteristik aller deut-
schen hauptmundarten , so zu sägen der officielle beleg ist. Aber im
einzelnen hat man sich natürlich nicht sehr um die genauigkeit der
grenzbestimmung gekümmert. Man hielt sich dabei mehr an grosse
170 BÜCKERT
merkzeicheD der natur, die sich der yolksphantasie leicht einprägten,
als dass man nach heutiger art davon zunächst abstrahiert und sich auf
die Sache selbst d. h. die localsprache minutiös eingelassen hätte. So
ist es ganz anschaulich , wie die Strassburger , und solche Zeugnisse stellt
Birlinger hauptsächlich zusanmien, das Schwäbische, d.h. den dialect, der
unter den verwanten ihnen doch der mindest nahestehende war, da
angehen lassen, wo die blauen kuppen und rücken des Schwarzwaldes
ihren östlichen gesichtskreis begrenzen. Ganz mit recht, insofern dahin-
ter, wie die exacte forschung nachweist^ das eigentlich schwäbische gebiet
begint, aber bis auf die höhen selbst reicht es nicht Hier war damals
so gut wie heute die heimat eben des Alemannischen, dem Birlingers
buch gilt. Aber da dieses von dem Strassburger stadtdialect in vielen
dingen beeinflusst ist, wie sich denn bekantlich der sprengel des alten
bistums Strassburg weit über das rechte Bheinufer bis hinauf ins gebirge
erstreckt, so wird diese mundart kurzweg noch der heimischen zuge-
rechnet.
Weshalb Mones sehr kurz gefasster versuch einer kleinen oberrheini-
schen lautlehre aus dem zweiten bände seiner Urgeschichte Badens hier wider
abgedruckt ist, vermag man nicht recht einzusehen. Es scheint fast,
nach den ausrufungszeichen , die dazwischen gesetzt sind, um die mehr
oder minder dilettantische art dieses Versuches hervorzuheben. Aber des-
sen bedarf es doch nicht bei dem heutigen stände der linguistik, dem
Mone bei allen seinen sonstigen Verdiensten niemals gerecht zu werden
versucht hat. Niemand wird von ihm eine belehrung über solche dinge
verlangen , so dankbar man ihm auch für das schätzbare urkundliche und
litterarische material aller art sein mag, das er hervorgezogen hat. Es
wäre auf diesem gebiete eben so wenig angebracht, sich ihm als führer
anzuvertrauen, wie etwa auf dem der keltischen Sprachforschung oder
der vergleichenden mythologie, die er ja beide auch zu seiner zeit nicht
ohne momentane Wirkung auf die noch wenig geschulte forschung ange-
baut hat.
Der nachbardialect des Alemannischen, der Südostdeutsche oder 6 ai-
rische führt uns zu einer grösseren zahl von bedeutenden wissenschaft-
lichen leistungen jüngster zeit, falls wir diesen ausdruck auch f&r ein
schon 1867 erschienenes buch gebrauchen dürfen. Weinholds bairische
grammatik, „in der auffassung und behandlung des grammatischen Stof-
fes von der alemannischen nicht unterschieden ," wie der Verfasser selbst
sagt, bezeichnet doch unläugbar noch einen weiteren fortschritt zu dem
idealen ziele einer dialectgrammatik , so verdienstlich auch inmierhin die
alemannische Vorgängerin sein mag. Zweierlei ist dem Verfasser, wie
ÜBBB DEUTSCHS MÜNDABTL. UTTEBATÜB 171
er selbst im vorwort andeutet, zu statten gekommen, was er dort ent-
behren muste: das eine, die mustergiltigen vorarbeiten Schmellers sowol
in seiner granunatik wie auch in dem wörterbuche. Daher ist auch dieses
buch mit recht seinem andenken gewidmet, denn woher sollte unserer
deutschen dialectforschung ein besserer schutzgeist kommen ? Das andere
ebenso wesentliche ist, dass Weinhold eine lange reihe von jähren innerhalb
der Sprachgrenzen des bairischen dialectes gelebt hat. Nicht bloss die
spräche von heute und gestern, sondern auch das eigentlich historische
material erhält dadurch eine ganz andere belebung, als wenn der for-
scher genötigt ist, sich überwiegend auf schriftliche Zeugnisse oder auf
den zufälligen eindruck eines durchfluges zu verlassen.
Es liegt am nächsten und ist demgemäss auch von Weinhold häufig
geschehen, nach der verwanten südwestdeutschen mundart hinüber zu
blicken und durch vergleichung mit ihr das characteristische des Südost-
deutschen herauszustellen. Ihre innere Zusammengehörigkeit in wesent-
lichen dingen springt in die äugen und darf als allgemein anerkant gel-
ten , aber das individualisierende , das daneben auch sein grosses recht hat,
ist nicht so leicht in eine kurze formel zusammenzufassen. Weinhold ver-
sucht es nicht, er hat sich in einer gewissen bescheidenen reserve gehal-
ten; er referiert, aber urteilt nicht selbst ab. Ein anderer forscher, ein
stanmiesgenosse, Schröer in Wien, dagegen äussert sich gelegentlich dar-
über ganz unbefangen (Qottschee p. 26): „Der gesamteindruck, den das
wesen der Gottscheewer macht, ist so verschieden von dem, den wir
von dem bairisch - österreichischen stamme empfangen, dass man bei
ihnen sich etwa unter Franken zu befinden glaubt. Wer aus dem Frän-
kischen je ins Bairische gereist ist, kent wol den unterschied im ton
der spräche, in gebärde und benehmen. Das derbe, rücksichtslose,
ungeschlachte, ja selbst rohe, das uns bei dem Baier aufßlllt, die zu
ausgelassener, jauchzender, jodelnder lust geneigte sinlichkeit und leben-
digkeit , bilden einen auffallenden gegensatz zu dem freundlichen , geschlif-
fenen Franken. Der gegensatz ist namentlich bei dem weiblichen
geschlechte auffällig. Das fränkische mädchen erscheint in Baiem , selbst
wenn sie ihre mundart spricht, gebildet, fein. Das umgekehrte wird
wol nicht gefunden werden. Die bärische diern kann durch munterkeit,
wenn sie schön ist, einen angenehmen eindruck machen, aber immer
mehr den des drollig naiven, als den feiner sitte." Man sieht, der im
eminenten sinne sachkundige und urteilsföliige beobachter blickt hier nur
im vorbeigehen auch auf die Volkssprache und schildert nichts weiter
als den allgemeinsten eindruck, den man von ihr, allerdings im ver-
gleich mit einer mitteldeutschen mundart und nicht mit der anderen
oberdeutschen, erhält, denn dieser gegenüber würde sich der bleibend
172 w BÜCKEBT
richtige kern der beobachtung etwas anders verarbeiten lassen müssen.
Aber die wenigen werte treffen den nagel auf den köpf. In milderer
fassung, wie es der fortgeschrittenen inneren bildung der gegenwart wol
ansteht, besagen sie das nämliche, was man im mittelalter oder im 16.
und 17. Jahrhundert derber und rücksichtsloser bezeichnete. Wemhold,
uns will bedünken mit einem leisen anflug von Ironie, hält es für geraten,
die unangenehmen eindrücke jenes harten alten Vorurteiles durch einen
Zusatz zu mildem : „Dagegen heben die eingeborenen dichter unserer tage,
welche sich der mundart bedienen, mit grosser begeisterung den wol-
klang, die Weichheit und treuherzigkeit hervor."
So wertvoll nun für die erkentnis der Volksseele solche allgemeine
urteile sind, so wird die linguistische Wissenschaft doch nur erst dann
nutzen davon ziehen können, wenn sie es vermag, sie mit ganz bestim-
ten tatsachen aus ihrem bereiche in Verbindung zu setzen und dadurch
zu begründen. Und dies ist sehr schwer, ja, wenn man einigermassen
strenge anforderungen an die exacte durchführung der leitenden Prinzi-
pien erhebt, einstweilen noch unmöglich. Denn gewöhnlich geschieht
es , dass die methodisch schritt für schritt mühselig sich durcharbeitende
forschung, wie man zu sagen pflegt, den wald vor lauter bäumen nicht
sehen kann. Die in freier höhe schwebende intuition sieht nun wol den
wald, aber nicht die bäume, und das wahre kunststück bestünde doch
eben darin, sich so zu stellen, dass man ebensowol den wald wie die
bäume sähe. Die summe einzelner lauteigentümlichkeiten, flexionen,
Wörter usw. ist noch nicht das gesamtbild der mundart, am wenigsten
ein beseeltes, und wolte man für ein solches nur die züge verwenden,
die etwas hervorragend originelles oder individuelles enthalten, so ist
man einesteils fortwährend der gefahr subjectiver täuschung in unbe-
rechenbarer weise ausgesetzt, andernteils auch ungerecht gegen den stoff
selbst. Denn für die mundart selbst ist das , was ihr mit anderen gemein-
sam ist, ebenso wertvoll, und ein ebenso natumotwendiger bestandteil,
wie das, was sie allein besitzt.
Aus diesem gesichtspunkte möchte darum auch eine mehr compa-
rative behandlung und zwar eine solche, die sich mit methodischer
beschränkung an das einzelne hält, einstweilen noch die äusserste grenze
bezeichnen, bis zu welcher die exacte forschung gelangen kann. Was
darüber hinaus liegt, mag wol anregende perspectiven öffnen, das den-
ken und die phantasie vielseitig anregen, aber die linguistik selbst wird
dadurch nicht gefördert.
Es kann eben darum nicht als ein tadel gelten, wenn Weinholds
bairische grammatik als ein trocken gelehrtes buch bezeichnet wird. Es
soll nichts weiter sein , und die trockenheit empfindet doch nur der , der
ÜBER BBUT8CHB MUMDABTL. LITTEBATÜB 173
nicht befähigt ist, die lebendige fülle des inhalts aus seiner schlichten
einkleidnng sich zu eigen zu machen. Das buch erfordert und verdient
ein genaues Studium, paragraph far paragraph; und wenn man bei der
&st unübersehbaren mannigfaltigkeit seines Inhaltes der gewissenhaften
gelehrsamkeit des Verfassers fortwährend sich zu danke verpflichtet fühlt,
weil in der tat nirgends anders so viel geschichtliches und lebendiges
Sprachmaterial auf einem punkte zusammengetragen ist, so versteht es
sich von selbst, dass eine solche anerkennung ein kritisches verhalten
nicht ausschliesst , sondern erst recht bedingt. Hier an dieser stelle, wo
wir die selbstauferlegte beschränkung einer allgemeinen Übersicht fest-
halten müssen, kann nur einiges berührt werden, was sich etwas anders
ansehen, vielleicht ungezwungener erklären lässt. So etwa aus dem
bereiche des famosen ö dieses dialectes, dem vdr, wie bekant, unser
neuhochdeutsches „ergötzen, löflfel, löschen, zwölf usw." verdanken, ohne
sehr dankbar dafür zu sein, weil es in der tat ein unfeiner laut ist.
§ 25 führt als beispiele des unechten umlautes des o — im streng sprach-
geschichtlichen sinne ist bekantlich der umlaut des o überhaupt nicht
in der weise „echt," wie der des a oder a, des o, ou oder u, ü, uo
zu nennen — aus älteren Sprachdenkmälern formen wie foer, vor, tor,
dbrffe, orss usw. an. Aber wahrscheinlich ist hier kein ö in heutiger
weise, sondern etwas anderes gemeint, ein o mit nachschlagendem kurzen
vocal, wie die mundart es noch heute besonders vor oder vielmehr statt
des silbenschliessenden r, gleichviel ob allein oder mit anderen consonanten
verbunden hören lässt. Hochdeutsches vor könte, wenn man es etwas
derb bezeichnet schreiben wollte, hier oft mit voa oder voe^ dorf mit
doaf (oder duaf), doef, doif, gegeben werden usw. Die eben erwähnten
bäurischen ö erscheinen jetzt immer an der stelle eines e oder e, und nur
beschränkte localdialecte , wie einige Tiroler, brauchen sie auch an der
stelle eines o aus u, oder wie einige nordgauische an der stelle des i.
Gerade da aber, woher die von Weinhold citierten beispiele entnommen sind,
gilt diese weiteste ausdehnung des bairischen lieblingslautes heute wenig-
stens nicht. Dieselbe erklärung möchte auch für manche der älteren
belege des „unechten" ü (§ 32), ae (§ 42) und oe (§ 57) gelten dürfen,
namentlich für die beiden letzten fälle, wo die heutige spräche nichts
von einer solchen abweichung des lautes weiss. Für das unechte ü sind
die zahlreichen, von den Alpen bis zur Pegnitz verbreiteten ü, d. h.
gesprochen wie dumpfes i vor n, in anschlag zu bringen. Sie beweisen
eine tiefwurzelnde neigung der mundart für diesen zwischenlaut. Die
Schreibung allein kann in dieser heikein materie nichts beweisen. Denn
es wird sich auch für die mittelalterlichen deutschen handschriften Baierns
und Österreichs bei systematischer Untersuchung: nach dieser seite hin
174 RÜCKERT
herausstellen, was sich für anderwärts geschriebene herausgestellt hat:
die apices, so wollen wir einmal alle diese den.vocalen übergeschriebe-
nen zeichen zusammenfassend nennen, weil es an einem andern kunst-
ausdruck gebricht , sind von den Schreibern zu den mannigfaltigsten
functionen verwant worden. Bald sollen sie einen im phonetischen sinne
unechten diphthongen ausdrücken, wie ie, ue und dergleichen, bald
auch einen zwischenlaut des hauptschriftzeichens, also 6 oder o, wobei
es wenigstens in dem letzteren falle wider zweifelhaft bleibt, ob damit
ein nach dem e oder nach irgend einem andern vocal hin schwankender
laut gemeint ist, denn das o kann ja nach allen andern einfachen voca-
len und manchen zusammengesetzten sich in der lebendigen ausspräche
neigen. Die einem e genäherte schriftgestalt des hier absichtlich gewähl-
ten beispieles ist an sich ganz irrelevant für seine wertbestimmung: es
lässt sich diplomatisch dartun, dass sie mit dem e gar nicht zusanmien-
hängt, sondern nur eine eigentümliche modiiication desselben Zeichens
ist, das gelegentlich auch dem i oder in anderer gestaltung dem o oder
u ähnelt, häufig auch zu einem doppelstrich oder doppelpunkt zusam-
menschrumpft, wo es dann wider keineswegs bloss für den umlaut nach
unserem heutigen und bekantlich so jungen schreibebrauch verwant wird.
Die Schwierigkeit, diese zeichen auf ihren wahren lautwert zu reducie-
ren, steigert sich noch durch einen anderen, lange zeit daneben üblichen
gebrauch mancher Schreiber, aber so weit wenigstens unsere autoptische
kentnis reicht, nicht derselben, welche die eigentlichen diakritischen zei-
chen verwenden (natürlich mit ausnähme derer für i und m, um sie als
vocale im gegensatz zu ihrer consonantischen geltung zu markieren oder
auch, wenngleich selten, umgekehrt). Besonders in der sogenanten alt-
hochdeutschen Periode liebte man es, wahrscheinlich aus blossen rück-
sichten der raumerspamis, denn je splendider die handschriften aus-
gestattet sind, desto seltener sieht man es, die so häufigen doppelvocale,
echte und unechte diphthongen auf und über der linie zu schreiben.
Ganz bekant ist u, oder o, oder o far uo, ou^ aber auch alle möglichen
anderen Verbindungen werden so ausgedrückt. Hier liegt nun nament- *
lieh bei etwas lässigen oder undeutlich gewordenen schriftzügen die Ver-
wechselung mit den andern an sich oft schon sehr ähnlichen, ja wenig-
stens in einem falle, bei dem diakritischen zeichen, das wir oben zuerst
anführten, 6 oder u, formel ganz identischen so nahe, dass man sich nicht
wundern darf, wenn ältere und neuere herausgeber in die gröste Ver-
legenheit geraten , und wirklich oft entschiedene fehler begehen , wie wir
dies anderwärts sattsam nachgewiesen zu haben glauben.
Doch wollen wir bei diesen kleinigkeiten nicht länger verweilen.
Sie ändern an dem werte der arbeit Weinholds nichts. Sie bleibt die wür-
ÜBBB DBUTSCHB KUHBABTL. LITTEBATÜB 175
dige fortsetzung, berichtigung und ergänzung dessen, was einst Schmel-
1er in seiner grammatik der bairischen mundarten begonnen hatte.
Der grosse südostdeutsche dialect ist somit unter alleh seinen genossen
als gesamtheit jedenfalls von der Wissenschaft neuerdings am meisten gepflegt,
denn zu der grammatik Weinholds tritt nun auch der beginn des vrfder-
erstandenen Wörterbuchs Schmellers. Ganz naturgemäss und gerecht
hat sich also da, wo die deutsche dialectforschung begründet, und zwar
sofort mustergiltig und bleibend begründet wurde, auch bis heute die erfolg-
reichste tätigkeit im weiterbau angesetzt Zwar haben wir, wie man
sich erinnert, auf die neubearbeitung des Wörterbuches lange warten müs-
sen, und durch allerlei Zwischenfalle konte sich der ursprünglich beab-
sichtigte termin bis auf mehr als ein halbes menschenalter nach dem
tode Schmellers verschieben. Jetzt aber, wo im laufe eines jahres drei liefe-
rungen der neuen ausgäbe uns zugekommen sind , darf man alle zweifei
aufgeben. Darauf lässt sich auch eine genügende Vorstellung von dem
eigentümlichen werte derselben gründen. Eine einzige scheinbar bloss
statistiche angäbe genügt eigentlich schon daffir ; die bis jetzt erschiene-
nen drei lieferungen sind zusammen 768 spalten stark. Sie entsprechen
571 Seiten des alten druckes und dazu hat jede neue spalte, kraft des
äusserst stattlichen formates und der kleineren, aber sehr guten typen,
fast doppelt so viel zeilen als die ältere seite. Es ist also das material
mindestens auf das doppelte des bisherigen gewachsen. Gröstenteils
besteht es aus Schmellers eigenen notizen, die er bis zu ende seines
lebens fQr diese seine lieblingsarbeit zusanmientrug. Eben deshalb dachte
man auch früher daran, diese notizen allein zum drucke zu befördern.
Namentlich wollte dies J. Grimm, wahrscheinlich aus pietät gegen das
original, dessen begeisterter kenner und lobredner er ja stets gewesen
ist Noch hat die ältere generation der germanisten nicht vergessen,
wie er einst auf der denkwürdigen versamlung zu Prankfurt 1846 den
später gekommenen Schmeller einführte: „hier stelle ich ihnen meinen
freund Schmeller aus München vor, den mann, der alles weiss." Und
wenn irgend ein buch Schmellers zeugnis davon ablegt, dass er der mann
war, der alles wüste, so ist es sein bairisches Wörterbuch. So konte
ebenfalls J. Grimm noch 1859, als die frage über die Verarbeitung des
Schmellerschen nachlasses namentlich in bezug auf das lexicon in der
ersten plenarversamlung der historischen commission zu München discutiert
wurde, die mit recht denkwürdig genante äusserung darüber tun: „Schmel-
lei*s bairisches Wörterbuch ist das beste , das von irgend einem deutschen
dialecte besteht, ein meisterwerk, ausgezeichnet durch philologischen
Scharfsinn wie durch reiche, nach allen selten hin strömende sacherläu-
temng; ein muster für alle solche arbeiten, von dem unwandelbaren trieb
176 BÜCKSBT
seines emsigen, liebenden geistes durchdiningen und belebt." Aber eine
solche getreue herausgäbe der notizen Schmellers wäre sehr unhandlich
geworden, und durch die munificenz des verstorbenen königs Max II. ist
es möglich geworden, den preis des neuen vollständigen werkes so nie-
drig zu stellen, dass es vollendet kaum teurer kommen wird, als nach
dem gewöhnlichen immer noch relativ hohen preisansatze unserer germa-
nistischen bücher jene zusätze, falls sie ohne solche extraunterstützung
gedruckt worden wären. Das alte werk wird jeder, wenn er es nun-
mehr auch zurückstellt aus der reihe der zum handgebrauch nötigsten
bücher, doch mit rührung und dank betrachten und gerne aufbewahren.
Die neue aufläge ist selbstverständlich so behandelt, wie man mit
jeder solchen nach dem tode des Verfassers erscheinenden verfahren sollte.
Frommann hat mit der grösten selbstverläugnung die alte anordnung
der einzelnen artikel festgehalten und nur die zahlreichen neuen, die von
Schmeller selbst herrühren, an der nach dem alten alphabetischen Schema
angezeigten stelle eingeschoben. Er selbst hat nur in den seltensten fäl-
len eigene zusätze und berichtigungen beigetragen, zu denen niemand
beföhigter ist als er. Leicht hätte sich ja dadurch der ganze typus des
Werkes verändert. Aber es ist auch im einzelnen die frühere einrich-
tung, weil sie von Schmeller selbst herrührt, überall beibehalten, auch
da , wo eine abweichung sich von manchem gesichtspunkte aus empfiehlt;
auch in der neuen ausgäbe findet man nicht bloss Schmellers eigentümliche
anordnung der buchstabenreihen , sondern auch die von ihm festgehaltene
trennung mancher im lautwerte gleicher, in der Orthographie aber häu-
fig schwankender , so des B und P, des D und T, des F und F. Eben
deshalb hat der neue herausgeber auch die alte bezeichnung „Bairisches
Wörterbuch" beibehalten, obgleich sie, wie bekant, nicht recht zutrifft,
wenigstens der heute durchgedrungenen terminologie unserer linguistik nicht
entspricht. Schmeller hatte, als er seine grammatik und sein Wörter-
buch gestaltete , zuerst die äusseren grenzen und die inneren unterschiede
der einzelnen süddeutschen dialecte herausgefühlt und in der hauptsache
so trefi'end dargestellt, dass die späteren eben nur noch daran nachzu-
bessern haben, aber er wollte einerseits das ganze ihm zugängliche dia-
betische material , so weit er es aus den in diesem sinne rein durch den
Zufall bestimten grenzen Baiems kante, verarbeiten, andrerseits war
er durch herkunft und beruf doch vorzugsweise auf das bairische element
im eigentlichen sinne verwiesen. So würden die titel der beiden bücher,
speciel des Wörterbuches, richtiger lauten: „Bairisches Wörterbuch mit
berücksichtigung der oberschwäbischen und fränkischen mundarten im
bereiche der heutigen bairischen landesgrenzen." Da sicli aber voraus-
setzen lässt, dass jeder mit der anläge des werkes bekant ist, so wird
ÜBSB DBÜT8CHB MUNDABTL. LITTBRATUB 177
diese ungenaue titelbezeicbnung auch in der neuen aufläge ebensowenig
stören, wie sie es in dem alten originalwerk getan hat. An eine aus-
scheidung nach den localen hauptgruppen wird überdies niemand gedacht
haben.
Es gibt bekantlich auch von dem Standpunkte der belehrenden
unterhaltungslectüre , wie sie jetzt so sehr gepflegt wird, kaum irgend
ein sachverwantes buch in deutscher spräche , was so viel „ interessantes "
enthielte, wie Schmellers bairisches lexicon^ Schade nur, dass es der
grosse und stets im wachsen begrifl'ene teil der lesenden weit, für wel-
che die zahlreichen culturgeschichtlichen , sprachgeschichtlichen, sitten-
geschichtlichen essays unserer feuilletons und periodischen Schriften, und
ein grosser teil unserer populärwissenschaftlichen Vorlesungen, wie es
scheint, nie genug geistigen nahrungsstofl" herbeischaffen können, noch
so wenig kennt Mancher würde sich wundern , statt der trockenen anti-
quarischen gelehrsamkeit, die er darin allein vermutet, überall auf die fri-
schesten quellen reichster lebens- und gestaltungsströme zu stossen, und
noch mehr , wie gar oft ein schalkhafter humor in kurzer epigramma-
tischer Wendung, oder nur in einem drastischen wort, blitzartig durch
einen solchen ehrbaren, nach dem aiphabet in reih und glied gestellten
artikel zuckt. Es macht auf den, der seit langem in dem buche zu
hause ist , einen überaus woltuenden eindruck , dass auch die späteren und
spätesten zusätze von Schmellers band das volle gepräge einer liebens-
würdigen, von grund aus heiteren und freien seele tragen. Der humor
ist ihr bis zuletzt nicht ausgegangen, aber immer humor geblieben, und
nicht mit dem essigbeisatze des alters versauert. So z. b. fällt unser
blick, indem wir beide redactionen, die ältere und die neuere mit ein-
ander vergleichen, auf den artikel „rf/e poUtten^'''' was in der zweiten,
ob mit recht? auf das romanisch -italienische boUetta, spanisch boleta,
französisch buUetm zurückgeführt wird , womit die bedeutung wenigstens
in der deutschen mundaii stimt — eine andere ableitung von dem rom.-
ital. Polizza, span. poliza, franz. police (vom lat. poUex nach Diez
E. W. l^ 328) ist zwar auch angeführt, aber als minder wahrschein-
lich bezeichnet. Bei erwäh"nung des unserem deutschen mundartlichen
politten gleich gebrauchten franz. buUetin setzt die zweite ausgäbe hin-
zu: „Seit juli 1842 nennt herr von Eoth (der damalige präsident der
bairischen akademie der Wissenschaften) auch die akademischen berichte
in den Gelehrten Anzeigen btUletins. Sie mahnen in schuldiger weise an
die berüchtigten bulletins de la grande arniee,'' Als einen kleinen lexi-
calischen zusatz unsrerseits, da wir einmal auf dies wort geraten sind,
fügen wir noch bei, dass die mundart heute noch das schriftdeut-
sche palette, farbenpalette , das bekantlich aus dem romanischen und
ZEirSCHS. F. DEUTSCHB PHILOLOGIE. BD. UI. 12
178 RÜCKBRT
schliesslich aus dem altlateinischen pala in der bedeutung ring- oder
scheibenf5nniges Werkzeug stamt, genau eben so poliUen spricht,
wie sie es schon vor zwei Jahrhunderten so gesprochen hat. Es fin-
det sich in dieser gestalt öfters bei Ayrer, der ja überhaupt so ,viel
bairisch-nordgauische eigentümlichkeiten in lauten und wortbestand hat.
Aus demselben Ayrer ist zu entnehmen, dass die durch Luther welt-
berühmt gewordene form partecken (Umstellung von practica) auch unse-
rer mundart gemäss ist. Schmeller führt zwar partiten, partiken, par-
titereyen in der Überschrift des artikels an, belegt aber aus bairischen
denkmälern nur die t - formen , denn Michel Beheim , trotz seines buches
von den Wienern, wird er jedenfalls nicht zu den Baiern gerechnet haben.
Auf^diese *:t wird man, ganz gegen die absieht, durch die unerschöpf-
liche fülle der anregung und belehrung, die jeder einzelne artikel neu
zu der alten hinzubringt, veranlasst, selbst immer die noch übrigen
fragezeichen gleichsam zur lösung vor das angesicht des buches zu stel-
len, dessen belebender meister uns freilich keine auskunffc mehr geben
kann, wie7er es einst getan haben würde. Aber weil sich schon aller-
lei derartige Schnitzel eingedrängt haben , mögen noch einige platz finden.
Bei dem artikel „ dechanf' sehen wir uns in der neuen aufläge nach der
erklärung eines uns schon lange dunkeln wertes in H. Wittenweilers
Bing 11* um. Dort ist von einem tacken oder tächenschreiber die rede.
Was ist das? Mit tacken und was davon sonst gebildet wird, alles in
verschiedenen modificationen des begiifies und der laute vom lateinischen
decem stammend, hängt es ofTenbar zusammen. Aber von einem beson-
deren büreau der dechantei wissen wir wenigstens aus jenem, gott sei
dank noch nicht so völlig „tintenklecksenden säculum" nichts. Der
Zusammenhang gebietet an eine nicht besonders hochgestellte, nicht
besonders geehrte und beliebte persönlichkeit oder beruf zu denken, das
passte freilich für einen Schreiber eines geistlichen herrn oder einer geist-
lichen behörde besonders auf dem platten lande, wo ja die Schaubühne
der begebenheit ist. Wie die bischöflichen und capitular - officialen sprich-
wörtlich zum ausbund alles bösen und albernen in dem volkswitze der
zeit geworden sind, ist bekant; von den dechanten selbst erinnern wir
uns keiner solchen Verwendung^ also auch nicht von ihren Schreibern.
Am nächsten läge, es mit dorfschreiber zu geben und an die alten, frei-
lich nirgends noch ganz sicher nachgewiesenen politischen decanien, als
Unterabteilungen der centenen zu denken. Auf einen zehentschreiber,
der natürlich passendsten Zielscheibe bäuerlichen spottes und hasses, raten
wir nicht, weil für lateinisch decima in bairischen denkmälern des mit-
telalters und der neuem zeit immer nur die echt deutsche, aus /:ehen
abgeleitete form zeketU, eeckent gebraucht wird. Das mittelhochdeutsche
Obbb dbütschb mthsastl. litteratub 179
Wörterbuch hat dieses tetchenschreiber nicht berücksichtigt. Dazu nur
noch die beiläufige bemerkung: wir f&hren den Bing unbedenklich als
eine bairische sprachquelle an (natürlich so weit ein erzeugnis des vier-
zehnten Jahrhunderts, das bei aller wirklichen localen vergröberung der
spräche doch noch immer correct sein will, eine solche sein kann),
obgleich Weinhold in der bairischen grammatik, es ist uns im augen-
blick unbekant ob zuerst oder nur andern folgend, ihn als schwäbisch,
die handschrift aber von einem Baiern herrührend bezeichnet (Weinhold
p. XIV. artikel Bing). Uns gilt der dichter, wie wir dies schon früher
aussprachen, noch immer als ein unmittelbarer landsmann und nachbar,
freilich nicht als ein Zeitgenosse , wenn auch in manchen dingen — hör-
ribile didu hören wir manche exclamieren — als ein geistesgenosse
Wolframs. Gewisse weichere und geschmeidigere eigentümlichkeiten sei-
ner spräche, verglichen mit der der Süddonau -mundarten, erklären sich
daraus, und sie können zur not als schwäbisch misverstanden werden.
Aus dem realen Inhalte des wunderlichen und uns trotz Uhland und
andern noch durch und durch rätselhaften gemachtes etwas über seine
litterarische heimat oder die seines Verfassers bestimmen zu wollen^
scheint uns verfehlt. — Aus demselben Bing 4:V föUt uns auch die
figürliche redensart bei: ein tcbhen rüren {rürens uns ein tahen), in
der sehr drastischen und auch uns leicht begreiflichen bedeutung, wo
take, d. h. gotisch paho, althochdeutsch dähä, so viel wie unser schmutz,
kot u. dgl. ausdrückt. Aber belegt ist sie für die ältere zeit nir-
gends, weder bei Benecke -Müller, noch auch neuerdings in Lexers
Wörterbuch. Auch Schmeller weiss weder in der älteren noch neuen
aufläge etwas davon. Und doch wird diese Verwendung von tahe, die
nirgends anders begegnet, ein echt mundartlicher zug sein. — Da wir
in das nasse dement geraten sind, so erwähnen wir auch noch das bei
Ayrer (3241, 25) erscheinende verbum teucheln, das Schmeller in beiden
ausgaben wol kent und mit teuciiel, röhre usw. verbindet. Aber die von
ihm allein angeführte bedeutung „propfen^' passt nicht für unsere stelle,
wo es ein humoristischer ausdruck für trinken, mit sehr durchsichtiger
bildlicher färbung ist. Es heisst dort von einem dem beliebten abend-
trunk ergebenen: unser herre abefUs teuehelt gern. — Zum Schlüsse
noch gleichfalls eine ungelöste frage aus Ayrer, wo übrigens trotz der
grossen Sorgfalt^ mit der die ausgäbe gemacht ist, und wofür gewis jeder
sich zu gröstem danke verpflichtet fühlt, noch rätsei genug gefunden
werden können, oder wir haben wenigstens genug solche gefunden.
3259, 31 heisst es: das kühfenster hob ich recht troffen. Schme^er führt
in beiden auflagen nur einen einzigen beleg für diesen gewis einst sehr
volkstümlichen tropus an. Jetzt ist er wahrscheinlich verklungen , wenig-
12*
180 BÜOKEBT
stens erinnern wir uns nicht ihn irgend wo gehört — das will freilich
nicht viel besagen — aber auch ihn irgendwo erwähnt oder gebraucht
gefunden zu haben. Schmeller erklärt ihn für einen ironischen gegen-
satz des kammerfensters der ländlichen schönen, fehlschiessen , irren, den
zweck verfehlen. Aber bei Ayrer kann es das nicht heissen, d. h. es
kann nicht fehlschiessen, den zweck verfehlen bedeuten, sondern das
umgekehrte. Der liebhaber hat ihn nur zu gut erreicht. Kuhfenster ist
also hier, wenn auch unter dem einfluss der gewöhnlichen redensart,
doch in etwas anderem sinne gebraucht, als eine herabsetzende bezeich-
nung von kammerfenster, nicht als ausschliessender gegensatz.
Damit nehmen wir einstweilen von dem buche abschied, von dem
es uns heute, wie jedesmal, wo wir es in die band nehmen, fast unmög-
lich wird loszukommen. Wir bitten nochmals um nachsieht für unsere
sporadischen bemerkungen, die vielleicht ganz hätten beseitigt oder zu
einer systematischen begleitung des Originals, schritt für schritt uns
anschliessend, erweitert werden sollen. Stoff dazu wäre in unendlicher
fülle vorhanden, denn welcher satz, den Schmeller geschrieben, gäbe
nicht, wie die reichste belehrung, so auch die gründlichste anregung
selbst zu spüren, zu sichten und mitzuteilen, so gut als man es ver-
mag. Aber auf solche weise würde aus den noten ein ganzes neues
buch sehr leicht erwachsen, und der gewinn davon, abgesehen dass an
dieser stelle schon das äusserste des einem einzelnen unter den uns
beschäftigenden büchem zukommenden raumes überschritten ist, würde
doch immer nur ein sehr problematischer sein. Jedenfalls sind auch andere
kräfte eher dazu berufen, und vor allem der herausgeber wie kein ande-
rer. Seine weise Selbstbeschränkung hätte auch uns zum guten beispiel
dienen können.
Wo eine solche grammatik und ein solches Wörterbuch einen unver-
gleichlich soliden unterbau geben, wird es nicht schwer halten die ein-
zelnen teile, sei es nach örtlichen oder sachlichen grenzen bestirnt, der
gegenwärtigen Wissenschaft entsprechend weiter fort- und auszuführen.
Vieles, und wider mehr als in jedem anderen deutschen dialektgebiete, ist
ja schon auch dafür geleistet; wir erinnern an Lexers kärntisches,
Schopfs tirolisches Idiotikon, an Frommanns neuausgabe der gedichte
Grübeis, die sich durch Specialwörterbuch und grammatikalische bemer-
kungen zu einer beinahe abschliessenden monographie der Nürnbergisch -
bairischen localmundart gestaltet hat; aber wir denken hier nicht an die
verschiedenen die volksmundarten betreffenden abhandlungen der bekanten
Bavar^^a. Dies mit königlicher munificenz begründete und ausgestattete
unternehmen der beiden letzten decennien hätte, scheint uns, auch im
„kreise der bairischen gelehrten/' auf den es sich ausschliesslich stützte,
ÜBEB DEUTSCHS MVlfDABTL. LITTERATUB 181
doch wol noch andere hände finden können, um Schmellers tätigkeit auf
seinem eigenen classischen heimatsboden fortzusetzen, zu ergänzen und
der gebildeten weit zugänglich zu machen, als die, welche die redaction
oder der redacteur damit beauftragt hat. Denn Sebastian Mutzls dar-
stellung der bairischen mundart in Ober- und Niederbaiern (Bavaria I,
339. München 1860) und Eduard Fentschs oberpfälzische mundart
(ebdas. II, 193. München 1863), zeichnen sich beide durch auffallende kürze
oder knappheit aus , was um so mehr befremdet , da andere rubriken dieses
der gesamten landes - und Volkskunde geweihten werkes , z. b. die geolo-
gische, einen wahrhaft überschwänglichen , das nicht steine klopfende
Publikum möchte vielleicht behaupten niederdrückenden umfang erhalten
haben. Doch kürze ist allein noch kein fehler, wol aber ungenügendes
material; wenigstens so weit es als ein neues sich darstellt, und unge-
nügende wissenschaftliche Specialvorbildung. Als samler wird in dem
bereiche der deutschen linguistik auch der recht nützliches leisten kön-
nen, der, ausser der allgemeinen bildung nach heutigem gemeinbegriffe,
ein scharfes, treues ohr, einen rührigen fuss und eine fleissige band
besitzt , aber zum darsteller gehört mehr. Wir verlangen von ihm , dass
er nicht bloss «auf Schmellers grammatik und lexicon , allenfalls auch auf
die deutsche grammatik von Jacob Grimm und ähnUche hauptwerke sich
berufe, resp. sie gelegentlich eitlere, sondern dass er durch selbstän-
dige Studien über sie im rechten sinne des wertes hinausgekonmien sei.
Dies hinauskommen involviert, dass genante werke, oder ihr ganzer
gehalt^ in dem betreffenden Individuum drin, oder, wie die pedanten dies
auszudrücken lieben, in mccum et sanguinem vertiert seien , und gerade
das ist es , was wir recht stark bei jenen der zeit nach neuesten , dem
geiste nach aber veraltet geborenen monographieen über zwei so wichtige
und interessante untenHundarten der grossen südostdeutschen vermissen.
Um so freudiger begrüssen wir eine andere der neuesten hier ein-
schlagenden monographischen arbeiten , Schröers schon gelegentlich be-
rührte Studien über Gottschee und den Gottscheewer dialect: keine
abschliessende arbeit , wie schon der titel sattsam bezeugt , aber ausserge-
wöhnlich anziehend und inhaltreich, d. h., um uns selbst zu corrigieren, bei
einem anderen autor aussergewöhnlich, aber nicht bei dem hochverdien-
ten und far dieses feld der geistvollen, allseitigen und lebendigen erfor-
schung der Volkssprache, oder des volkstümlich -culturgeschichtlichen
elementes in linguistischer fassung y gleichsam geborenen Verfassers. Seine
Verdienste um die deutsche mundartliche forschung in jener weitesten
ausdehnung, wo ihre notwendige Zugehörigkeit zu der cultur und gei-
stesgeschichte des deutschen volkes auch von dem forscher selbst lebhaft
182 RÜCKEBT
empfunden und betätigt wird, sind aus seinen arbeiten über die deut-
schen mundarten in Ungarn, namentlich über die in und an den Ear-
pathen, allgemein gewürdigt Ebenso vom wissenschaftlichen wie vom
nationalen Standpunkte aus verdienen sie als mustergiltig für alle ähn-
lichen unternehmen hingestellt zu werden, und zu solchen sollte es
wahrlich an ort und stelle, in dem weiten bereiche von Deutsch - Öster-
reich, an frischen und selbstlosen kräften nicht fehlen dürfen. Wenn es
doch daran fehlt, so ist dies gerade kein ehrendes zeugnis für die Inten-
sität des deutschen bewustseins daselbst, die man doch gelegentlich mit
so grosser emphase geltend macht. Für die Wissenschaft wäre hier min-
destens ebenso gut wie in der eigentlichen geschichtsforschung der wahre
ort, wo es sich offenbaren könte. Da die Wiener academie, was hier,
wenn es auch als allgemein bekant vorausgesetzt werden kann , doch mit
besonderer anerkennung ausdrücklich erwähnt sein soll, jeder derartigen
forschung — natürlich unter der bedingung, dass sie den durchschnitt-
lichen wissenschaftlichen anforderungen genügt — - bereitwillig gelegen-
heit und mittel zu bieten pflegt, um sorglos und sogar in würdigem
kleide in die weit hinauszutreten, so ist damit ein hindemis gehoben,
das anderwärts viel lähmender wirkt , als der unbeteiligte , . oder der nicht
selbst fatale erfahrungen in dieser art gemacht hat, vermutet.
Wenn wir bei dem uns hier verstatteten räume nur in aller kürze den
wesentlichen kern der abhandlung Schröers zu bezeichnen versuchen, so wird
dieser selbst, nach dem schon oben erwähnten, nicht bloss ein sprach-
licher im engsten wortsinniB sein. Das ethnographisch -culturgeschicht-
liche moment als innere begründung von jenem gehört eben doch auch
dahin , wo es sich um erkentnis einer deutschen mundart handelt Darum
erwähnen wir, dass der Verfasser neben anderen interessanten geschicht-
lichen erörterungen über die deutsche colonisation im Südosten auch
zuerst ein, wie uns scheint, helles licht in die dunkeln anfange der
deutschen Sprachinsel Gottschee gebracht hat. Weder reste der Van-
dalen oder Goten, oder die wol kaum als Deutsche zu rechnenden
Goduscani sind hier zu suchen, sondern einfach deutsche colonisten des
mittelalters aus der nächsten deutschen nachbarschaft, „die sich in dem
teile von Krain , der wegen unwegsamkeit , noch lange nachdem das übrige
land urbar gemacht war, eine unbetretene wildnis blieb, niederliessen.
Während man im übrigen Krain überall römische und barbarische alter-
tümer findet, ist in Gottschee noch nichts aufgefunden worden, das
andeutete , dass vor dem vierzehnten Jahrhunderte ein menschliches wesen
dieses gebiet betreten. Deutsche musten kommen um hier einzudringen
in die wildnis; Slovenen hätten es nie unternommen, ganz wie im unga-
rischen bergland, wo zur selben zeit als in Gottschee, in gebirgigen,
ÜBEB DEUTSCHE MUNOABTL. LITTEKATUR 183
steinigen Waldungen, die die umwohnenden Slovaken nicht zu benutzen
wüsten, von den deutschen bergstädten aus jene deutschen niederlas-
sungen geschehen sind , die man die Häudorfer nent." Der Ursprung von
Gottschee verliert damit seinen ganzen romantischen nimbus, aber die
ehrbare tatkraft der deutschen culturpioniere des mittelalters ist für
unser nationales bewustsein unendlich mehr wert als jener. Ob nun
aber die älteste urkundliche erwähnung Gottschees, in einem hier zum
ersten male vollständig veröffentlichten unschätzbaren Privilegium des
Patriarchen Ludwig von Aquileja vom jähre 1363 in die allerälteste ansied-
lungsperiode zurückreicht, mag immer bezweifelt werden. Es handelt
sich darin um die errichtung geordneter pfarrsprengel an der stelle der
notdürftigen kirchlichen hilfsmittel Qiner gegend in der y^midtae hominum
haUtationes fadae sint,'' doch wahrscheinlich schon seit längerer zeit.
Wenigstens pflegte bei derartigen mehr zufällig entstandenen ansiedelun-
gen — eine eigentliche loc(dio, wie in andern deutschen colonieen wird hier
nicht erwähnt — ein geordnetes pfarrsystem mit seinen relativ grossen
anforderungen an den gemeindeseckel immer das letzte zu sein, wozu
man gelangte, nachdem erst alle anderen Verhältnisse sich consolidiert
hatten.
Auch heute trägt Gottschee noch denselben Charakter , wie damals ;
es ist eine culturinsel in der mitte eines noch immer im wesen dem
barbarentum zugehörigen Volkes , das jetzt durch fremde agitatoren, ein-
heimische schwindelköpfe und declamatoren aufgehetzt, unter der mit-
schuld einer gegen das Deutschtum stets feindseligen, wenn auch gele-
gentlich sich deutsch nennenden regierung die wenigen deutschen cul-
tureindrücke , die es in den vorigen Jahrhunderten empfangen hat, syste-
matisch zu vernichten bestrebt ist. Das könten wir der edeln nation
der Slovenen samt ihren andern eben so edeln Schwesternationen selbst
unter sich abzumachen überlassen^ wenn nicht die Integrität . des deut-
schen Gottschee durch die arrogante und aggressive haltung der Partei-
führer oder treiber sehr gefährdet wäre. Und auch in diesem sinne hat
sichSchröer ein hohes verdienst erworben, indem er die äugen der deut-
schen gebildeten weit auf diesen punkt hingelenkt hat, wo die nationale
ehre, man darf wol sagen, verp&ndet ist.
Der eigentlich sprachliche bestand der schrift bringt zunächst einen
kurzen überblick über die wichtigsten granunatischen eigentümlichkeiten
der mundart, wodurch, wie schon genügend bemerkt, ihr bairisch- öster-
reichischer typus ausser allen zweifei gestellt wird. Nur zeichnet sie
sich namentlich vor den westlichen und nördlichen idiomen desselben
bereichs, also namentlich vor dem eigentlich bairischen und tirolischen oder
auch vor dem niederösterreichischen und steirischen dialecte durch eine
184 RÜCKBRT
viel grössere geschliffenheit und Weichheit aus, wie das ihre schon oben
citierte allgemeine Charakteristik scharf ausspricht . Dass hiebei nicht slo-
venische einflüsse massgebend gewesen sind, wie Weinhold annimt, darin
wird man Schröer vollkommen beistinmien, denn gerade die charakteri-
stischen lautverhältnisse des Slovenischen finden sich nicht im Gottschee-
wischen und umgekehrt, aber ob ein zusatz von fränkischem und aleman-
nischem blute zu dem bairischen es getan hat, wie Schröer will, ist
doch zweifelhaft, so lange kein urkundlicher beweis hinzutritt. Ein aus
Memmingen stammender pleban in Gottschee^ anfang des fünfzehn-
ten Jahrhunderts , dürfte nicht als solcher angeführt werden. Uns scheint
eine gewisse nächste innere berührung mit dem relativ auch so viel wei-
cheren und geschmeidigeren Kärntnei^dialecte, trotzdem dass dieser ent-
schieden bairisch - österreichisch ist und bleibt, festzustehen, wie ja dort
auch die nächste deutsche nachbarschaft war und ist. Den hauptteil des
heftes füllt ein Wörterbuch , freilich einstweilen nur noch ein bruchstück,
dessen fortsetzung hoffentlich uns bald zugehen wird. Ausser dem bloss
sprachlichen enthält es eine menge von realien , darunter auch unschätz-
bare proben von volksballaden. Dass sich dabei auch eine, jedenfalls
auf alter grundlage beruhende fassung des bekantlich noch nicht wider
aufgespürten Volksliedes gefunden hat, welches Bürger seiner Lenore zu
gründe legte , ist schon anderwärts gebührend betont worden. Dazu gehö-
ren auch die drei bailaden von der schönen Meererin, die Schröer German.
14,333 mitgeteilt hat. Dass sie auf die Gudrunsage zurückgehen^ kann
nur der läugnen, der aus eigensinn, oder, hört man es lieber, aus conse-
quenz seines litterarischen Schematismus, die möglichkeit einer einstigen all-
gemeinen Verbreitung der Gudrunsage — ob des älteren zu gründe liegenden
mythus ist etwas anderes — durch ganz Deutschland läugnen zu niüssen
glaubt. Dass wir hier diese weite perspective, die sich damit in die deut-
sche litteratur und poesie eröffnet, nicht verfolgen, wird uns hoffentlich
niemand verübeln. Nur noch die bemerkung: denkt man sich die deut-
sche ansiedelung in Gottscbee, die nach Schröers ermittelungen doch
mindestens hundert jähre jünger ist als die Gudrun in der uns bekanten
gestalt, von norden, von Kärnten her, geschehen, so ist auch die sage,
der Stoff dieser balladen , von dort her eingewandert. Die beziehung auf
die wahrscheinlich örtliche heimat unseres Gudrungedichtes liegt auf der
band , obwol bis jetzt sich weder in Kärnten noch in Steiermark eine
darauf hinweisende spur aufgeftmden hat. Aber eine ethnographische
insel bewahrt auch viel eher ihren, uralten besitz als ein von der völker-
heerstrasse dm*chzogener continent.
Von dem südöstlichen Sprachgebiete ist der Übergang zu dem mit-
teldeutschen äusserlich und innerlich an mehr als einer stelle ein sehr
ÜBEB DBUTSCHB MUITDABTL. LITTERATÜR 185
allmählicher, kaum merklicher. So ist er es heute und so war er es
schon in der ältesten zeit. Es wäre uns sehr erwünscht, hätten wir
diesmal schon eine zusanmienfassende grammatische darstellung dieses
Mitteldeutschen vor uns liegen, wie sie die besprochene bairische und
die als bekant vorausgesetzte alemannische grammatik für die betref-
fenden gebiete gibt. Weinholds in nächste aussieht gestellte fränkische
granunatik wird diese aufgäbe in der hauptsache lösen. Denn es ist
uns, auch ohne dass wir in ihren entwurf gesehen haben, unzweifelhaft;,
dass sie die auf der band liegende, aber seltsamerweise, wol weil sie als
selbstverständlich vorausgesetzt wird , nicht scharf formulierte sprach-
geschichtliche tatsache an die spitze ihrer einzelerörterungen stellen wird,
dass die begriffe von Mitteldeutsch und Fränkisch in wissenschaftlichem
sinne beinahe sich decken. Und deshalb scheint uns hier die ethno-
graphische bezeichnung, nach dem Frankennamen , auch linguistisch besser
gerechtfertigt, wie die Alemannisch für den südwestlichen oder selbst
Bairisch für den südöstlichen dialect, obgleich für diese geltend gemacht
werden kann, dass wirklich die masse der ihr überhaupt angehö-
rigen ursprünglich aus bairischem blute im eigentlichen wortsinn her-
vorgegangen ist und dann teilweise als vorgeschobene colonisten sich
später auch zu einer relativen sprachlichen eigenart weiter gebildet hat,
was doch kein nüchterner geschichts- und Sprachforscher von den Juthun-
gen-Sveben im Verhältnis zu den Alemannen behaupten wird. Frän-
kisch aber wird das „Mitteldeutsche" heute noch ebenso richtig heissen
dürfen, wie es Otfirid so nannte, der zwar von der äussersten südwest-
ecke her stamte, bei dem unläugbar auch — gerade wie es an demsel-
ben orte heute noch zu hören ist — ein gewisser anklang an den nach-
bardialect, den alemannischen, nicht zu verkennen ist, der aber trotzdem
in allen hauptsachen ein ächter Franke bleibt. Denn warum sollte
man linguistisch den fränkischen namen etwa bloss auf die heute oder
seit einigen hundert jähren so genannte äusserste südostecke des ganzen
beschränken , da ja doch noch heute in dem ganzen gebiete , das einst
als land oder volk der Franken im prägnanten sinne bezeichnet wurde,
die gemeinschaft; in der spräche , die Zugehörigkeit zu einem sprachlichen
grundstocke sich nicht verkennen lässt? Das einzige, was man gegrün-
det dagegen einwenden könnte , wäre der gewaltige umfang dieses Sprach-
gebietes, der es fast unmöglich machte, es in der gewöhnlichen weise
übersichtlich als einheit darzustellen. Aber wenn es zwar noch nicht
versucht, jedoch die forderung schon öfter aufgestellt worden ist, dass
endlich jemand das gesamte Mitteldeutsch einheitlich bebandele, also
eine mitteldeutsche grammatik usw. mache, so muss das auch für das
damit identische Fränkische angehen. Freilich ist es eine gewaltige auf-
186 BÜCKBRT
gäbe , eine sprachmasBe darzustellen , deren äusserste örtliche ausläufer im
Westen bis beinahe vor die tore von Calais, deren äusserste östliche bis
an den Rotenturmpass an der türkischen grenze reichen, und insofern
würde sich vielleicht vorläufig eine teilung der arbeit noch empfehlen.
Doch wenn jemand so kühn ist vor dem ganzen nicht zurückzuschrecken,
desto besser!
Weinhold hat nun zwar in dem allgemeinen prospect , den er seiner
alemannischen grammatik vorausschickt , neben einer alemannischen , bai-
rischen, fränkischen auch eine thüringische grammatik, als eine diesen
genannten und den anderen , sächsischen und friesischen, gleichgeordnete
verheissen, ohne zweifei aber wird damit nicht gemeint sein, dass dieser
thüringische dialect begrifflich ein ebenso selbständiges deutsches sprach-
glied vorstellen soll , wie einer der fünf andern. So weit wir seine denk-
mäler rückwärts verfolgen können, und das ist ziemlich weit, da das
älteste die Merseburger Sprüche sind , verhält er sich gerade so wie heute
zu tage. Es ist unmöglich, damals wie heute, seine engste berührung
mit den hessischen mundarten im westen, und dem im beschränktesten
heutigen sinne fränkischen, oder, wenn man das lieber hört, ostfränkischen
im Süden zu verkennen. Eine selbständige neben- oder Unterabteilung der
grossen fränkischen oder allgemein mitteldeutschen gruppe mag er sonach
wol heissen, aber nicht mehr. Wird er grammatisch vollständig behan-
delt, wie ihm dies zu teil werden soll, so ist dadurch die arbeit für
das Fränkische geteilt, wenn auch nicht nach gleichem Verhältnis; denn
es bleiben noch weitaus zahlreichere und wichtigere gebilde, die unter
diese rubrik fallen, von denen mehrere eine viel grössere relative Origi-
nalität oder eigenart als das thüringische zeigen. Woher aber diese
engste Zugehörigkeit des Thüringischen zu dem Fränkischen , diese Unter-
ordnung oder einordnung in sein gesamtgefage stamme, ist uns, wie wol
jedem, der über den gegenständ nachgedacht hat, noch ein rätsei.
Niemals wird ein eigentlich geschichtliches document, das die bezeich-
nung fränkisch im ethnographischen oder „stamhaften** sinne und nicht
in dem publicistischen der frühesten Jahrhunderte des deutschen reiches
braucht , die Thüiinger Franken nennen , so wenig wie Sachsen oder Bai-
ern, und die blosse uralte gi-enznachbarschaft der Chatten und Hermun-
duren reicht doch auch nicht zu, um nur daraus die nächste Sprach-
gemeinschaft zu erklären.
Was sich für eine selbständige heraushebung des Thüringischen
ausser dem rein practischen gründe, der uns sehr einleuchtet, anführen
liesse, wäre etwa noch folgendes. Blicken wir auf die geschichte unse-
rer germanistischen Wissenschaft zurück, so ist der wissenschaftliche
begriff des Mitteldeutschen nicht bloss sehr spät, wie bekant, erst
ÜBBB BEUTSCHE MÜHDABTL. LITTBBATUB 187
gefunden, sondern auch sehr langsam abgeklärt worden. Franz Pfeiffer,
der doch immer als sein eigentlicher vater wird gelten müssen, war
durch die ihm am ersten nahegetretenen Sprachdenkmäler mit entschie-
dener Sicherheit auf Hessen, mit geringerer, durch die Marienlegenden, auf
eine mehr östliche gegend hingewiesen worden. So erschien ihm, ohne
dass er es scharf zu umgrenzen versucht hätte, die Selbständigkeit die**
ser mundarten gegenüber den oberdeutschen und den niederdeutschen
als sicher, und es ist sein verdienst, diese ansieht in immer klarerer
durcharbeitung mittelst einer reihe allgemein bekanter plaidoyers sieg-
reich durchgefochten zu haben. Dass dies Mitteldeutsche wie nach osten
in die weiteste ferne — Jeroschin allein genügte schon dafar, dies zu
beweisen — so auch nach westen bis an und über den Rhein als ein
wesentlich einheitliches sich erstrecke, war ihm ausgemacht, aber das
eigentliche centrum dieses gebietes sah er immer noch da, wo er zuerst
darauf aufmerksam geworden war, in den „binnendeutschen^* land<^
Schäften, vne sie neuerlichst recht hübsch genannt worden sind, in Hessen
und Thüringen. An eine ethnographische begründung seiner linguisti-
schen ergebnisse hat er nicht gedacht, sonst wäre ihm die unverkenn-
bare tatsache, dass der grössere teil auch des Verbreitungsgebietes, was
er — noch viel zu beschränkt — für das Mitteldeutsche abgrenzte, mit
dem fränkischen Stammesbegriffe zusammenfällt, nicht entgangen. Wer
es also vorzieht den spuren zu folgen, die der erste begründer der wis-
senschaftlichen erkentnis des Mitteldeutschen hinterlassen hat, der mag
sich auch der begrenzung, die er selbst seinen schritten gegeben hat,
fugen. Pfeiffers „Mitteldeutsch" bezeichnet eigentlich nur den inneren,
binnondeutschen und nordöstlichen abschnitt des ganzen gebietes, und
innerhalb desselben ist dem Thüringischen insofern ein gewisser vorrang
einzuräumen, als es sich einerseits doch schärfer von dem Hessischen
abscheidet, wie dieses von den mehr nach westen und Süden, nach dem
Khein und Main zu, sich ausbreitenden mundarten, andrerseits in der
nordöstlichen gruppe die einzige ist, welche nicht auf zeitweilig frem-
dem Sprachboden, nicht in einer deutschen colonie, sondern meist auf
von jeher deutsch gebliebenem boden entstanden ist. Ausserdem wissen
wir aus der colonisationsgeschichte des Ostens unseres heutigen Deutsch-
lands, dass ein grosser teil des deutschen blutes, aus dem seine jetzige
bevölkerung erwachsen ist, aus Thüringen stamt, so dass diese land-
schaft in gewissem sinne die ehrenvolle Stellung eines mutterlandes vie-
ler anderen besitzt So könnte eine granmiatik des thüringischen dia-
lectes zugleich die der anderen östlichen und nordöstlichen mitteldeut-
schen mundarten älterer und neuerer zeit umfassen von der Saale an bis
zur Narwa. Denn so weit diese eben beiührten äussersten nordwestlichen
188 BÜCKBBT
Vorposten des deutschen wesens überhaupt eine mundart besitzen —
eine volksmundart im eigentlichen wortsinne ist sie begreiflich nicht —
wird man sie zu dieser gruppe zu zählen haben, und nicht etwa, wie die
anderen längs der Ostseeküsten, zu der niederdeutsch - sächsischen.
Aber es wird nicht wol angehen, die südöstlichen ausläufer des Mittel-
deutschen so zu sagen unterzustecken unter das Thüringische. Wie nach
dem fernen nordosten, so hat sich bekanntlich ein deutscher sprach -
und volksast nach dem fernen Südosten hinaus vorgestreckt. Zwar ist
er nicht mehr so kräftig wie sein nördlicher bruder, an manchen stel-
len sogar beinahe abgestorben, aber der Wissenschaft ist er in seiner
ganzen ausdehnung bis heute noch recht wol erkennbar. Er setzt wol
örtlich am thüringischen kerne an, wie der andere, aber noch fester an
dem äussersten ende des fränkischen sprach- und Volkselementes im
engsten sinne , an Ostfranken , geht von da durch das nördliche Böhmen,
wo er sich mit einem vom bairischen Nordgau herüberreichenden sprach-
zweige mannigfach verschränkt, längs des böhmischen südrandes des gros-
sen Sudetengebirges , dann auf und über diesen hinüber^ verschränkt sich
dort wider mit einem seitenzweige des nordöstlichen astes , und bildet so
die deutschen mundarten von Schlesien , wendet sich dann immer entschie-
dener südöstlich , immer noch in berührung mit den vom Süden her rei-
chenden Verzweigungen des bairisch - österreichischen Stammes, hält sich
dann im grossen und ganzen genau an den zug der Earpathen, von
denen er nur hie und da auch in das südlich darunter liegende stu-
fenland von Ungarn ausgreift, und breitet sich zuletzt in dem sogenann-
ten siebenbürgischen Sachsenland in mehrere zweige aus , die noch heute,
aber leider wol nicht mehr für lange, kräftiger sind, als die teile zwi-
schen ihnen und der mährischen grenze. Dass die Siebenbürger Sach-
sen , gleichviel was auch ihre Urheimat sein mag , in der gegenwart nicht
der bairisch - österreichischen hauptmundart zugehören, ergibt sich aus
ihrer, in Deutschland durch ihre neuere dialectlitteratur sattsam bekan-
ten spräche. Dass sie aber, so weit sich dieselbe urkundlich hinauf ver-
folgen lässt, auch schon „mitteldeutsch" gesprochen haben, beweisen
ihre ältesten Sprachdenkmäler , die man am besten und meist auch zuerst
gesammelt findet in Friedrich Müllers „ Deutschen Sprachdenkmälern
aus Siebenbürgen. Aus schriftlichen Quellen des XII. bis XVI. Jahrhunderts.
Hermannstadt 1864.^' Nur bemerken wir für diejenigen, denen das hoch-
wichtige und verdienstliche buch zufällig unbekant sein sollte , dass man
sich durch die chronologische bezeichnung nicht zu der irrtümlichen Ver-
mutung verführen lassen darf, als gäbe es dort wirkliche deutsche Sprach-
denkmäler, was man gewöhnlich darunter zu verstehen pflegt, noch
aus dem zwölften Jahrhunderte. Bis tief ins vierzehnte sind nur einige
Obbb dbutschb mündabtl. littbbatub 189
deutsche namen erhalten , und erst von da an Urkunden , und später auch
andere deutsche aufzeichnungen. Aber auch jene dürftigen reste reichen
hin um der mundart schon damals ihre richtige stelle anzuweisen. Dass
sich damals wie später durch ihre fortwährende beziehung zu den land-
schaften mit bairisch - österreichischer bevölkerung auch manches von
diesem dialecte eingeführt hat, begreift sich leicht, ändert aber die
Substanz der heimischen spräche nicht. Für die Zwischenglieder bis zur
mährischen grenze haben die schon erwähnten trefflichen monographieen
Schröers volles licht sowol für die sehr trübe gegenwart, wie fQr
die glänzende Vergangenheit gebracht Auch hier, wie überall , wo das
haus Österreich seine dem Deutschtum tödliche herschaft hin verbreitet
hat, ist die deutsche spräche mit der gesamten deutschen cultur in
entschiedenen rückgang gekommen , und zwar genau von dem augenblicke
an, wo die habsburgische herschaft begann, also in dem Ungarischen berg-
lande noch vor dem ende des ersten dritteils des sechszehnten Jahrhunderts.
Für den westlichsten abschnitt dieses sprachzweiges , für die mitteldeut-
schen mundarten Böhmens haben bekantlich Petters^ dieser wesentlich
für den norden und nordosten des landes, und Gradl für den nordwe-
sten tüchtiges geleistet, so dass über ihre Stellung kein zweifei mehr
möglich ist. Dass daneben im westen und Süden von Deutsch - Böhmen
auch der echt bairische stam vom Nordgau und von der mittleren Donau
aus sich verbreitet hat, weiss man.
Unser diesmaliger ausflug auf das mitteldeutsche Sprachgebiet gilt,
wie die titel der zunächst berücksichtigten Schriften zeigen, eigentlich
nur jenem kleineren ausschnitte , den wir oben mit einem neueingeführten
terminus als Binnendeutsch bezeichneten. Hessen und Thüringen
sind in der hier besprochenen litteratur vertreten, die anderen weit-
gedehnten gebiete nicht. Wir beginnen mit Hessen. — Vilmars Idio-
tikon von Kurhessen — man möchte fragen , warum dieses capriciös aus-
ländernde und noch dazu altmodische wort Idiotikon? — ist bekantlich die
arbeit gewesen, die er etwa ein jähr vor seinem tode noch glücklich zu
ende gebracht hat, nachdem er vierzig jähre auf die stoffsamlung dazu
verwant hatte. Nicht bloss nach dem werte De nwrtuis nil nisi bene,
sondern wegen unläugbarer Verdienste hat das buch überall eine überaus
dankbare aufnähme gefunden. Dass sich auch allerlei alberne, kindische
und verbissene motive aus einem ganz anderen bereiche als dem der
linguistik, bei manchen von denen, die am lautesten in die posaune
des lobes stiessen, mit eingemischt haben — wer weiss das nicht, aber
wer hat nicht mitleidig die achseln darüber gezuckt? Dem buche selbst
kann daraus kein makel erwachsen, so wenig wie wir es seinem Verfas-
ser hinterher noch anrechnen woHen, dass er sein Idiotikon von Kur-
190 BÜCKERT
hessen an mehr als einer stelle dazu benutzt hat, um mit seinem bekan-
ten Parteifanatismus bei idioten in beziehung auf Kurhessen und seine
zustände far den edeln, mishandelten kurfarsten und gegen die frechen
räuber und vergewaltiger bald donnernde philippiken, bald sentimentale
jeremiaden, beide in dem bekanten stile der „bundestreuen" von 1866,
loszulassen. Verderblich ist das dem buche nicht geworden: merzt man
jene tiraden aus, so erhält es erst seine wissenschaftliche Integrität, und
an umfang beträgt dieser überschuss nicht gerade viel. Nur insofern
könnte man behaupten, dass der reactionär Vilmar dem germanisten Vil-
mar auch hier — wie anderwärts bekantlich oft und verhängnisvoll
genug — im lichte gestanden, als der letztere dem ersteren zu liebe
dies Idiotikon von Kurhessen nicht nach den grundsätzen der linguistik,
sondern nach dem zuge der ehemaligen kurfürstlichen grenzpfähle abge-
grenzt hat. Was einst Schmeller in seinem bairischen wörterbuche ohne
Vorwurf tun durfte, eine in jeder und besonders in linguistischer hin-
sieht bloss zufällige linie, wie die einer Staatsgrenze als eine linguisti-
sche zu verwenden, das ist dreissig jähre später als ein grober fehler
zu rügen. Es gibt keinen kurhessischen dialect, also auch kein idioti-
kon von Kurhessen. Vilmar selbst wüste das natürlich am allerbesten^
wie er auch in der vorrede die einzelnen dialectischen gruppen ganz
richtig unterscheidet und begrenzt. Nun erhält dadurch sein buch,
möchte es scheinen, einen desto reichlicheren inhalt, also wäre sein Ver-
fasser deshalb eher zu loben als zu tadeln, aber es verschwindet durch
diese nichtachtung der natürlichen begrenzung das eigentlich characteri-
stische der einzelnen mundarten, die hier zusammengepfercht sind, so
sehr, dass man nur durch einen systematischen scheidungsprocess es
mühsam herausdestillieren kann. Denn Vilmar geht so weit, auch die
echt niederdeutschen mundarten im nördlichen „Kurhessen" hereinzu-
zwängen, ebenso wie die mainfränkischen im Hanauischen; auch das
Thüringisch -hennebergische aus öchmalkalden muss sich in diese ihm
aufgezwungene uniform fugen.
Was sonst fUle des materiales , richtige beurteilung und erklärung
desselben — eingeschlossen die strenggelehrte begrändüng — betriflft, so
haben wir hier ein würdiges gegenstück zu Schmeller vor uns. Wie er
geht auch Vilmar mit einer gewissen verliebe den Sachen (volkssitte,
rechtsaltertümer u. dgl.) nach, freilich ohne die innere heiterkeit
und den echt volkstümlichen humor, die dem Bairischen Wörterbuche
seinen unvergleichlichen reiz geben. Vilmar ist begieiflich überall ein
verbitterter Im^dator temporis acti Nachträge und zusätze werden sich
überall noch ergeben , wie denn auch bereits ein solcher von F e d. B e c h
(in einer gelegenheitsschrift , im osterprogramm des gymnasiums zu Zeitz
ÜBBB DEUTSCHS MUNDARTL. LITTEBATÜB 191
1868) uns bekant worden ist. Hier wollen wir uns nur auf einige bei-
läufige bemerkungen beschränken, eine sehr schmale auswahl aus der
grossen zahl derer, welche wir, wie andere benützer des buches, seiner
belehrenden anregung verdanken. Das merkwürdige anddagen (p. 10) hat
in dem hessischen bezirke seine eigentliche heimat, wie Vilmar mit
recht bemerkt, doch lässt es sich ausser in Hessen und Thüringen auch
weiter nach Osten bis nach Schlesien und höchst wahrscheinlich auch
noch anderswo nachweisen. Über seine bedeutung, die übrigens schon
in den Rechtsaltertümern festgestellt und in dem Deutschen wörterbuche
überreich belegt war, herscht kein zweifei. Seine herkunft wagt auch
Vilmar nicht zu ergründen. Er hat dabei den interessanten erklärungs-
versuch Michelsens übersehen, der es in seiner auch sonst sehr
gehaltreichen schritt „Über die festuca notata und die germanische tradi-
tionssymbolik. Jena 1866*' mit dem mittellateinischen wantus, romani-
siert geschrieben guantus, d. h. dem urdeutschen wantus, was sigh aus
altnordisch vöUr mit Sicherheit erschliessen lässt, zusammenbringt. Dass
der guantus f handschuh, ein haupttraditionssyiübol war, und dass, wo von
wandilanc, anddanc die rede ist, ursprünglich dies Symbol beteiligt
war, ist unbestritten. Nur der zweite teil des compositums macht
Schwierigkeit. Aber die nebeneinandergehenden formen lagen und lan-
gen zeigen, dass die herkunft dem Sprachgefühle verdunkelt war. Um
so wahrscheinlicher ist, dass wir es hier mit einem fremdworte zu
tun haben, wie Michelsen vermutet, dem alt- und neufranzösischen
lange, binde. Sonderbar bleibt immer der abfall des anlautenden w im
ersten teil, das doch den romanischen sprachen als gu oder g, wie im
alt- und neufranzösischen geblieben ist. Sonst sind bekantlich derart
geformte urdeutsche, aber aus dem romanischen wider zurückgetragene
Wörter ihrem romanischen g treu geblieben, wie garde, gamison usw.
beweisen. Für das vermisste w oder g stellt sich gelegentlich ein h
ein, was oflFenbar der lebendigen umdeutschung seinen Ursprung ver-
dankt, die es zu hant (manus) brachte, wie der zweite teil lagen neben
langen entweder an läge v. ligen oder langen angeschlossen worden sehi
wird. Dass Erasmus Alberus, aus der Wetterau gebürtig, ein Substan-
tiv andder (s. Deutsches wörterb. 1, 301) und ein verbum andeln
gebraucht, beweist nichts gegen die richtigkeit der deutung Michelsens,
sondern nur dass die herkunft des wertes zu seiner zeit vergessen war.
S. 19 ist das schmalkaldische , also eigentlich nicht in den hessischen wert-
schätz gehörige adv. au fung, fungst, fonk als unerklärbar nach seinem
Ursprung angeführt. Und doch liegt er auf der band, wenn man nur
beachtet, dass diese mundart, wie so viele thüringische und fränkische,
ng häufig für nd setzt, fung also = fund, fungst = fundst gilt, fund,
192 RÜCKSBT
oder anschaulicher fundst ist das hochdeutsche vollmds. Auch andere
mitteldeutsche dialecte verwenden ihr funds, fonds ganz so wie der
schmalkaldische sein fängst Hier zu lande kann man es jeden augen-
blick hören. Au ist natürlich auch, wie in ausenier, ausegrad, die Vil-
mar auf derselben seite, gleichfalls ohne erklärüng, anführt, auch so
nußix ebenso lieb, also ganz so wie das oft besprochene ostfränkische
ebensomähr, woraus endlich ein ebensgeschniä oder dergl. werden
konte: ausegrad, eine entschieden jüngere bildung, die sich von selbst
erklärt; jünger deshalb, weil die bedeutung des gerad, das das dunkel
gewordene mcere ersetzen sollte, sich in dieser art erst seit dem 17. Jahr-
hunderte entwickelt haben wird. — Dass bal in dem niederhessischen
Ortsnamen Balhorn auf das bekante gotische usw. balva- zurückgeht , ist
sicher, aber ob dies ursprünglich die bedeutung von totenbrandstätte
gehabt hat, mehr als zweifelhaft. Vilmar dachte dabei vielleicht an
das altnordische bäl, ags. bael, rogus, das, abgesehen von dem a,
bisher auf Continental deutschem boden nicht aufgetaucht ist — Das
niederhessische de oder enclitisch de, im gebrauche gleich dem hoch-
deutschen ihr, wird als plural des pronomens zweiter person erklärt,
während es J. Grimm , wie Vilmar selbst anführt , richtiger für den dual
erklärt hatte. Denn das altnordische per neben er — (e wird wol in bei-
den formen ursprünglich lang sein und sich nur gerade so wie im neu-
hochdeutschen althochdeutsches wir und ir almählich gekürzt haben) —
beweist doch für das hessische nichts, das jedenfalls hier kein r far ein
ursprüngliches s im auslaute gehabt haben wird, weil das specifisch
nordisch ist Ein s aber wirft der dialect nicht ab , wol aber ein r gele-
gentlich. Dass eine wirkliche pluralbedeutung darin ist, bezweifelt nie-
mand, so wenig wie in dem bairisch- österreichischen ess, öss, dess, döss,
oder in den genetiven , dativen , accusativen enker, enk, die deshalb doch
stets historisch für dualformcn angesehen worden sind. Das vulgäre
durch ganz Deutschland verbreitete wort extern — es lebt nicht etwa bloss
in Hessen, Wester wald, und im Hennebergischen , wie man durch p. 96 zu
glauben verleitet werden könnte — hat das Deutsche Wörterbuch an
zwei stellen besprochen und das einemal mit extra, also gleichsam extra
ärgern, in Verbindung gebracht Doch wird man, wie es auch schon
von anderen geschehen ist, eine anlehnung an das thema gotisch agis,
zunächst an das althochdeutsche egisöt, wahrscheinlicherfinden, weil aus
e^tra, nach der analogie aller ähnlichen bildungen, wol kein extern, son-
dern ein extrieren oder exterieren hätte werden müssen. Aber noch näher in
der bedeutung liegt das wurzelhaft mit dem anderen identische, im begriffe
aber selbständig entwickelte althochdeutsche agi, egi, eifer, mühsames
tun. Dass unser wort so spät auftaucht, beweist nichts gegen sein und-
ÜBBB DBÜT8CHE IfUNDABTL. LlTTEBATUB 193
tes leben. Im einzelnen wäre es dann eine auch sonst sehr interessante
bildung mit demselben motive -str, althochdeutsch -star, was wir in
/as^ar usw. kennen. Nach der analogie von got. ga-navistron wäre also
ein agistron anzusetzen. Bei eoctern wird man durch den gegen-
satz an das schwierige feiig s. 100 erinnert, schwierig nicht seiner
bedeutung nach, über die kein zweifei bestehen kann, aber woher stamt
es? Am verbreitetsten ist es bekantlich im angelsächsischen, aber
auch friesisch und niederdeutsch, wie es scheint durch alle sprachperio-
den; mit dem hochdeutschen feil hat es nichts zu tun, obgleich das angel-
sächsische f(de einem feili entsprechen könte. Greins Vermutungen
(Ags. Sprachschatz 1, 276), wo aber die zwei sicher im angelsächsischen
vorhandenen gleichlautenden nur durch die quantität verschiedenen Wör-
ter zusammengeworfen werden, die einmal nach diesem feili oder alt-
nordisch falr^ und dann wider nach dem heutigen englischen fdlow hin-
gehen, werden niemand befriedigen. Das mittel - und neuenglische /ieJat?,
fdlow ist doch nichts weiter als das direct aus dem altnordischen ein-
geführte felag, ßlagi, socius. — Schon früher ist von uns darauf hin-
gewiesen worden, dass das wort sich in oberdeutschen Sprachdenkmälern
sehr selten, aber denn doch gelegentlich findet. Ja dort ist auch das
primitiv davon anzutreffen. Nicl. v. Wyle Transl. p. 54, 23; 363, 26
braucht fdle des gdikkes für gunst des geschickes. Entschieden ober-
deutsche beispiele liefert übrigens schon Ziemann aus Oberlin und andern.
Vilmar hat auf jede etymologie verzichtet, hätte aber doch auf Deut-
sches Wörterbuch 3, 1430 verweisen können, wo unter feUig sich viel
zusanimengetragen findet.
Hessen und Thüringen zugleich, das „mittelbinnendeutsche"
gebiet — wäre nicht Binnendeutsch schon bezeichnend genug? — berücksich-
tigt die Inauguraldissertation von Ernst Wülcker aus Frankfurt a. M.,
der somit seiner herkunft nach gleichfalls dem mitteldeutschen idiom
angehört, wenn wir seinen begriff, me es oben geschehen ist, systema-
tisch fixieren und im wesentlichen mit dem des fränkischen stamelemen-
tes nach seiner geschichtlichen fassung zusammenbringen. Der eigent-
liche kern der 64 selten starken abhandlung ist durch den titel genügend
bezeichnet: vocalschwächung, d. h. das herabsinken der reinen a-
1- und w- laute, die ersetzung gewisser diphthonge durch einfache län-
gen, insbesondere des m, ia, io, ie; tm, tio, tie durch i resp. ü, und
verwante ersch einungen. Zum teil fällt der begriff der vocalschwächung,
vrie er hier gefasst ist, mit dem des beilautes zusammen, wie ihn einst
Weinhold zunächst fiör den alemannischen vocalismus durchzuführen ver-
sucht hat. Man weiss, dass er auf grossen Widerspruch gestossen ist
ZBITSOHB. F. DBUT8CHB PHILOL. BD. III. 13
Id4 BÜCKBBT
und den von ihm aufgestellten neuen terminus selbst wider aufgegeben
hat; aber die sache bleibt deshalb doch richtig. Seine Zusammenstel-
lung beweist, dass selbst in jenem oberdeutschen dialecte, dem man nicht
ohne Ursache das stärkste gefahl für die reinen vocalischen klänge zu-
schreibt, seit uralten zeiten eine menge von alterationen desselben sich
eingeschlichen haben. Der „beilaut" berücksichtigte vornämlich nur das
verhalten des a und sein „ unmotiviertes ," d. h. weder als brechung noch
als Umlaut in Giimms sinne zu erklärendes abweichen nach dem e und
0, aber was für das a gilt, könnte auch für die andern beiden reinen
kürzen, überhaupt für alle reineren und volleren vocalischen klänge —
ganz abgesehen von ihrer geschichtlichen Würdigung nur von der empi-
risch-phonetischen Seite her betrachtet — geltend gemacht werden. Dass
das mitteldeutsche in solchen vocalveränderungen ziemlich weit von der
richtschnur der lautgeschichte und der früheren und zum teil auch der
jetzigen Schriftsprache abweicht, ist bekant: es nähert sich darin, wie
in so vielen anderen eigentümlichkeiten mehr dem niederdeutschen,
obwol, wie schon die fälle des sogenannten beilautes bezeugen, auch die
streng oberdeutschen mundarten nebenbei gleicjies hervorgebracht haben.
Was die letzte erklärung dieser vocalschwächungen anbetrifft, so wird man
im allgemeinen die ansieht des Verfassers wol gelten lassen dürfen. Er
sieht darin ein zeugnis für die neigung der spräche, es sich bequem zu
machen, im gegensatze zu der grösseren anstrengung, welche das ober-
deutsche oder die Schriftsprache den sprachwerkzeugen zumutet. Genauer
bestirnt könnte man es so ausdrücken: die Oberdeutschen sprechen mit
weitergeöffnetem munde, und demgemäss auch sind alle die verschiede-
nen Organe , welche bei der bildung der einzelnen laute tätig sind , ener-
gischer in action, respective energischer entwickelt, als bei den Nieder-
deutschen. Die Mitteldeutschen halten, wie der name besagt, im gan-
zen die mitte zwischen beiden.
Im einzelnen beschränkt sich der Verfasser bei seinen lautbetrach-
tungen auf die hervorragenderen mitteldeutschen Sprachdenkmäler, die
im laufe der letzten Jahrzehnte gleichsam erst neu wider entdeckt wer-
den musten. Sein material kann und soll kein vollständiges sein , obwol
es an einigen stellen auch schon durch die benützung sehr zugänglicher
vorarbeiten sich hätte etwas abrunden lassen. So z. b., um die Schwä-
chung des a in e zu belegen, bedurfte es, wenn der Verfasser streng
innerhalb seiner geographischen grenzen bleiben wollte, etwa nur eines
hinweises auf Pfeiffers excurs zu Hermann von Fritzlar p. 570. Für die in
Thüringen massenhaft auftretenden Schwächungen des a zu e würde, ausser
den belegen in den einzelnen Schriftstellern, eine Verweisung auf Bech-
steins Ebemand oder seinen Martin von Beheim wol am platze gewesen
ÜBER DEUTSCHS küttDktBTh. LITTEBATUB 195
sein. Referent hat in dem sprachlichen anhange zu seinem Leben des hei-
ligen Ludwig p. 159 schon früher eine gedrängte Übersicht über die ent-
wickelung und Verbreitung dieses e in den thüringischen Sprachdenkmä-
lern des mittelalters gegeben. Doch zweifeln wir nicht, dass der
Verfasser, wenn er seinem schönen vorsatze treu bleiben und sich in
der weiteren grammatischen erforschung seines heimischen idiomes ver-
tiefen wird, uns noch gründlichere und urafassetidere belehrtmg auch
über diese interessante materie bringen kann. Der umfang der schrift
ist an sich nicht zu eng, aber, \He es bei einer erstlingsarbeit zu gehen
pflegt, die allgemeineren und allgemeinsten linguistischen gesichtspunkte
und Probleme, von denen freilich alles tun und forschen im einzelnen
reguliert wird, üben noch eine so starke präponderanz in deni geiste des
Verfassers, dass er sich immer zuerst ausführlich mit ihnen auseinander-
setzen zu müssen glaubt, wodurch dann zeit und räum för die eigent-
liche aufgäbe beschränkt wird. Hier, wo wir nicht in denselben fehlJör
fallen, sondern uns möglichst strict an unser thema halten wollen, ist
nicht der ort far eine kritik dieser linguistischen theorieen. Wir bemerken
nur, dass sie so ziemlich dem „neuesten" Standpunkt im gegensatz ztt
dem J. Grimms angehören, so in der ansieht über die entstiehung der
längen, der e und ö, übt einzelnen aber von einem guten sinne för sprach-
liche dinge überhaupt erfreuliches und hoflhungtirfreckendes Zeugnis able-
gen. Nur ein einzigem pnnkt möge dabei aufs küi^zeste berührt Werdeh,
er betrifft das eigentlich bis zum überdruss schon bes|)rochene gotische
ai und au vor h und r. Der Verfasser sieht darin örft der mehrzahl der
aUerneuesten linguisten einfache e- Und o- laute, während er dem gotischen
ai und au , wo es nicht vor ä und r, oder wie es Qrimm' bezeichnete , als
di, du steht, seine diphthongische natur nicht streitig machen will. So
oft wir diese ansieht voilragen hören , dünkt es uns höchst verwunderlich,
wie man dabei einen entscheidenden umstand so völlig übersehen kann:
ein systematisch auf einmal aufgestelltes alphabetisches system, wie es
das gotische , gleichviel ob ülfila als sein Urheber gelten soll oder nicht,
doch ohne frage ist — wie verträgt sich das mit einer doppelten laut-
lichen geltung eines und desselben Zeichens? Wer uns diesen wider-
sprach löst, dem wollen wir glauben, dass ai e und di ai geklungen hat,
einstweilen aber bleibt unserer logik nur die doppelte annähme, entwe-
der sind alle ai, au als e und o gesprochen worden, oder alle als diph-
thongen. Uns selbst ist es keinen augenblick zweifelhaft, dass das letz-
tere der fall war, besonders da die diphthongische ausspräche noch nichts
über die quantität bestirnt, die in dem gotischen aiphabet bekantlich
unbezeichnet ist , wie die langen a in fremden namen beweisen , und
nach unseter meinung auch in fahan, hähäfi, fhdho, die unb^stimfeii u
13*
196 BÜCKEET
und höchst wahrscheinlich auch viele i , e und o, von denen wir die ersteren
für die länge, die letzteren beiden für die kürze beanspruchen.^ Dass
aber aü^ und eben deshalb höchst wahrscheinlich auch ai kurz war,
beweist bekantlich die form gabaurjaba.
Über die Werra herüber, die wie einst so auch noch heute Hes-
sen und Thüiingen scheidet, betreten wir das thüringische gebiet und
zwar dicht an diese grenze selbst fahrt uns K Regeis sorgfältige, in
jeder art musterhafte monographie. Die Ruhl und die Ruhler leutchen
sind neuerdings zu einer wolverdienten celebrität in ganz Deutschland
gelangt, und demgemäss mag auch dies streng yrissenschaftlich gehaltene
stattliche buch vielleicht ausserhalb des engsten kreises der fiächgenos-
sen die neu- oder wissbegierde des grösseren gebildeten pubUkums anzie-
hen. Auch ist es so durchsichtig und flüssig geschrieben, dass es sich
zu solcher Verwendung vor den meisten anderen seiner genossen recht wol
eignet. Die Ruhler mundart ist von jeher schon in der naiven volks-
auffassung als etwas ganz individuelles erkant worden, wie die leibliche
und geistige art der leute, die sie sprechen. Daher denn die wunder-
lichen sagenhaft aufgestutzten Vorstellungen, die von ihrer herkunft in
Umlauf sind. Historisch lässt sich nun auch gar nichts ermitteln, was
zu der annähme einer blutmischung mit fremden, oder gar zu der noch
seltsameren einer fremden colonie in Thüringen fahren könte. Nur so
viel steht fest, dass die mundart ganz entschieden zu einem complexe
gehört, der in dem Inselsberge seinen geographischen mittelpunkt hat
In der hauptsache ]ßllt er zusanmien mit den grenzen des altthüringi-
schen Westergaues, der aber, so viel wir glauben, nicht über den Renn-
steig nach norden zu reichte, also die Ruhl selbst nicht mit umfasste;
wider ein beweis, dass die gaugrenzen keineswegs an sich identisch
oder auch nur in beziehung sind zu den ethnographischen grenzen, wie
wir das schon oben ausführten. Daraus erklärt sich die innige berüh-
rung der mundart mit den hennebergischen , also mit wesentlich frän-
kischen, im gegensatz zu dem nichtiränkischen , aber mitteldeutschen
typus des thüiingischen. Gebrochene vocale und diphthonge, von denen
sie wimmelt, tun dies unwiderleglich dar. Einiges ist dann noch auf die
einflüsse des bodens und der läge zu rechnen: eine mundart im hoch-
gebirge und engen waldtälern gestaltet sich anders als in einem brei-
ten wiesentale und auf flachen hügelzügen. Unmöglich wäre es aber
1) Gegenwärtige abhandlung hatte die redaction bereits zngesant erhalten noch
bevor Ad. Holtzmanns altdeutsche grammatik erschien , in welcher ahnliche auslohten
über die doppelte quautitat des gotischen a ausgesprochen sind. Red.
ÜBBB DEUTSCHS MUNDABTL. LITTBRATUB 197
freilich doch nicht, dass sich auch wirklich fremde elemente beigemischt
hätten. Der Verfasser sucht zu begründen, dass eine starke einwände-
rung von Böhmen her stattgefunden, und dass auf diese art in die laut-
gebung und auch in das Wörterbuch einiges slavische sich eingedrängt
habe. Doch liesse sich das auch anders ansehen; die für slavisch gehal-
tenen lauteigentömlichkeiten können durch jene localeinflüsse erklärt wer-
den, und einzelnes aus den verschiedensten slavischen idiomen ist auf
eine meist nicht mehr nachweisbare art in sehr viele deutsche mundarten
gekommen, ohne dass man dabei an slavische einwanderung denken dürfte.
Zu der entgegengesetzten ostgrenze Thüringens fuhrt uns Sech-
st eins Matthias von Beheim. Es ist wol nicht mehr nötig daran zu erin-
nern, dass der name Matthias von Beheim nur den besitzer oder veranlasser
dieser evangelienübersetzung, nicht den Verfasser bezeichnet, der einst-
weilen noch unbekant ist Aber es liegt nahe in ihm einen landsmann
des Matthias zu sehen, auch widerspricht einer solchen annähme nichts
in der spräche oder in dem sonstigen inhalte des werkes. Wie hoch-
wichtig es für die innere deutsche culturgeschichte ist, dies ist hier
nicht der ort auszufahren, auch haben schon theologen und Sprachfor-
scher darauf hingewiesen. Nur eines sei erlaubt anzudeuten: das werk
gehört entschieden jener reformatorisch -asketischen richtung an, die bis
jetzt noch unter den wenig treffenden namen der deutschen mystik unter-
gesteckt zu werden pflegt. Es ist aus demselben geiste geboren, der in
den populären tractaten der Gottesfreunde und verwanter männer des
Südens so allgemein bekant und anerkant ist Aber dass dieselbe bewe-
gung der geister sich auch von dem Süden und westen Deutschlands
bis an die äussersten grenzen gegen den osten fortgesetzt hat, ist bis
jetzt weniger beachtet, und jedes Zeugnis dafür ist besonders wertvoll.
Übrigens lässt sich dartun, dass dieselbe bewegung noch viel weiter bis
an die damalige grenze deutscher zunge fortgeschritten war und z. b.
in der Lausitz und in Schlesien eine ganz respectable litterarische tätig-
keit erzeugte. Keiner dieser geistlichen tractate, so weit wir sie ken-
nen , lässt sich freilich mit den hervorragenden leistungen der Basler und
Strassburger , oder auch der Mittel- und Niederrheinländer vergleichen,
aber sie sind in ihrer art doch immerhin gut genug, sowol was die form
als was den inhalt betrifft. Schon vor einer reihe von jähren dachten
wir daran einige der interessantesten zu publicieren, da sich dafür keine
passende gelegenheit finden wollte, so sind sie bis jetzt nur als quellen-
material für die geschichte der mundart jener gegenden benutzt worden.
Dass sich das mUtelste dutsch dieser Übertragung nicht sehr indi-
viduel von anderen gemein -mitteldeutschen werken der zeit heraushebt,
lässt sich von vornherein begreifen und kann von jedem leicht mit
198 BÜCX91JIT
einem blicke ersehen wefden, wenn er die grammatische Zusammenstel-
lung , die der herausgeber in der einleitung gegeben , zu rate zieht. Alle
solche werke, die doch immer für ihre zeit gebildete, ja gelehrte Ver-
fasser und einßn relativ gebildeten leserkreis voraussetzen, schreiben
ein ziemlich gleichförmiges deutsch, das im wesentlichen noch an die
gebildete Schriftsprache des drei^hnten Jahrhunderts oder an das eigent*
Uphe Mittelhochdeutsch^ nur mit abstreifung seiner feineren vocalbezeich*
iiUBg , mit nichtachtung seiner feinen gehörunterschiede far die härte und
weiche der consouanten u. dergl. sich anlehnt. Im bewustsein der
Schreiber solcher und ähnlicher werke bezeichnet daher das mittelste
dutsch nichts weiter als die allenthalben giltige gebildete Schriftsprache
in der besonderen fassung, wie sie in dem innem Deutschland gewöhnlich
war. Ebenso gut hatten auch die schlöffen des niedersächsischen Mag-
deburg ihre möglichst rein allgemein deutsch geschriebenen Weistümer,
die sie nach Mitteldeutschland hin verteilten, als mittelstes dtUsch bezeich-
nen können^ ohne etwas anderes damit besagen zu wollen, als dass sie
oder ihr stadtsc}ireiber sich so gebildet als ihm möglich war ausdrückte.
Die existenz einer ihnen selbst bewust^n freien mitteldeutschen Schrift-
sprache darauf zu gründen, wozu Franz Pfeiffer nicht übel lust hatte
un|l andere mit ihm aus Verehrung für ihn, ist einfach geschichts- und
sacl^i widrig. Es gibt in den damaligen grenzen des deutschen Volkes
neben der gemeindeutschen Schriftsprache nur noch eine mittelniederlän-
dische in zahlreichen denkmälem vertretene und eine mittelniederdeut-
sche. Die gemeindeutsche Schriftsprache förbt sich mit dem hervor-
brechen des realistisch -volkstümlichen dementes mehr und mehr im laufe
des 14. und in der ersten hälfte des 15. Jahrhunderts örtlich, nach den
localmundarten , doch ohne sich dessen bewust zu werden und etwa eine
separatösterreichische oder separatschwäbische spräche begründen zu wol-
len. Nur die immer schärfer einschneidende Sonderstellung der eidge-
nossen bringt es mit sich, dass im 15. Jahrhundert wii'klich eine art
schweizerdeutscher litteratursprache mit vollem bewustsein ihrer selbst
sich auftun , aber , wie bekant , nicht lange blühen konte. Dass die ver-
schiedenen Schriftwerke nach der zeit, nach der grösseren oder gerin-
geren bildung der einzelnen orte — die gebildetsten sind damals die süd-
und mitteldeutschen reichsstädte — und nach der Stellung der Verfassung
in sehr verschiedenen mischungsverhältnissen von dem localdialecte inficiert
sein können, versteht sich von selbst; die rohesten sind die privaturkun-
den der ritterschaft, und etwas minder roh die der dörfer und kleineren
Städte. Aber auch diese haben nie die absieht , ihren localdialect wider-
zugeben, so wenig wie heute ein unwissender dorfschulze sie hat, wenn
er ein lächerliches deutsch zusammenstoppelt.
ÜBEB DBUTSCHI MUNDABTL. LITTBBATDR 199
Diese betrachtung f&hrt uns ganz naturgemäss hinüber zu der zu-
letzt aufgezählten studie von E. Opitz über Luthers spräche. Denn
das „gemeine deutsch/^ das „deutsch der kaiserlichen und kurfürstlichen
kanzleien/^ dessen er sich immer erfolgreicher zu bemächtigen strebte,
bis er es als wirklicher herscher nach seinem eigenen genius handhabte
und weiterbildete, ist doch eigentlich jenes mittelste deutsch, und die
dialectischen oder localen eigentümlichkeiten , die er hinzugetragen hat,
teilweise um sie später selbst wider aufzugeben, teilweise um sie der
Orthographie und ausspräche des neuhochdeutschen dauernd einzuverlei-
ben, sind auch nur mitteldeutsche, dasselbe wie jenes andere element,
nur einen oder mehrere töne volksmässiger und insofern roher gefärbt.
Opitzs anspruchsloses schriftchen ist in dieser hinsieht durch gegenüber-
stellung von lutherischem deutsch aus seinen verschiedenen perioden
recht lehrreich. Ohne grosse mühe, auf einen blick, sieht man, wie die-
ser autor auch um die äussere form seiner schrifben sich fortwährend
mit Überlegung gemüht hat. Die Verbesserungen waren nicht bloss ver-
meintliche, nach subjectiven gesichtspunkten giltige, sondern wirkliche,
insofern sie immer mehr jenes allgemein deutsche moment des „gemeinen
deutsch ^^ zur geltung zu bringen suchten , was zuletzt auf mittelhochdeut-
scher historischer basis ruht und sich damals noch am meisten lebendig in
dem südlichen abschnitt des mitteldeutschen, also in den rhein- und
mainfränkischen mundarten vertreten fand. Denn Schwaben und Baiern,
obgleich dem gemeindeutsch soviel näher als die eigentlichen Nieder-
deutschen, versuchten doch, me bekant, sich noch auf lange hinaus von
diesem wahren neuhochdeutsch frei zu halten, zum teil wol, aber doch
nicht ausschliesslich, weil es zur ofBciellen spräche der ketzerei ausgear-
tet war. — Ausserdem wäre dem lehrreichen schriftchen vielleicht nur
zu wünschen, dass seine grammatische oder sprachgeschichtliche grund-
lage , so weit es auf eine solche sich stützt , etwas sicherer wäre. Sein
Verfasser ist zu sehr von autoritäten abhängig und zu wenig mit selb-
ständiger forschung gerüstet. So z. b. wenn er (s. 9) sagt: „das feh-
len des Umlautes, der sich bekantlich im mitteldeutschen nur auf das a
erstreckt ,^^ so würde ihm eindringendere beschäftigung mit dem mittel-
deutschen, oder da dies ein unendlich ausgedehntes gebiet ist, mit dem
heimatsdialect Luthers , wofür der des Mansfeldischen Unterlandes — nicht
etwa der seines väterlichen stamortes Möhra — zu rechnen ist, leicht
gezeigt haben , dass alle und jede umlaute , die das mittelhochdeutsche
oder das neuhochdeutsche besitzt, auch damals schon vorbanden waren,
im mitteldeutschen oder in dieser mundart , nur freilich zum teil in ande-
rer ausdehnung und bedingung als dort oder jetzt. Dass Schreiber und
später auch manche drucker gelegentlich den umlaut noch nicht bezeich-
200 KÖHLEB, Zu V^IELAND
nen, darf damit nicht verwechselt werden, wie es der herr Verfas-
ser tut laut seiner eigenen werte (s. 9): „wenn er (der umlaut) sich in
der Leipziger ausgäbe findet, so ist dies sicher eigene zutat des setzers."
Oder wenn er, um das e in erbeit zu erklären, an demselben orte sagt,
„noch jetzt soll die form erben für arbeiten aus dem munde thüringischer
landleute vernommen werden." Der Verfasser lebt in Naumburg ; er hätte
dort, wie überall in Thüringen, gelegenheit gehabt, diese form als die
einzige — freilich nicht erben, was beerben ist, sondern erbeten zu
hören. Dicht daneben wird das citat eines o für a aus demselben busspsalm
der Leipziger ausgäbe ^^gegoffet*'*' in gehoffet zu verbessern sein (Ps. 143, 8),
entsprechend dem lateinischen in te speravi, denn ein goffen für gaffen
ist nicht wol denkbar. Die mitteldeutschen mundarten insgesamt haben
umgekehrt eher die neigung ein gemeindeutsches o vor f oder , wie es
in geschärften silben geschrieben wird, ff in a übergehen zu lassen.
BRESLAU, JUNI 1870. H. RÜCKERT.
EIN DRUCKFEHLER IN WIELANDS WERKEN.
Eine stelle im sechsten buche von Wielands Gandalin oder Liebe
um Liebe lautet in den drei ersten ausgaben dieses gedichtes (Teutscher
Merkur 1776. III, 102; Wielands neueste Gedichte, H. Theil. Weimar
1777. s.92; Wielands Auserlesene Gedichte, Band IL Leipzig 1784. s.262):
Wozu dich selbst so quälen? (flüstert
Der Engel ihm zu) Du bist aus Thon
Gebildet wie jeder Erdensohn,
Bist mit den Thieren des Feldes verschwistert.
Und unterworfen dem Getäusch
Der Leidenschaften wie alles Fleisch.
Statt des tadellos gebildeten, auch von Klopstock, Georg Jacobi
und Voss gebrauchten ^ und an unserer stelle ganz treffenden wertes
getäusch haben alle Göschenschen gesamtausgaben der werke Wielands
(bd. 21 der ausgäbe von 1796, s. 75 der quart-, s. 79 der grossoctav-,
s. 100 der kleinoctav - ausgäbe ; bd. 21, s. 115 der ausgäbe von 1825;
bd. 10, s. 233 der ausgaben von 1839 und 1854) und die neueste in
Hempels vorlag erschienene ausgäbe von Wielands werken (bd. 4, s. 200)
das unsinnige geräusch.
WEIMAR, APRIL 1870. REINHOLD KÖHLER.
1) S. W. Hoffmanns Wörterbuch der deutschen spräche 11, 594 und D. San-
ders Wörterbuch 11, 1294.
201
ADOLF HOLTZMANN.
Adolf Kabl Wilhelm Holtzmann war geboren am 2. mai 1810 zu Karlsruhe,
als der dritte von f^nf geschwistem, von welchen noch zwei brüder, der eine in
Baden, der andere in Würtemberg, sich in kirche nnd schale eine hervorragende
Stellung and hohe Verdienste erworben liaben. Der vater, Joh. Mich. Holtzmann,
aas Speicr gebürtig, war professor am lyceam za Karlsrahe. Er starb schon 1820
and es war nar mit Schwierigkeit, dass seine söhne sich ihre laafbahn ebneten.
Adolf Holtzmann hat seine stadienjahre anstatt der ersehnten Sprachwissenschaft der
theologie znwenden müssen, and noch im mannesalter nahm ihm ein andersgeartetes
amt zam grossen teile die kraft and zeit weg, die er seinen forschangen hätte wid-
men mögen. Daza kam der amstand, dass die sprachwissenschaftlichen Stadien in
jener zeit erst noch im werden begriffen waren, dass die beteiligang an ihnen nar
mit mühe and aafwand za erlangen war. Aaf diese hemmnisse hat Holtzmann in
der vorrede seines letzten baches mit vollem rechte hingewiesen.
Vom lyceam za Karlsrahe im herbst 1828 entlassen bezog er zanachst die
aniversitat Halle , am theologie za stadieren; wante sich jedoch schon za ostem 1829
nach Berlin , wo er bis ostem 1831 blieb. Nach Berlin zog ihn hauptsächlich Schleier-
macher, dessen Übersetzung der platonischen dialoge ein vom vater ererbtes stadiam
Holtzmanns and seiner brüder bildete. Sprachwissenschaftliche Vorlesungen hörte er
während dieser zeit nicht, obschon er sich damals schon mit der litteratur dieses
faches bekant gemacht hat. Im juni 1831 bestand er das theologische examen in
Karlsruhe und trat sodann als vicar in Kandem ein. Allein sein entschluss stand
bereits fest zur Sprachforschung überzugehen. Er richtete an die regio rang ein gesuch
um Unterstützung zu diesen Studien, deren hohe bedeutung er mit dem hinweise auf
die werke Jacob Grimms, Bopps, Wilhelm von Humboldts und auf die in Preussen
anerkante Wichtigkeit der Sprachwissenschaft für die höhere Schulbildung begründete.
Erst im sommer 1832 ward ihm die Staatsunterstützung zu teil, die es ihm möglich
machte zunächst in München zu studieren. Hier hörte er bei Othmar Franck Sans-
krit , bei Neumann über Armenisch und Chinesisch ; besonders aber arbeitete er unter
Schmellers leitung auf der bibliothek. Nach einem jähre kehrte er nach Karlsruhe
zurück und legte zunächst im winter 1833 auf 34 einem kleinen kreise , an welchem
sich namentlich die lycealprofessoren beteiligten, die ergebnisse seiner studien in
einigen Vorlesungen vor. Im märz 1834 begab er sich zu weiterer ausbildung nach
Paris. Hier schloss sich Holtzmann hauptsächlich an Eugene Bumouf an, dessen
Vorlesungen im College de France er besuchte. Auch mit Silvestre de Sacy ward er
bekant. Für sich arbeitete er auf der damals königlichen bibliothek sowie in den
samlungen der Asiatischen gesellschaft , zu denen Bumouf ihm den zutritt verschafft
hatte. Im winter nach Karlsruhe zurückgekehrt, erwarb er sich die mittel zu einem
zweiten aufenthalt in Paris, indem er vom sommer 1835 bis ebendahin 1836 als
hofmeister in einem legitimistischen grafenhause in der nähe von Grenoble tatig war.
Im august 1836 vollendete er zu Karlsruhe die ausgäbe der fränkischen Übersetzung
des Isidor de nativitate domini , die er 1834 auf der Pariser bibliothek abgeschrieben
hatte. Musterhaft ist die Sorgfalt und klarheit sowol in der widergabe des textes,
wie in der darlegung der Sprachregel und des Sprachschatzes. Eine reihe von scharf-
sinnigen bemerkungen, auch über gotische grammatik, sind eingefügt. Der zweite
aufenthalt in Paris vom herbst 1836 bis 1837 scheint namentlich den orientalischen
sprachen bestimt gewesen zu sein. Daran wünschte Holtzmann eine reise nach Eng-
302 MABTIN
land zu schliessen, auf welcher namentlich die hinterlassenschaft des F. Junius in
der Bodlejanischen bibliothek zu Oxford ausgebeutet werden sollte. Zu dieser reise,
die bis in die letzten jähre ein lebhafter wünsch des verstorbenen blieb, kam es
jedoch nicht. Grossherzog Leopold berief ihn im november 1837 als erzieher seiner
beiden jüngeren söhne, der prinzen Carl und Wilhelm.
Diese stelle bekleidete Holtzmann eine geraume zeit lang. Die freie zeit, die
ihm dabei blieb, benutzte er zur Verwertung seiner Pariser Studien, namentlich auf
dem gebiete der orientalischen sprachen. Die ergebnisse sind teils ausgaben, so die
des Indravidschaja , einer episode des Mahabharata (Karlsruhe 1841); teils Übertra-
gungen , in welchen der kühne versuch gemacht ist , aus der übei:}ieferten gestalt der
indischen epen die ursprünglichen eraahlungen widerherzustellen. — Dieser art sind
die bruchstücke aus Walmikis' Bamajana (Karlsruhe 1841, in zweiter vermehrter auf-
läge 1843), und die aus dem Mahabharata geschöpften Indischen sagen, in drei tei-
len (Karlsruhe 1845—47 und in zweiter verbesserter aufläge Stuttgart 1855); —
teils endlich einzelne abhandlungen , welche wol als Holtzmanns bedeutendste leistun-
gen in diesem Zeiträume bezeichnet werden dürfen. In kurzer, knapper form teilen
sie Untersuchungen mit, deren ergebnisse gröstenteils ein bleibender gewinn für die
Sprachwissenschaft und die orientalische litteraturgeschichte sind. In der abhandlung
„Über den griechischen Ursprung des indischen tierkreises '* (Karlsruhe 1841) ward
eine ganze litteraturepoche, welche die speciel indischen philologen Schlegel und
Lassen um ein Jahrtausend zu früh angesetzt hatten, mit überzeugenden gründen
richtig bestirnt. Die schrift über den umlaut (Karlsruhe 1843) trat einer irrigen auf-
fassung J. Grimms entgegen; die über den ablaut (Karlsruhe 1844) bestirnte nicht
nur zuerst den undeutlich überlieferten accent des Sanskrit , sondern wies auch dessen
Wichtigkeit für die indische und deutsche Sprachbildung nach. Die durch Bumouf und
Lassen zuerst sprachwissenschaftlich begonnene entzifierung der keilschrift erhielt eine
wesentliishe förderung durch Holtzmanns „Beitrage zur erklärung der persischen keil-
inschriften *' (I. heft, Karlsruhe 1846), woran sich mehrere aufsätze in der Zeitschrift
der deutschen morgenländischen gesellschaft , im* Y . , VI. und VIU. bände (Leipzig
1851 — 54) anschlössen. Einzelnes aus den zuletzt erwähnten Untersuchungen hatte
er auf der philologenversamlung zu Berlin 1850 vorgetragen. Ausserdem besprach
Holtzmann die gleichzeitige fachUtteratnr in den Heidelberger Jahrbüchern in recen-
sionen, die zum teil den erwähnten abhandlungen zu gründe liegen.
Trotz dieser zahlreichen und wertvollen arbeiten beklagte Holtzmann, die sei-
nen forschungen bestimte zeit durch sein amt geschmälert zu sehen. Freilich bot
diea in anderer hinsieht vieles zum ersatz. An äusseren ehren fehlte es nicht; den
titel als Professor hatte Holtzmann beim antritt seiner erziehertätigkeit erhalten,
1843 ward er zum hofrat emant. Auch die orden vom Zähringer löwen und der
preuBsische adlerorden dritter klasse wurden ihm verliehen. Doch bewahrte Holtz-
mann inmitten des hofes die volle Unabhängigkeit seines Charakters. Seine gerade
natur , sein gelehrtenruf verschafften ihm eine bei aller Zurückhaltung geachtete Stel-
lung, an welcher auch die stürme des Jahres 1848 nichts änderten.
Im jähre 1849 verlor die Universität Heidelberg durch den wegzug K. A. Hahns
nach Frag den bisherigen Vertreter der deutschen philolog^e. Da eine ordentliche
Professur für dieses faeh erst geschaffen werden muste, so verzögerte siok Holts-
manns berufung in die ihm zugedachte stelle bis zum frühjahr 1858. GkichMitig
wurde er von der philosophischen facultät zum ehrendoctor emant. Im winter darauf
begann er seine Vorlesungen, deren gegenstände nach dem ausweise der lectioniiTer-
zeichnisse die folgenden waren. Begelmäsug jedes semester las er über SMiskrit-
ADOLF WW^fMAmX 809
grammatik mit Übungen, woran sich im winter 1857 auf 58 ein zweiter cursu«, die
erklärung der Sakuntala seit sommer 1856 zweimal, die des Wolkenboten 1856/57
anschloss. Vergleichende grammatik der indogermanischen sprachen behandelte er
seit 1853 dreimal, deutsche grammatik seit 1854 viermal; veranstaltete Übungen im
Gotischen 1862.63, im Althochdeutschen 1867/68, im Mittelhochdeutschen 1866;
erklärte ausgewählte stücke aus Wackemagels Altdeutschem lesebuch seit 1853 vier-
mal; las über Altnordisch (ältere Edda) seit 1856/57 viermal, über Angelsachsisch
(Beowulf) seit 1856 viermal. Das Nibelungenlied erklärte er seit 1857 z^nmal, nach*
dem er schon 1853 darüber gesprochen hatte; die gedichte Walthers 1862. Beson-
ders oft behandelte er die geschichte der deutsehen litteratur , teils ohne grenzbestimh
mung seit 1865/66 fünfmid, oder von anfang bis ins 19. jalyrhundert seit 1853/54
zweimal, oder bis auf Schillers tod seit 1862/63 fünfmal, oder endlich bis zum
18. Jahrhundert seit 1858/59 dreimal; — teils geteilt, biis zu ende des 15. Jahrhun-
derts oder bis zur reformation seit 1852/53 fünfmal, und von Luther bis auf Göthe
seit 1855/56 zweimal, von Opitz bis Göthe 1860/61. Über deutsche mythologie trug
er seit 1854 siebenmal vor und interpretierte dio Germania des Tadtus seit 1856/57
neunmal. In den letzten Semestern hinderte ihn sein leidender zustand am abhalte«
der Vorlesungen.
Die Schriften Holtzmanns, welche nach seinei Übersiedelung nach Heidelberg
erschienen , beziehen sich mehr auf die deutsche litteratur als auf die früher von ihm
hauptsächlich behandelte Sprachwissenschaft und orientaüsche litteratur. Bei dep
antritt seines academischen amtes veröfifentlichte er eine abhandlung ,,Über das ver«*
hältnis der Malberger glosse zum texte der lex Salica," in welcher er die glossen
für reste eines ursprünglich fränkischen teztes erklärte, dessen Sprachnormen weit
altertümlicher seien als die sonst erhaltenen s]prachdenkmäler. In noch höherem
grade waren zwei darauf folgende Schriften gegen die bis dahin gütigen annahmen
gerichtet Einmal die „ Untersi^chungen üb^ das Nibelungenlied,*' zu Stuttgart 1854
erschienen , obwol die vorrede und die Widmung an F. H. von der Hagem bereits vom
September 1853 datiert sind. Die hauptfiächlicbsteB. schlussfolgerungen dieser uat^-
suchungen sind: der älteste text des gedichts von den Nibelungen ist in der band«*
Schrift C enthalten; das gedieht i^ nur eine Überarbeitung des von einem schreibes
Eonrad am ende des 10. Jahrhunderts verfassten ursprünglichen werkes; die sage ist
dieselbe wie die indische von Kama, die im Mahabharata, wenn auch entstellt, vor-
liegt. Es ist bekant, welchen streit diese aufstellungen in der deutschen philologie
erregten, um so mehr darf hier von einer beurteilung derselben abgesehen werden.;
ganz ungeziemend Wäre es auf den persönUcheB Charakter dieses Streites einzugeIvMi*
Auf die „Untersuchungen über das Nibelungenlied*' folgte bald die historische Unter-
suchung: „ Kelten und Germanen " (Stuttgart 1855). Der bisher namentlich von den
grfindem der neueren Sprachwissenschaft angenommenen ansieht entgegen wird darin
die identität der Kelten und Germanen aufgestellt, und die verwantschaftliche verbin**
düng der ersteren mit den heutigen Gaelen geläugnet Die übrigeai werke Holtz-
manns aus seiner Heidelberger zeit sind zum teil ausgaben, in denen, zumeist der in
den Untersuchungen als ursprünglich angenommene text der Nibelungen teils mit
kritischem apparat (Stuttgart 1857), teils zum schulgebrauoh (Stuttgart 1858 und
1863) hergestellt wurde, aber auch die Klage (Stuttgart 1859) und der grosse Wolf-
dietrich (Heidelberg 1865), der letztere zum ersten male, erschienen. Zum anderen
teile aber waren es zahlreiche aufsätze und recensionen in Pfeiffers Germania von
1856 ab; die gegenstände der ersteren werden aus dem unten folgenden verzeiehniase
ersichtlich sein. Endlich beabsichtigte HöUzmann noch, die fruchte seiner langjihri-
204 IfABTIM
gen grammatischen Studien auf dem gebiete des Altdeutschen zu sammeln und in
einem grösseren werke darzustellen. Er konte nur' die erste abteilung des ersten
bandes veröffentlichen, die specielle lautlehre des Gotischen, Altnordischen , Altsäch-
sischen , Angelsächsischen und Althochdeutschen. Dass die zunehmende krankheit und
der drohende tod die Vollendung dieses Werkes verhinderten, war ihm in den letzten
tagen ein besonders schmerzlicher gedanke. Er starb am 3. juli 1870.
Holtzmann war zweimal verheiratet: seine erste ehe, während seines aufent-
haltes in Karlsruhe geschlossen , wurde in Heidelberg durch den tod der gattin gelöst.
Aus beiden eben hatte er kinder, und das glücklichste familicnleben war ihm beschie-
den. Auch an weiterer geselligkeit nahm er gern teil, und obwol in den letzten jäh-
ren seine Schwerhörigkeit ihm vieles versagte, so erfreute er doch den kreis seiner
bekanten durch seine liebenswürdige, oft heitergelaunte umgangsweise. Seine ehe-
maligen Zuhörer rühmen sein freundliches entgegenkommen , das unbemittelten gegen-
über selbst zur woltätigkeit wurde. Für seine milde anderen auslebten gegenüber
glaubt der erstatter dieses berichtes dankbar anführen zu müssen, dass Holtzmann
ihm, trotz seiner in manchen punkten abweichenden wissenschaftlichen Überzeugung,
die habilitation an der Heidelberger Universität nur erleichtert hat. Diese milde
beurteilung anderer lässt sich wol als ein zug des süddeutschen Wesens auffassen:
wie Uhland jedem sänger im deutschen dichterwald das recht des hervortretens zu-
spricht, so urteilte Holtzmann über die freiheit der wissenschaftlichen bestrebungen.
Wo er diese durch harte urteile beeinträchtigt glaubte, zögerte er nicht mit schar-
fer entgegnung. Dass die strenge der anforderungen , die jeder redliche forscher an
sich selbst stellen wird, auch anderen gegenüber berechtigt ist, dass sie namentlich
für die mehrzahl der lernenden eine notwendige schule bildet, erkante er zu wenig
an; und er hat daher namentlich Lachmanns auftreten gegen v. d. Hagen entschie-
den unrecht beurteilt.
Holtzmanns wissenschaftliche Verdienste liegen mehr auf der grammatischen
Seite der philologie, als auf der litterarhistorischen. Eindringender Scharfsinn und
kühnheit der combination waren ihm mehr eigen als das hingebende versenken in das
Wesen eines Schriftstellers, einer dichtungsgattung^ einer litteraturperiode. Er war
daher auch, wie es scheint, im allgemeinen glücklicher in der behandlung der älte-
ren sprach- und culturzustände , als in der beurteilung der späteren zeit. ^ Zwei
eigenschaften der wissenschaftlichen richtung Holtzmanns sind ganz besonders her-
vorzuheben: einmal seine grossartige consequenz, die von einem als sicher angenom
menen punkte aus jede Schlussfolgerung zog; und andererseits seine vollkommene
Unabhängigkeit des eigenen Urteils. Für diese freiheit der überlieferten Wissenschaft
gegenüber hat er selbst einmal einen treffenden ausdruck gebraucht, in seinem werke
über die Kelten: „Eine Wahrheit ist immer fruchtbar, und wenn eine ansieht längere
zeit festgehalten wird, ohne durch aufschlüsse, die sie bringt, auf entdeckungen, die
ihre natürliche folge sind, durch licht, das sie fortwährend verbreitet, sich als Wahr-
heit zu beurkunden, so muss man endlich zweifeln, ob sie mehr sei als eine überlie-
ferte, aber falsche meinung.'*
Aus dieser Originalität seines forschens erklärt sich die menge von neuen
ansichten, die er aufgestellt hat. Um so wichtiger erscheint es, dass die kleineren
abhandlungen ; von welchen einige aus buchhändlerischen gründen keine grosse ver-
1) Über die neuere blüteperiodo der deutschen litteratur hat er nur eine schrift
veröffentliobt , einen für freunde bestirnten vertrag, in welchem er Schiller vor dem vor-
würfe der feiudseligkeit gegen das Christentum in schuts nahm.
ADOLF HOLTZMAHN 205
breitong gefanden haben, von professor Holland gesammelt neu erscheinen soUen.
Vielleicht ist dann anch ein eingehenderer bericht über das leben und wirken des
verstorbenen zu erwarten, als er hier gegeben werden konnte. Auch der im nach-
lasse vorgefundene teil der grammatik soll noch veröflfentlicht werden , sowie die Vor-
lesungen Über die Germania des Tadtus, deren herausgäbe A. Holder übernommen
hat. Von diesem hat der berichterstatter einige in die vorstehende lebensübersicht
aufgenommene nachweisungen erhalten; ganz besonders aber ist er bei der ausarbei-
tung derselben von der familie des verstorbenen zu danke verpflichtet worden , welche
über eine reihe von punkten die gütigste auskunft gewährt hat.
FRBIBUBG I. B. EBMST MARTIN.
VERZEICHNIS DER SCHRIFTEN ADOLF HOLTZMANNS NACH DER
ZEITFOLGE GEORDNET.
1836. 1. Isidori Hispalensis de nativitate Domini, passione et resurrectione, regno
atque judicio epistolae ad Florentinam sororem versio francica saeculi octavi
quoad superest, ex codice Parisiensi edidit, annotationibus et glossario
instruxit Adolfus Holtzmann. Carolsruhae 1836.
1841. 2. Bruchstücke aus Walmikis Ramajana , übersetzt von Adolf Holtzmann. Karls-
ruhe 1841.
3. Über den griechischen Ursprung des indischen tierkreises von Adolf Holtz-
mann. Karlsruhe 1841.
4. Indravidschaja. Eine episode des Mahäbharata, herausgegeben von Adolf
Holtzmann. Karlsruhe 1841.
1843. 5. Rama. Ein indisches gedieht nach Walmiki. Deutsch von Adolf Holtz-
mann. Zweite vermehrte aufläge. Karlsruhe 1843.
6. Über den umlaut. Zwei abhandlungen von Adolf Holtzmann. Karlsruhe
1843.
1844. 7. Über den ablaut von Adolf Holtzmann. Karlsruhe 1844.
1845. 8. Beiträge zur erklärung der persischen keilinschriften von Adolf Holtzmann.
I. heft. Karlsruhe 1845.
9. Indische sagen von Adolf Holtzmann. Teil L Karlsruhe 1845.
1846. 10. Indische sagen von Adolf Holtzmann. Teil II. Karlsruhe 1846.
1847. 11. Indische sagen von Adolf Holtzmann. Teil IH. Karlsruhe 1847.
1851. 12. in der Zeitschrift der deutschen morgenländischen gesellschaft, V. band,
Leipzig 1851 , s. 145 — 178 : Über die zweite art der achämenidischen keil-
schrift , von hofrat Adolf Holtzmann in Karlsruhe.
1852. 13. in der Zeitschrift der deutschen morgenländischen geseUschaft, band VI,
Leipzig 1852, s. 35—47: Über die zweite art der achämenidischen keilschrift,
von hofrat Adolf Holtzmann.
14. Über das Verhältnis der Malberger glosse zum texte der Lex Salica.
Eine abhandlung von Adolf Holtzmann, grossherzoglich badischem hofrat,
ordentlichem professor der älteren deutschen spräche und litteratur an der
Universität Heidelberg, ritter des Zähringer löwen- sowie des roten adler-
ordens dritter klasse , mitglied der deutschen morgenländischen geseUschaft,
bei eröfi&iung des neu gegründeten lehrstuhls der deutschen philologie im
mai 1852 seinen collegen gewidmet
15. in der Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem gebiete des
deutschen, griechischen und lateinischen, herausgegeben von Th. Aufrecht
und Ad. Kuhn, L band, BerHn 1852, s. 483—491: Vyäsa und Homer.
906 MABTIN, Ai>Oti^ HOLTZMANN
1854. 16. Untersuchungen über das Nibelungenlied von Adolf Holtzmann. Stuttgart
1854.
17. in der Zeitschrift der deutschen morgenländischen gesellschaft , band VIII,
Leipzig 1854, s. 329 — 345: Über die zweite art der achämenidischen keil-
schrift, von professor Adolf Holtzmann. Portsetzung; und s. 539 — 547:
Neue inschriften in keilschrift der ersten und zweiten art, von professor
Adolf Holtzmann.
18. Indische sagen von Adolf Holtzmann , zweite verb. aufläge. Stuttgart 1855.
1855. 19. Kampf um der Nibelunge bort gegen Lachmanns nachtreter. Von Adolf
Holtzmann. Stuttgart 1855.
20. Kelten und Germanen. Eine historische Untersuchung von Adolf Holtzmann.
Stuttgart 1855.
1856. 21. in Germania, vierteljahrsschrift für deutsche altertumskunde , herausgegeben
von Franz Pfeiffer, I. band, Stuttgart 1856, s. 110 — 117. Die alten glos-
sare L — 217 — 223: Über das deutsche duodecimalsystem. — 341 — 346:
Regiert die präposition mü den accusativ? — 462 — 475: Zum Isidor.
1857. 22. Das Nibelungenlied in der ältesten gestalt mit den Veränderungen des
gemeinen textcs. Herausgegeben und mit einer einleitung versehen von
professor Adolf Holtzmann. Stuttgart 1857.
23. in PfeilFerg Germania II (Stuttgart 1857) s. 1—48: Der dichter des Anno-
liedes. — 214 — 217: Zur und st*. — 424—425: Das grosshundert beiden
Goten. — 448 — 449: Sihora. — 464 — 466: Min im vocativ.
1858. 24. Das Nibelungenlied in der ältesten gestalt. Herausgegeben und mit einem
Wörterbuch vei*sehen von prof. Ad. Holtzmann. Schulausgabe. Stuttgart 1858.
25. in Pfeiffers Germania III (Stuttgart 1858) s. 51 — 56: Nibelungen, bruch-
stüok R. — 307 — 328: Meistergesänge des XV. Jahrhunderts.
1859. 26. Die Klage in der ältesten gestalt mit den Veränderungen des gemeinen t«x-
tes, als anhang zum Nibelungenlied herausgegeben und mit einem wörter-
buche und einer einleitung versehen von prof. Ad. Holtzmann. Stuttg. 1859.
27. in Pfeiffers Germania IV (Wien 1859), s. 315—337: Nibelungenhandschrift k.
Der Nibelunger Liet.
1860. 28. Zur Schillerfeier. Ein Vortrag, gehalten in der dienstagsgesellschaft zu
Heidelberg, den 8. november 18e59. (Als manuscript fßr den Verfasser
gedruckt). Heidelberg 1860.
29. in Pfeiffers Germania V (Wien 1860), s. 210 — 219: Meistergesänge des
XV. Jahrhunderts. — S. 444—448: Aus der Colmarer liederhandschrift.
1861. 30. in Pfeiffers Germania VI (Wien 1861), s. 1 — 24: Das adjectiv in den Nibe-
lungen.
1862. 31. in Pfeiffers Germania VII (Wien 1862), s. 196—225: Zum Nibelungenliede.
1863. 32. in Pfeiffers Germania VDI (Wien 1868), s. 257 — 268: Das gotische adjec-
tivum. — 385—414: Die alten gloasare II. — 489 — 497: Zu Beowulf.
33. Schulausgabe des Nibelungenliedes in der ältesten gestalt, herausgegeben
und mit einem wörterbuche versehen von professor Adolf Holtzmann. Zweite
umgearbeitete aufläge. Stuttgart 1863.
1^864. 34. in Pfeiffers Germania IX (Wien 1864), b. 1 — 13: Der name Germanen. —
179—191: Das lange a. — 289—298: Zum Hfldebtandsliede.
1865. 35. Der grosfTeWolfdietrich, herausgegeben von Ad. Holtzmann. Heidelberg 1865.
1866. 36. in Pfeiffers Germania XI (Wien 1866) , s. 30 — 6^ : Althochdeutsche glossare
und glosseii.
JULIIIB BBAKSLMAKK 207
1867. 37. in Pfeiffers Gennaiiia Xu (Wien 1867), s. 257 — 284: Artus.
1870. 38. Altdeutsche grammatik , umfassend die gotische , altnordische, altsächsische,
angelsächsische und althochdeutsche spräche. Von Adolf Holtzmann. I. bd.
I. abteilung. Die specielle lautlehre. Leipzig 1870.
JULIUS BRAKELMANK
Der gute des herm prorector dr. Legerlotz in Soest verdanke ich die nachste-
henden lebensnachrichten über diesen begabten und kentnisreichen mitarbeiter unserer
Zeitschrift, der im beginne der fruchtbaren entfaltung seiner wissenschaftlichen laufbahn,
in vollster frischer jugendkraft den heldentod fürs deutsche Vaterland gestorben ist.
Fbisdbich Wilhelm Julius Bbakslmann, geb. den 23. Januar 1844, war das
einzige kind eines kaufoianns zu Soest in Westfalen. Zu einem sehr kräftigen und
munteren knaben heranwachsend suchte er doch nur selten die Spielplätze seiner
altersgenossen , sondern erfreute sich lieber daheim an seinem puppentheater und sei-
nen büchem. Im herbste 1853 auf das archigymnasium zu Soest getan, machte er
nicht die von seiner ungewöhnlichen begabung erwarteten fortschritte , vielmehr brachte
er es als schüler der unteren klassen nie über einen mittleren platz , wegen entschie-
dener abneigung gegen manche fächer, namentlich gegen mathematik und gramma-
tik. Um so eifriger las er, was er von historischen und von werken der deutschen
und der französischen litteratur erhaschen konte, namentlich einen grossen teil der
Schriften Voltaires. So früh entwickelte sich die richtung, die er später eingehalten
hat. Auch der schaffenstrieb regte sich schon mächtig in ihm , und fand seineu aus-
druck in gedichten und sogar in dramen , von denen sich bruchstücke erhalten haben,
die durch gedanken und geschick der formgebung überraschen. So absonderliche
neigungen und bestrebungen fanden aber wenig beifall bei seinen mitschülem, mit
deren mehrzahl er deshalb jahrelang auf dem kriegsfusse stand, was nicht ohne ein-
fluss auf seine weitere entwickelung blieb , auf die Stärkung des bewustseins von sei-
ner geistigen Überlegenheit und auf seine neigung zur satire.
Zu ostem 1859 zog er mit seiner mutter nach Essen und ward in die unter-
secunda des dortigen gymnasiums aufgenommen, dem er bis zu seinem abgange auf
die Universität im herbste 1863 angehörte. Hier, in den oberen klassen, genügte er
den ansprüchen der schule in vollständigerer weise, und fand auch bald bei seinen
mitschülem anerkennung und liebe; doch blieben seine wissenschaftlichen neigungen
dieselben, und festigten sich so, dass er schon als secundaner sich das Studium der
germanischen und besonders der romanischen litteraturen zur lebensaufgabe stellte,
und zugleich auch fleissig wichtigere und seltenere bücber aus diesen gebieten aufzu-
stöbern und zu erwerben trachtete.
Nach ehrenvollem abiturientenexamen besuchte er von michaelis 1863 bis ostem
1867 die Universität zu Berlin. Inzwischen rief ihn der sommer 1866 ins feld, zur
beteiligung am Jfainfeldzuge unter Vogel von Falckenstein. Während seiner unitersi-
tätszeit entsagte er dem dichten gänzlich, und studierte neben der romanischen phi-
lologie auch fleissig und gründlich klassische und germanische und handschriftenkunde.
Seine romanischen Studien fanden namentlich f5rderung in dem unter pvofessop Hei^
rigs leitung stehenden seminare für lehrer der neueren sprachen.
Im april 1867 Übernahm er eine hauslehrerstelle bei dem herrenhauanütgliBde
grafen Brinski zu Samostrzel im reg^erungsbezirk Bromberg. Die gediegene lÖAung»
einer preisaufgabe „Histoire de Tetade de langue d*oll'' erwirlcte ihm jetstainreite^
208 JTJLIU8 BBAKBLMANN
Stipendium für Paris, was für seinen weiteren lebensgang entscheidend wurde. Denn
rasch entschloss er sich nun zur ergreifung der universitätslaufbahn , promovierte in
Göttingen mit einer dissertation über Giovan Francesco Straparola da Caravaggio
(Göttingen 1867. 47 s.) und begann darnach in Paris zunächst die ihm aufgetragene
abschrift der wichtigen altfranzösischen liederhandschrift Fonds Mouchet 8, während
er zugleich seine vergleichenden studien der romanischen sprachen und litteraturen,
so wie des Vulgärlatein und der mittelalterlichen lateinischen, der mittelhochdeut-
schen, mittelniederländischen, mittelgriechischen, bretonischen und altenglischen lit-
teraturen eifrig fortsetzte. Aus der eingehenden beschäftigung mit der altfranzösi-
schen lyrik und der durchforschung einer beträchtlichen zahl von liederhandschriften
erwuchs der entschluss zu einer neuen ausgäbe der Berner liederhandschrift in zwei
bänden, welcher sich durch das entgegenkommen des Verlegers bald erweiterte zu
dem plane einer auf drei bis vier bände veranschlagten vollständigen, chronologisch
geordneten , und von einleitungen begleiteten kritischen ausgäbe sämtlicher erhaltener
altfranzösischer lyrischer dichtungen. Von diesem umfassenden und mit methodischer
kritik durchzuführenden unternehmen durfte die Wissenschaft um so grösseren gewinn
hoifen, weil die Franzosen selbst, wie Tarbe, Dinaux u. a. , in ihren ausgaben alt-
französischer lyrischer dichtungen bisher nur unvollständiges geliefert und mit dilet-
tantischer ungründlichkeit gearbeitet hatten, während den deutschen herausgebem
Wackemagel und Mätzner ein zu geringes material zur Verfügung gestanden hatte.
Rüstig ward band ans werk gelegt. Im frühjahr 1869 wurden die Bemer handschrif-
ten an ort und stelle ausgeschöpft und bald darnach der druck begonnen; im herbste
desselben Jahres liess sich bereits der abschlnss des ersten band es im manuscripte
ersehen, abgesehen von der noch auszuarbeitenden einleitung; am 1. october 1870
sollte nach dem contractlichen abkommen das manuscript des dritten bandes einge-
liefert werden.
Neben diesen weitausgreifenden arbeiten und studien entstanden noch eine
reihe von äbhandlungen und aufsätzen. So erschienen
In Herrigs archive für das studium der neueren sprachen und litteraturen :
Die drei und zwanzig altfranzösischen Chansonniers in bibliotheken Frankreichs,
Englands , Italiens und der Schweiz. Bd. 42. (1868).
Die altfranzösische liederhandschrift no. 389 der stadtbibliothek zu Bern. (Fonds
Mouchet 8 der Pariser kaiserlichen bibliothek.) Bd. 42. 43. (1868).
Kritischer anhang zu der abhandlung über die Chansonniers. Bd. 43. (1868).
In Lemckes Jahrbuch für romanische und englische litteratur:
Die pastourelle in der nord- und südfranzösischen poesie. Ein beitrag zur fran-
zösischen litteraturgeschichte des mittelalters nebst einem anhange ungedruck-
ter pastourellen. Bd. 9. (1868).
Zur Bemer liederhandschrift 231. Bd. 10. (1869).
Veriorene handschriften. Bd. 11. (1870).
Eecension von TArt d' Amors und li Remedes d*Amors von Jacques d*Amiens
ed. Körting. Bd. S, (1868).
Ausserdem lieferte Brakeimann noch beitrage an eine nicht unbeträchtliche
zahl von Zeitschriften und Zeitungen: an die grenzboten, unsere zeit, Lehmanns
magazin, die debatte, den Würtembergischen Staatsanzeiger, den Hamburger corre-
spondenten, die Leipziger illustrierte, die Angsburger allgemeine, die Spenersche,
die Vossische, die national- und die Rheinische allgemeine zeitung. Es waren das
besprechungen von büchern, litterar- und kunstgeschichtliche aufsätze, besonders aus
JULIUS B&AKfiÜJCAKK 209
dem bereiche der romanischeB weit, politische erörterungen und mitteilungen aus dem
Pariser leben und treiben. Mit dem französischen und namentlich mit dem Pariser
leben war Brakelmann so vertraut, dass seine freunde ihn scherzend einen kleinen
Franzosen nanten, doch war und blieb er durchaus deutsch, wie er auch die seele
des wöchentlich sich versammelnden Vereins deutscher gelehrten in Paris war.
Als auf Frankreichs frevelhaften friedensbruch und angriff ganz Deutschland
wie ein mann sich erhob, folgte auch Brakelmann am 17. juli freudig und mit Sie-
geszuversicht dem rufe des königs, um im 16. Westfälischen regimente als viccfeld-
webel einzutreten. Vier wochen später, am 16. august, starb er zu Mars la Tour
den heldentod fürs deutsche Vaterland. Schon im beginne seiner gelehrten - und sei-
ner siegeslaufbahn abberufen, hat er doch nicht vergeblich gelebt und gestrebt.
Mögen diese Zeilen dazu beitragen ihm ein dankbares und ehrendes andenken zu
erhalten.
Dreizehn im drucke vollendete bogen seines grossen Werkes hatte Brakelmann
in die heimat mitgebracht; seine bucher und papiere waren verpackt in Paris zurück-
geblieben. 'Kurz nach dem tode des herausgebers , muste bei der ebenso schmäh-
lichen als törichten austreibung der Deutschen im september d. j. auch der Verle-
ger, der besitzer der rühmlichst bekanten buchhandlung A. Franck, der das werk
mit Elzevier - typen und Vignetten schön ausgestattet und ein nicht unbeträchtliches
kapital darauf verwendet hatte, aus Paris weichen.
Für unsere Zeitschrift hat. Brakelmann die beiden in diesem hefte enthaltenen
aufsätze geliefert: die abhandlung über die Nitharthandschrift und die Strasburger
cide und die besprechung von Martins ausgäbe des Besant de dieu. Auf mein ersu-
chen hatte er femer zugesagt eine historisch - kritische Übersicht der leistungen und
bestrebungen auf dem gebiete der altfranzösischen philologie in Frankreich selbst,
seitdem dort der einfluss deutscher Wissenschaft wahrnehmbar geworden war. Es
sollte diese arbeit, für welche er bereits seit geraumer zeit material gesammelt und
zum teU auch schon redigiert hatte, sich über alle föcher der altfranzösischen philo-
logie, über grammatik, metrik, accentlehre, lexicographie , ausgaben und litteratur-
gcschichte erstrecken , und deren äussere und innere geschichte darlegen. „ Es war,"
wie er sich selbst darüber aussprach, „darauf abgesehen, eine Orientierung auf dem
ganzen felde der Wissenschaft zu geben, und das geleistete in seinem organischen
zusammenhange, wie das noch zu leistende übersichtlich darzustellen." Auch die Ver-
tretung der altfranzösischen philologie im höheren unterrichte gedachte er dabei aus
eigener anschauung zu charakterisieren. Endlich hatte er noch, auf mein mit seinen
eigenen absiebten zusammentreffendes ersuchen , in aussieht gestellt eine Untersuchung
des Verhältnisses der deutschen minnesinger zu den nordfranzösischen trouv^res.
Zum Schlüsse möge noch die äusserung eines bewährten fachgenossen und freun-
des hier platz finden, welcher mir schreibt: „Ich bin während meines sechsmonat-
lichen aufenthaltes in Paris, im sonmier 1868, in beständigem Umgänge mit ihm
gestanden, habe seitdem öfters briefe mit ihm gewechselt, in welchen er öfters mir
mit grosser gefälligkeit wissenschaftliche fragen erledigte, und habe ihn zuletzt ostem
dieses Jahres in Paris gesehen In seinem Charakter ist ein zug besonders hervorzu-
heben , seine Offenheit und geradheit. Gerade in Paris , wo auf die formen so sehr
gehalten wird , trat diese eigentümlichkeit auf das schärfste hervor. Mochten anföng-
lich manche seiner urteile verletzend, rücksichtslos erscheinen, so trat bei längerem
umgange die ehrlichkeit und mannhaftigkeit , aus der diese urteile hervorgegangen
waren, um so gewinnender hervor. Den Franzosen imponierte gerade dieser charak-
ZB1T8CHR. F. DEUTSCHS PHILOL. BT). III. 14
210 JULIUS BRAKELMANM
terzug Brakelmanns ganz besonders. Seine wissenschaftliche bildung zeigte sich auch
als eine wesentlich durch eigene feaft gewonnene. Als er studierte, wurden in Ber-
lin keine Vorlesungen über Altfranzösisch gehalten. Aber was die litteratur des faches
bot, hatte er mit seltenem fleisse und seltener genauigkeit sich angeeignet. Seine
sanilung der altfranzösischen lyriker, die nun wol fragment bleiben wird, würde ihm
einen sehr ehrenvollen namen gewonnen haben. Ich kann den Verlust Brakelmanns
als freund und f|chgeuosse nur innig bedauern. Sein leben ist seines heldentodes
würdig gewesen."
HALLE, WEIHNACHTEN 1870. J. ZACHEB.
Le besant de diett von Guillaume le clerc de Normandie mit einer ein-
leitung über den dichter und seine sämmtlichen werke herausge-
geben von £ni8t Martin. Halle , Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses,
1869. 8. XJiVm und 124 s. n. 1 thlr.
Das vorliegende didactische gedieht aus dem anfange des 13. Jahrhun-
derts, nach einer einzigen handschrift der Pariser kaiserlichen bibliothek zum ersten
male herausgegeben, ist für die spräche und litteratur jenes Zeitraums in gleicher
weise interessant. Der Verfasser, ein herumziehender dichter, der aus dem dichten
und recitieren ein gewerbe machte, wie mehrere stellen seiner erhaltenen werke
beweisen, also ein Jongleur, nennt sich bei verschiedenen gelegenheiten clerc; diese
bezeichnung, wie auch seine ganze geistesrichtung, zahlreiche anführungen von quellen,
deren benutzung kenntnis des lateinischen voraussetzt, und anspielungen auf die göt-
ter - und heldensage des altertums (Martin , XLU ff.) deuten darauf hin , dass er eine
geistliche erziehung erhalten. Priester ist er nicht geworden, obgleich das stück 2
der den Besant enthaltenden handschrift, das der Schreiber und Le Clerc ihm bei-
legen (vgl. weiter unten), in der schlusswidmung hat: Prestre sui ordevU — er hatte
ja weih und kinder (Besant, v. 96 — 98). Seine dichterische tätigkeit war für jene
zeit ziemlich vielseitig, wie schon seine erhaltenen gedichte, die wol nur einen teil
seiner sämtlichen werke ausmachen, zur genüge zeigen: es befindet sich darunter
ein* nicht allzu feines fMiau, ein ziemlich ausgedehntes rittergedicht , das sich dem
Artussagenkreise einreiht, ein bestiaire allegorisch -moralischen Inhalts, der fast in
ebensoviel handschriften erhalten ist , als der Bestiaire cTamowa des Richard de Fur-
nival, endlich eine reihe minder ausgedehnter gedichte didactisch- moralischer ten-
denz, unter welchen der Besant de Dien nach umfang und Wichtigkeit den ersten
rang einnimt. Diese werke scheinen sich zum teil einer ziemlich grossen Verbreitung
und beliebtheit erfreut zu haben , wie für den bestiaire die zahlreichen handschriften
und die Übersetzung ins Altenglische (Martin XXIII), für den nur in zwei handschrif-
ten erhaltenen Fregus eine mittelniederländische bearbeitung (ib. XX) zeigen. Ausser
dem litterarhistorischen Interesse der werke Guillaumes ist ihr sprachliches Interesse
nicht gering: die werke, von denen wir nicht allein namen und Vaterland des dich-
ters und die spräche ,> in der er schrieb, sondern auch die genaue abfassungszeit
1) Dass diese durchaus nicht mit notwendigkeit aus dem vaterlande des dich-
tere folge, zeigt z. b. (von Quenes de Bethune nicht zu reden) der Florimont des
Aymon de Varennes und die normannische Vi* de St. Thomas de Canterbury von dem
Picarden Garnier de Pont - Sainte - Maxence. Allerdings hatte Guillaume nicht, wie diese
beiden , einen besonderen grund , in einem anderen dialecte zu schreiben , als in dem sei-
ner heimat.
ÜB. LS BEBAKT BS DIEU BD. MABTIN 211
kennen y wie für zwei hauptwerkeGoillaumes, sind nicht allzu zahlreich und zur kri-
tischen hehandlung vorzugsweise berufen.
Die werke Guillaumes sind bisher gegenständ einer wissenschaftlich ernsten
bearbcitung kaum geworden, obgleich sie es aus den angeführten gründen wol ver-
dienten. Meon hat das fabliau du presire et d^AUson nach der handschrift Fonds
St. Germain 1239 (jetzt 19152) fol. 49d herausgegeben; sein abdruck, für jene zeit
sorgfältig genug, genügt heute nicht mehr. Den Fregus hat Fr. Michel nach der
Pariser handschrift ir)53 für den Abbotsford - club herausgegeben: diese Veröffent-
lichung , ein reiner und nicht einmal durchaus sorgfältiger abdruck , erhebt sich nicht
über das niveau der gewöhnlichen clubpublicationen französischer gedichte , die bekant-
lich in der regel vieles zu wünschen übrig lassen. Der bestiaire endlich ist Hippeau
in die bände gefallen , der vielleicht durch die ttcissige arbeit von Cahier darauf auf-
merksam gemacht worden war (obgleich er sie nicht nent). Diese ausgäbe, wenn ich
nicht irre, sein erstes debut als herausgeber altfranzösischer gedichte, steht noch
unter dem niveau seiner übrigen Veröffentlichungen, über welche die kritik längst
abgeurteilt liat. Die vorliegende ausgäbe des BesatU ist die erste, welche uns ein
werk des normannischen dichters in würdiger gestalt und sorgfältiger wissenschaftlicher
behandlimg vorführt. Namentlich die einleitung verdient alles lob; sie bemüht sich,
ihrem gegenstände nach allen selten hin gerecht zu werden, und hat ihn auch, bis
auf wenige nachzutragende einzelnheiten, vollständig erschöpft und abschliessend
behandelt.
Der erste abschnitt ist der einzigen handschrift gewidmet, welche uns das
gedieht überliefert; sie ist mit einer ausführlichkeit behandelt, welche sie so wol wegen
der zahlreichen anderswoher nicht bekanten stücke verdient, die sie enthält, als auch
wegen der wichtigen recensionen solcher stücke, welche uns auch andere handschrif-
ten aufbewahrt haben. Zu den gegebenen nachweisungen über einzelne stücke kann
ich noch folgende nachtrage liefern.
2) Abgesehen von der bei Martin nach de la Rue citierten handschrift Harl.
222 ist mir dies stück noch aus acht andern handschriften bekant, von denen sechs
in der Pariser kaiserlichen bibliothek aufbewahrt werden, nämlich:
a. Ms. 818 f. fr. (alt 7208) XIII. Jahrhundert (bis auf eine reihe von heiligen-
leben , die im XIV. am ende nachgetragen). Das gedieht füllt fol. 13^ — 17*^
und- umfasst 522 verse. Titelrubrik: Del cruciflement nostre seignor et coment
il cotnathda nostre dame a S. Johan. Dichter genant fol. 17 ""a: Que je ai
nun Hermans.
b. Ms. 1444 f. fr. (alt 7534) XIH. Jahrhundert fol. 66'-7l^ 811 verse. Titel-
rubrik: De Vassumptiofi nostre dame. Dichter fol. 71'"a: Jou ai a non
Hermans.
c. Ms. 1822 (alt Colbert 4154) XIII. Jahrhundert Fol. 194' — 198 \ Titelru-
brik und Schlusswidmung fehlen , anstatt letzterer ein gebet an die Jungfrau
für autor, copisten und leser. Stimt ziemlich genau zu 19525.
d. Ms. 20,030 f. fr. (alt St. Germain 1454) XIU. Jahrhundert. Fol. 114^—123'.
562 verse. Titelrubrik : Issi com nostre sire coinanda sa mere a monseignor
Saint Jehan. Dichter fol. 123 "" : Je ai a non Hermans Explicit li
romanz de dieu et de sa mere et des profetes et des apostres. Auch der
Schreiber nent sich : Gruerris m*escrist . . .
e. Ms. 22928 f. fr. (alt Lav. 85) XIV. Jahrhundert. FoL 292^—299^. 532 verse.
Titelrubrik : De Vassumption nostre dame. Dichter fol. 299 ^ : Je ai a non
Hernaus.
14*
212 BEAKELMANK
f. Ms. 25439 f. fr. (alt Lav. 2714) Xni. Jahrhundert. Fol. 91^ — 100'. 538 verse.
Keine titelrnbrik, unmittelbar an den Romans de Sapience von Hemaut
(1. Herraan) de Valenciennes (vgl. fol. 29^^) angeschlossen, wie zu diesem
gehörig, Dichter fol. 100": Je ai a non Hernaut.
Zwei andere finden sich noch im British miiseum:
g. Ms. Harl. 5234. Ich kenne es bei der ungeniigendheit des alten catalogs
der Harl. mss. nur aus Wright, ßiogr. Brit. litt. Anglonorman periud p. 325.
Dichter: Jeo ai mm Thwnas,
h. Ms. Cotonn. Dom. XI fol. 866 — 92. Titelrubrik: De Vassomption nostre
dame. Dichter: Jeo ai nun Chermans.
Es braucht kaum besonders gesagt zu werden , dass gegenüber der Übereinstim-
mung der handschriften a b d e f h das zeugnis der handschrift 19525 , welche das
gedieht für Wille7n'me (was offenbar unser Guillaume sein soll) in anspruch nimt,
ebensowenig gewicht hat^ wie das zeugnis des manuscripts g, welche an derselben
stelle den namen Thumas einschiebt. Dass in einer sanmielhandschrift für den dich-
ter, der darin hauptsächlich vertreten ist, auch solche stücke in anspruch genommen
werden , die mit seiner Schreibweise und dichtart gar keine verwantschaft haben , ist
zu gewöhnlich, namentlich in altfranzösischen handschriften, als dass es besonders
belegt zu werden brauchte. Der in g genannte Thumas ist übrigens der bekante
Thomas von Britannien, der Verfasser des romans von Hörn und des Tristan, von
welchem Fr. Michel die erhaltenen bruchstücke veröffentlicht hat : beide gedichte befin-
den sich in derselben handschrift. — Das manuscript f. hat durch den unmittelba-
ren anschluss unseres gedichtes an den bekanten Bomans de Sapience von Herman
de Yalencienes den Verfasser der assumption (dies scheint nach h eh der richtige tltel
des gedichts, die Überschriften im a und d können nicht als eigentliche titel ange-
sehen werden) als identisch mit jenem betrachtet und hinstellen wollen , ohne grund,
denn unser Hermans war sicherlich ein Normanne. Ist er mit dem Verfasser des
livres de le btble im Ms. 2162 fol. 1 — 77 identisch ? (Vgl. im eingang v. 26 : Ce
nos dist dans Hermans), Ton und spräche machen es eher wahrscheinlich. Gewis hat
er aber nicht Guillaume Hermans geheissen, wie de la Bue wollte. Die fassung
unseres gedichts in 19525 ist übrigens wol allerdings, wie de la Bue glaubte, ein
auszug (oder eine kürzere redaction), da es nur 395 verse hat, während a e f d deren
resp. 522, 532, 538 und 562 haben und b gar 811. (Erweiterung?) Eine nähere
Untersuchung ist hier nicht am orte.
4) Zu den schon im nachtrag p. 119 angeführten handschriften der Vie de
Ste. Marie EgipUenne füge ich noch das manuscript 283 Beiles- Lettres des Arsenal
hinzu , eine leider auf schändliche weise ^ durch ausschneiden der miniaturen verstüm-
melte, aber noch immer sehr wertvolle handschrift aus der besten zeit des 13. Jahr-
hunderts. Das gedieht umfasst hier auf fol. 118 — 122 (die handschrift ist gr. fol.
zu 3, oft auch 4 col.) ungefähr 1550 verse, von denen etwa 60 gegen das ende hin
durch ausschneiden einer miniatur in wegfall gekommen. Das Verhältnis zu den übri-
gen redactionen kann ich hier nicht näher untersuchen; ich bemerke nur, dass die
arsenalhandschrift im ganzen zu der Oxforder des Corpus Christi College stimt.
5) Wie mir Paul Meyer freundlichst mitteilt, befindet sich das Alexinsleben
doch in der Barroishandschrift 112 zu Ashbumham place, trotz des irreführenden
1) Der verstümmler hat, um eine Vignette aussuscbneiden , oft noch die drei bis
vier folgenden blättcr, die nichts für ihn wertvolles enthielten, mitgefasst.
ÜB. LE BBSANT DB DIEÜ BD. MABTIN 213
titels: Vies des saintes. Es wird zn der neuen grossen Alexiusausgabe , die Gaston
Paris vorbereitet, mit herangezogen werden.
6) Noch im (bereits erwähnten) Arsenalmanascript B. - L. F. 283 , fol. LXIU •" —
LXIV'', viel corrccterer text, ohne die groben Sprachfehler, welche die version unse-
rer handschrift in einer in prosastäcken aus der gnten zeit seltenen zahl verunzieren.
Anfang: Segnor, U secont travail as crestiens apreg Noiron Vempereor fist Domi-
siens li empereres,
7) ibidem fol. LXIX R*»— LXX R«.
9) ibidem fol. LXX R^. Auch hier ist der text der Arsenalhandschrift viel
correcter. Gleich im anfang dm feel maistre für deus feels maisttes in 19525. —
Die passian St. Pol beginnt fol. LXXI R" und geht bis LXII R^. Die prosaerzäh-
lung von der passion der beiden heiligen findet sich übrigens noch oft, wenn auch
in teilweise abweichender fassung, z. b. manuscript 818 fol. 154.
11) Der sehr seltene Jubinalsche druck dieses stückes (nur in 30 exemplaren
abgezogen), der mir durch einen zufall zugänglich geworden, ist vielfach ungenau,
wie mich eine vergleichung lehrte. Das sprachlich und litterarhistorisch interessante
stück, das ich für nicht unwesentlich älter halten möchte, als der herausgeber, ver-
dient mit no. 13 neu gedruckt zu werden.
13) Die annähme de la Rues und nach ihm des anonymen herausgebers dieses
Stückes, > dass dieser sermon den Cluniacenser Giscardus de Bellojoco zum Verfasser
habe, halte ich mit Martin für unbegründet. Sie basiert nur auf dem Explicit
der Londoner handschrift : Ici fine le semmn Cruichard de beau liu (Oatalogue of the
Harl. Mss. in the British Museum , IQ , 140) eine namensähnlichkeit , die nicht genü-
gen dürfte dem stücke ein so hohes alter zuzuweisen. Es ist übrigens nicht, wie
Martin angibt , die Londoner handschrift Harl. 4388 , die dem Pariser druck zu gründe
liegt, sondern unsere. Der abdruck ist genau, nur hat der herausgeber, in directem
Widerspruch mit de la Rue, den er anführt, nicht allein das stück auf dem titel ins
Xin. Jahrhundert verlegt, sondern auch in einem langen^ als einleitung dienenden
auszug aus De laRue (ü, 137), über den er sich sonst kein urteil erlaubt, eigenmäch-
tig und ohne jede benachrichtigung des lesers in dem satze : „ St notts examinons le
style de Guichart nous trauvons que &est bien celui du XII* siede** anstatt XQ*
XUI" gesetzt, was kaum erlaubt sein dürfte und im Zusammenhang de la Rues einen
unsinn gibt. Unbegreiflich ist auch, wie er auf dem titel nach einer Pariser einzi-
gen handschrift zu drucken vorgeben konte, während in dem als vorrede ausgezoge-
nen passus de la Rues ausdrücklich vom Londoner manuscript die rede ist. Er beab-
sichtigte übrigens, wie er in der vorrede sagt, wenn dieses debut gut aufgenommen
würde, auch den Besant herauszugeben.
14) Noch in Cott. Dom. XI foL 92— 95. Ist das altenglische life of Mary
Magdalena Cott. Titus A XXYI fol. 154 (dieselbe handschrift, wo der altenglische
Alexis) eine Übersetzung unserer Fie?
20) Bekantlich hat auch Stephan Langton einen Debat oder Plait der Justice,
Veriti usw. geschrieben, der im manuscript Arundel 292 fol. 38" ff. erhalten ist. Es
wäre zu untersuchen, ob die eine dieser bearbeitungen die andere gekant und nach-
geahmt.
21) Noch in Cott. Dom. XI foL 95. — Margaretenleben in vielfach abwei-
chender fassung, die wol ganz selbständig von unserer, sind mir noch vielfach
bekant, namentlich in 8 manuscripten der Pariser kaiserlichen bibliothek (1555, 2162,
1) Nach Wright (Biogr. brit, litt. , Anglon, per.) ist es auch Jubinal.
214 BRAKELMANN
2466, 1809, 2198, 19526, 24957, 24863) deren Versionen im ganzen übereinstimmen,
auch das manuscript des Arsenals 283 (fol. 129), die handschrift Douce 268 und die
verlorene handschrift La Clayette (in der Ste Palayeschen copie erhalten F. Moreau
1715 p. 32 col. 1 ff.) enthalten dieselbe Version. Von dieser und unter sich abwei-
chend sind zwei Versionen aus dem XV. und XVI. Jahrhundert, manuscript 1801 und
14977 der Pariser kaiserlichen bibliothek. Ein fragment ist mir noch in der bibUo-
thek zu Kennes bekant (nr. 261).
22) Noch im manuscript Fonds francais 25407 (alt Notre Dame 277) fol. 139' —
156\ Durchweg besser erhaltener text; auch die normannische sprachform, die in
unserer handschrift vielfach verwischt worden, ist sehr rein erhalten.
28) Noch im manuscript Fonds fran9ais 25439 fol. 65^ zeile 7 von unten. Der
erste Schreiber dieser religiösen miscellaneenhandschrift hat an den romans de
sapience mehrere gedichte verwanten Inhalts und gleichen versmaasses ohne weiteres
angereiht, so namentlich die assomption (ich habe deshalb bei nr. 2) diese handschrift
schon anführen müssen und sie daselbst f. genant). Die anreihung dieses gedieht s
brachte mir die Vermutung nahe, dass auch andere gedichte, welche die geschichte
Jesu zum gegenstände haben, in ähnlicher weise hier angeschlossen sein könten,
ohne Überschrift, absatz, und alles, was sie als selbständiges gedieht kenntlich machen
könte. In der tat fand sich auch fol. 65^ das stück vom Lazarus und der passion,
welches in unserer handschrift am ende steht. Die eigentliche passionsgeschichte,
welche hier fortlaufend an die geschichte des Lazarus angeschlossen (f. 197 ^) , ist in
25439 durch eine rubrik von derselben getrent (fol. 75^ de la paisiom nostre seignoitr)
und geht in dieser handschrift bis fol. 91^ z. 1 v. o. zu dem verse Alias! por son
bienfait qiiel guerdon li rend^m? (19525 fol. 200 'b z. 4 v. o.). Dann schliesst sich
ohne Überschrift und Übergang die assomption an.
Auf die sprachlichen bemerkungen über die handschrift komme ich weiter unten
zurück.
Der zweite abschnitt der einleitung gibt eine sehr klare und übersichtliche
analyse des gedichts, eine feststellung der entstehungszeit auf grund der zahlreichen
andeutungen, welche dafür das ende des Jahres 1226 oder den anfang d. j. 1227
ergeben, und eine Untersuchung über die quellen, die Guillaume benutzt hat. Als
eine hauptquelle wird ein bekantes werk Innocenz HI. de contemptu mtmdi usw. ein-
gehend nachgewiesen.
In gleich eingehender weise hätte die benutzung des Morisses de Sully nach-
gewiesen werden sollen , welcher in noch höherem grade als Innocenz UL eine quelle
und ein vorbild unseres dichters gewesen. Ich hole diese lücko hier nach und teile
nach einer bisher noch nicht benutzten handschrift eine ungedruckte predigt dieses
bischofs, bei welcher die abhängigkcit des Guillaume besonders ersichtlich, liier
unverkürzt mit. Ausser dem litterar- historischeu Interesse, welches die vergleichung
des Besani mit einer seiner hauptquellen hat, ist das sprachliche Interesse der fast
gleichzeitigen und, wie man anzunehmen allen grund hat , ursprünglich in dem eigent-
lichen Französisch der Isle - de - France abgefassten Übersetzung der predigten des
bischofs von Paris nicht gering.*
1) Der abb^ Lebeuf druckte zuerst in einem mömoiro über die ältesten Übersetzun-
gen ins Französische {MSm. d. l*ae, d. intcr. 1751 , p. 781 ff.) den Sermo ad preBbyteros
(p. 722) und ein kleines stück des Sertno in eireiimeitione dei (p. 723) nach einer hand-
schrift des capitels zu Sens ab, zwei weitere bruchstücke (nach B) finden sich in Dau-
Ob. LS BE8ANT DB DIBU BD. MARTIN 215
Ich lege den text der Pariser handschrift^ die wol als die älteste und, trotz
einzelner nachlässigkeiten des Schreibers, in den meisten beziehnngen als die beste
angesehen werden kann (Ms. 13314 , anc. snppl. fr. 2036 >") und welche ich A nenne,
zu gründe, und notiere die Varianten von zwei andern handschriften der kaiserlichen
bibliothek, nro. 24838 (alt St. Victor 620) => JB und nro. 187 (alt 6847) = C. (Auch
die handschriften 13315 und 13317 enthalten die predigten des Morice, doch sind
sie nach spräche und text zu vielfach abweichend, als dass sie hier zu den Varian-
ten herangezogen werden kdnten. Bei einer Untersuchung über die handschriftliche
Überlieferung der predigten müssen sie jedoch eingehend berücksichtigt werden). Dass
ich überhaupt varianteo mitteile, bedarf bei der sprachlichen Wichtigkeit des vorlie-
genden textes einer besonderen entschuldigung nicht, ausserdem ist auch B zur her-
stellung des textes von A mehrfach notwendig, auch G, eine handschrift des 14. Jahr-
hunderts, verdient berücksichtigung , obgleich sie vielfach fehlerhaft und wahrschein-
lich sogar , nach den zahlreichen misverständnissen zu urteilen , von einem des Fran-
zösischen wenig kundigen Schreiber abgeschrieben, der sich am ende j^fot^on* de Saint
Jathe , de son proprie nun Laurenz de la Roche nent. Die handschrift gehörte der
Bianca von Savoyen, wie eine inschrift auf dem schutzblatte zeigt: Iste Über est
illustris domme Blanche de Sabaudia. Über das Verhältnis der handschriften gibt der
apparat selbst auskunft
Ms. 13314 f. fr. Auf dem B° des 15. blattes (der codex ist nicht foliiert):
S[ermoJ| I p[rima] do[minica] LA
In B (auf fol. 18') keine Überschrift; in C: Secundum Matheum, La demence
qui Ven du septugexima. Fol. YII B^a.
Simile est regnum celorum hommi patrifamüias qui exüt primo mane condu-
cere operarios in vineam suam, Damedeus nos aparole* en Tevangile d'ui et si
nos demostrc par essanple' que, se nos volons faire le suen^ servise en terre, que
nos en aurons^ le loier molt grant el cieL^ Quar ce dist n[ostres] s[ires] d[eus]^
en Tevangile d'ui, qu'il se^ fu uns preudom" qui essi premierement par^ matin,
aloer'*^ ovrivrs en sa vingne. Et si com il ot fait son covenant d'un denier a cas-
cun," si les envoia^' en sa vingne. >* Autresi^^ fist il a üerce et a miedi et a
nous artikel über Moritz, Hitt. UU. XV, 157, wo auch zwei alte drucke des 16. Jahr-
hunderts angeführt werden. Hippeau gab in den Memoiren der aeademie zu Caen
(1856, p. 211) nach einem jungen und fehlerhaften manuscript eines herm Renault drei
predigten, für den ersten und zweiten sonntag nach ostem und für den himmclfahrtstag,
endlich gab Paul Meyer in seinem bericht über die Oxforder handschriften (Kevue des
missions 2. serie Y, p. 247) den 8&rmo in die eireumeisianis in der altenglischen Über-
setzung des ms. Land. Mise. 471 mit der französischen Übersetzung des ms. Douce 270.
Aus dem ms. A (13814), welches ich zu gründe lege, ist, so viel ich weiss, noch
nichts gedruckt; es verdient ganz veröffentlicht zu werden, einstweilen kann die oben
mitgeteilte predigt als probe der spräche und des textes dienen.
1) [D]ex Nostre sires si nos enseigne B Kostre sirez nos parole C 2) et —
essam^le fehlt in B si nos mostre par example: C 3) lo suen B suon C 4) auue-
rons C 5) le louier grant on ciel C (molt grant loier B) 6) deus fehlt B\ deus-
d'ui fehU C 7) fehU BC 8) preudon B prodons C 9) a un J? 10) et por
louier C 11) et quant il ot fait ses comandemenz a chaoun B\ Et quand il oit fait
covant a chasoun dax C 12) amene O . 18) noch por ourer B 14) essement B
ausi C.
216 BBAKELMJLNN
none.*ö Et quant il vint vers le ^^ vespre, si r'ala al marcie,»' s'i trova *» ovriers qui
eatoient uiseus,»^ et il disent: „Nus*^ ne trovames ** qui nos loast** ui." „Orales,"
dist li preudom, „en ma vingne et jo vos donrai co qui sera drois." Et eil (f. 15^)
alerent en la vigne al preudome ** ovrer auvec les autres.** Quant co ^^ vint au soir,
81 parla** li sires a son serjant et si dist.*' „Apele les ovriers et si lor rent lor***
loier, et comence a cels** qui vindrent daerrainement,'" etva jusqu'as premerains,«>
et si done a cascun un»« denier." Et il si fist.^^ Et quant 90 virent eil qui estoient
par matin venu, que eil qui estoient daarrainement*^* venu, avoient caseuns un
denier,^* lors si murmurerent ^^ entr'els et si disent:®' Nos avons^® tote jor traveil-
U6 en ta ^^ vigne, et avomes seffert (sie) le fais et le paine del caut ,*" et tu as ces
fais parels** a nos?" Lors** respondi li preudom a un de cels:*» „Amis,** jo ne
f ai fait nul** tort. Don ne venis tu a moi par le covent*® d'un denier? Tu as ton
covenant, si t'en va! Quar je vueil a cels autant doner,*' com a toi.*" Toi que
poise,*® se jo fas ma bonte?" Et com*« nostre sire ot contöe ceste essanple,** si
dist apres: ö* „Issi*® seront li daerrain premerain, et li premerain daarrain.** Molt
i a*s des apeles et poi i a des eslis."
Ore oies*« que co senefie: Li preudom senefie n^ostre] s[eigneur] d[ieu],*' la
vigne senefie le seroise Deu,*^^ les diverses hores senefient les divers tans de cest
siecle.58 Par matin loa*<* nostres s[ires] ovriers en sa vigne, quant il mist*' les
patriarches 6* al comencement de cest siecle en son servise, que par bone creance**
(f. 16') le servirent et disent le suen ensegnemens ®* a cels** a cui 11 Tavoient a dire.
Autresi^ö a tierce et a miedi et a none«' aloa il ovriers en sa vigne, quant il«« al
15) Nach tierce: Essement miidi. Car il aloi ices ouriers en conuenant a chacun
dun denier et si les enuia en sa uigne B 16) reuint uers \o B 17) en la place B
18) i retroua B et torna ouriez C 19) Mer fehlt: Si lor dist porquoi estes vos oiseus P
touto jor oisious C 20) nos 5 (7 21) noch oneor B 22) conduisistÄ 2^) fehlt B C
24) o. 0 les autres B avec les autrez ouriers C 25) fehlt B C 26) apcla B apcla . .
soun C 27) sc li comanda et dist B 28) les lor B 29) cos B 30) darrein B
darcre C 31) jusquau premier B et ains jusquaux prumerains C 32 son B 83) Et-
fist fehlt in B 34) au vespre B 35) que eil qui virent auoient chascun que un
denier C. Nach dieser stelle fehlt in A und C: Mais quant li sergenz uint a aus et il
nc dona a chascun que un denier B 36) sen murmurent C 37) et se li distrent B
38) naeh avons in C noch: des hui matin 39) trauilier en vos C 40) lo fes de la
poine et do chaut B; blos le chaut C 41) cels faiz pers B\ fait ceus paraus a nos C
42) Donques B Dout C 43) daus B daux C 44) et si dist amis B\ blos Amic C
45) mie C 46) Donc ne feis tu a moi covenant B 47) car se uoil a cos doncr si
come B\ car je uouel autant doner ad aux C 48) con a touz B 49) Et ce quo te
poisso B'j Que te doit peser C 50) quant BC 51) conte cest example B out dito
ceste samblauce C 52) si — apres feJ^lt in B 53) Ausi B C; Issi für ausi auch
regelmässig in dem Berliner Meraugisfragment (Ms. gall. 4^ 48), das stark burgundische
spuren. 54) dairien — dereain C 55) et saichiez que molt hia ... et poi hia B
56) [0]r oez, biau seignor B 67) li rodous sifle deus C 68) hiernach noch in C:
li ouriers ces qui le servont et son servise fönt. 59) senefient lo tens de cest siegle B
los diver^ oure^; senefient les divers chans dou secle C 60) aloia £ aoura C 61) car
11 i enuria B\ quant il au comencament dou monde C 62) noch premieremcnt B
63) scnefiance C 64) et distrent son comandement B 66) atoz cels B 66) Esse-
ment B\ Ausi C 67) au uespre B\ fehlt C 68) hiemach noch in B: quant il i
enuoia (el tens Moysen et Aaron et aus prophetes en son servisse).
ÜB. LE BESAHT DB BIEÜ BD. MABTIN 217
iens Moysi et Aaron et as autres prophetes mist maiiis buens homes en son servise
qui par grant amor le servirent, •• et fist le sun servise. Vers le vespre liva'*' deus
ovriers en sa vigne, quant 11 vers la fin del siecle prist car en la virgene Marie ,^^
et se demostra en cest monde.''' Lores^^ trova 11 gent qui tote^^ jor avoient este
uiseus, quar 11 trova les paiens qui lone tans*^ avoient este uiseus et fors de sa
creance et de s^amor et de son servise. II n'avoient mie est^^^^ uiseus d'aorer les
diables** et de faire les caraies*® et les diablies. Mais por 90 le dist Tescriture^'
qu'il avoient este uiseus , quil ne s'estoient de rien eutremis de Deu croire , ne de lui
amer ne de lui servir.^" Quar quanque on fait en cest siecle, desque on n'aime Deu ne
ne sert , tot est et tot doit estre conte a oiseuse et tot revient a nient. Lores blasma
nfostres] s[ires] les paiens ^^ par les aposteles que il avoient este uiseus« et qu'il
n'avoient rien entendu en son servise.^^ Lores ^^ respondirent 11 palen , que nus nes avoit
loes,®* c'est a dire qu'il n'avoient onques eü prophete ne apostele"* ne preceor,"* qui
lor mostrast,®' conment 11 deüscent croire nostre s[eigneur) ne servir. „Entres/*®*
fist se®* nostre sire, „en raa vigne (ce est'** en ma creance) faites mon servise,®*
et jo vos donrai vostre denier" (c'est la vie pardurable). ®* Li palen *s entrerent el
servise ^ Deu , et nos 1 entrames par baptesme '^ qui somes del lignage d'els , et par
baptesme arons le denier autresi com eil qui leverent matin et entrerent en la vigne,<^®
quar nos aureus la<^' vie pardurable autresi com 11 patriarche, 11 prophete, 11 apostele
et 11 buen home*® qui al comencement del siecle servirent Deu.** Et ausi com nos
vos avons dit des divers tens de cest siecle,*^" que Deus mist ovriers en sa vigne al
69) qui blen Ion servirent B aus autres pechlerz en son servise maint proudoroe
par grand amor se tinrent C 70) Envers lo uespre ausement aloia nostre sires B\ et
fircnt soun servise a uespre C 71) bloa quant 11 prist cbar en la gloriose ulrge marie B\
prist cbar et sanc en la uergon C 72) et dvmonstra el monde C 73) Adonqucs B\
donc C 74) toit jorz 75) par molt lonc tens B\ in C die ganze stelle abweichend:
et les paienz qui ne sofroient ne estoient entremis de lui scruir ne de lui croire. Quar
quant li ons fait en cest siecle qui ne uet dieu croire doit estrait a oiseuse, car tout
reulni a noiant, lors blama etc. 76) Et sai obiez que icil nanoient pas este B 77) lor
ydrcs B 78) faire lo servisse au deable B 79) £t por ce nos dit la sainte e. B
80) Car 11 ne creolent mie damedeu. Ne son servisse. Ne ses hueures 11 ne falsolent B
Der ganze folgende »atz fehU in B. 81) les apostres de ce qil avoient e. o. C 82) por
ce quil nauolcnt pas este en son servisse B\ cest a dire quil nauoint rions fait de son
servise C 83) "Ei B\ Et dont respondirent 11 C 84) que nus bom nes auoit onques
aloiez B 85) fehlt C 86) ne patriarcbe ne apostre ne preescbeor B 87) Noch
ne enseignast B\ qui lor mostrasent coment 11 deussent dieu servir C 88) Eurros C
S9) fehlt B C 90) Nach est noeh in B: Ce est a dire entrez 91) mes bueures et
m. s. B; fehlt in C 92) Statt der parentheee in C: come a ceux qui se loierent par
matin et entrerent en la uigne au prodome ; in B ist A nur ampUßeiert : ce est a dire la
gloriose u. p. 93) Cest 11 paiens C 94) en la uigne ce est el servisse B 95) et
si recurent 'lo salnt baptesme et nos i entrons ausement par baptesme B 96) Statt
qui — uigne in B: et nos aurons le denier, ausi come eil qui entrerent par matin en la
uigne B; in C: ausi com eil qui seruirent par matin et penerent dans la vigne G
97) gloriose eingeschoben B 98) et li apostre et 11 martyr et li confessor et ausi come
11 bon bome B; in C fehlt buen, sonst wie A 99) nostre selgnor B C 100) do siegle
B\ des ouvres caus dou secle C darnach noch-, ausi poons nos dire de laaige de lome C\
in B: Kostre sires met ouriers en sa vigne tot ausi poons nos dire dun cbascun home si ^
vos dural comant Car dex met ete.
218 BRAKELMANN
matin, quant il apele de tels en i a^^* en lor e[nfa]nGe en son senrise.*^' Li matms
senefie Taage de .XV. ans, u de vint u de mains,^"^ li miedis senefie Taage de .XXX.
ans n de .XL: quar ausi come li jor ^'^^ sont plus cant entor miedi, ensement Tumaine
nature est de greignor calor environ cest eage. Li vespres senefie la vieillece,*"*
c'est la fins de la vie.*<*« Damed[eu8] *<»' n[o8tres] 8[ires] met ovriers en sa vigne*"»
vers le vespre, quant il les pluisors en lor vieillece torne de pecie*"' a son servise,"**
et ausi come eil qui entrerent daarrainement en la vingne al preudome,**^ orent un
denier."* Autresi averont eil, qui el servise Den enterront (fol. 17') en lor viellece,
Ic denier: c'est la vie pardurable.'"^ Nequedent por 90, se la bontes Deu est si
grans,^^^ que il done autretant as uns com as autres, ne se doit nus aseürer,"* nV
targier de soi tomer a Den, quar 90 dist escriture: Nus ne set Tore ne le jor de sa
mort. Ore segnor,^^^ or aves oie le sanblance que Dens dist et la senefiance. Or
esgardös,^^^ se vos estes en la vigne Deu, c'est en son servise,*^" se vos haes i celes
coses que Dens het, et ames i celes coses '^^ que il aime et se vos laisiös 190 que il
deifent, et faites 90 que il comande: donques***» estes vos en la vingne Deu. Se
vos nel faites issi, si en estes hors, et se vos le faites issi,*^* si deserves le denier,
c'est la vie pardurable. Vos deserves i cel bien que eis ne vit,*** n'oreiUe ne puet
o'lr, ne cuers d'ome ne poroit^^^ penser: issi est grans icels biens que Dens estuie
a cels qui lui aiment.*** quod nohis et cetera.^*^
Die vergleichung mit Guillaumes Besamt zeigt, dass dor normannische dichter
die predigten des bischofs noch in weiterem umfange benutzt hat, als er selbst sagt,
denn die zweite senefiatice, die er anderswoher genommen haben will (vers 3075:
E uncor en autre Latin) , findet sich gleichfalls bei jenem ; ebenso finden sich an die
predigten in primae seamda, tertia dominica post penta^iost. Ms. 13314 fol. 41'— 44"^
(neunundneunzig schafe — reicher mann und armer Lazarus — hochzeitliches kleid)
N
101) de tex hia B; tex ia en laage de .V. ans. de .XX. ou de XXX. Car ausi
come le jor sunt plus chant au droit medi ete, C 102) a fere le suen servisse B
103) et cos met il a tierce eu sa uigne que il a atornez en son seruisse an laaige de
XX. ans B 104) Car tot ausint come li jorz est plus chauz environ Ion midi B
105) si nös senefie la uciUecc B la uelesce C 106) de lome C 107) fehlt B C
108) fehlt C 109) retome de lor peichi^ B de lor peciez C 110) ou il ont lon-
guement estc a faire Ion suen servisse B 111) com — preudome /?A/^ in B 118) aura
eil uie perdurable C 113) In B dieser eatz: et tot ausement auront il un denier comme
eil qui antrerent au bien matin aula uigne Kostre seignor Ce est adire quil auront la
vie perdurable et dex la nos otroit 114) In B nur: par ceste bont^; in C: mala
nequant por ce que dieus est de sigrant bonnte que donne as unz et aux autrez 115) at
argier de tomer a lui C; quar — mort fehlt in diesem ms. In B: aseurer ne tarder
ne soi atendre de soi torner a nostre seignor. Car si come la sainte escriture lou nos
raconte Nuns ne set ete. 116) Ores biau seignor et beles dames vos avez oie la sainte.
euangilc et la senefiance B. Seignor or auez oi laxample de leuangile dui et la sini-
fience C. 117) Or vos prenez garde B. Oardex que vos soies tel en la vigne dieu C
118) noch in B: et es hueures Nostre seignor et se vos haez ces oboses quo il het B
119) ce que il jS ce quil amera C 120) adonc poez vos bien dire que vos estes B
121) Ce vos nel, — issi fehlt in B C. Dann in B: et que vos deseruei in C: et des.
122) Ce est li granz biens que hiauz ne vit ne oroille noi B itel bien que oreiUe noit ne
jox ne vit 123) no pot B ne pout C 124) que dex estoie a cos qui de bon euer
laimcnt et croient et seruent B 125) quod N. p. di. qui vi. et r. p. o. s. s. amen B
Quod nobis et uobis C.
Ob. lb besamt db dibu ed. biabtin 219
starke reminiscenzen bei Guillaume an den betreifenden stellen » auch die drei letzten
predigten der samlung (Tom nnkraut zwischen gutem samen — vom vergrabenen
besant — - von den törichten Jungfrauen), namentlich die ersteren beiden, hat er benutzt.
Man kann sagen, dass namentlich für den letzten (auch im hestiaire teilweise repro-
duderten) teil seines gedichts (vv. 2608 — 3758) die predigten des bischofs seine
hauptquelle gewesen
Der dritte abschnitt der einleitung behandelt die übrigen werke des dichters,
das fabliau von dem quiproquo, welches einem üppigen priester gespielt wird, den
roman von Fregus,^ welchen Martin neu herauszugeben beabsichtigt, und den hestiaire,
der wegen seines nahen Verhältnisses zum Besant besonders eingehend besprochen
wird. Bei der aufzählung der zwölf bis jetzt bekanten handschriften sind Martin,
wie übrigens allen, die sich vor ihm damit beschäftigt, zwei handschriften der Pari-
ser kaiserlichen bibliothek entgangen, nämlich (um in seiner Zählung fortzufahren):
n) Ms. f. fr. 2168, früher 799a 2. perg. gross 8" XUI. jahrh. 2 spalten zu
37 Zeilen; fol. 188^^: Chi commenche li drois bestiaires de le devine escriptwre bis
fol. 209 "". Der schluss fehlt, widmung wie gleichnisse, und das gedieht endet ziem-
lich brüsk nach: D^une piere qui est en oriant mit dem passus: Orprtons dieu bis
chascuns en die, der auch in ab fh der widmung vorangeht, während z. b. c, wo
auch die piere en oriant an letzter stelle steht, einen anderen schluss hat.
0) Ms. f. fr. 25406 früher Notre-Dame 192. perg. XUI. jahrh. 8°. 2 spal-
ten zu 33 Zeilen. Platz für miniaturen leer gelassen. Vom besiiaire, der die erste
hälfte der haudschrift ausfüllt, fehlt das erste blatt, er reicht bis fol. 80 '^ und schliesst,
wie in n, ohne die schlusswidmung zu haben, mit dem oben angegebenen passus,
doch handelt die letzte rubrik, abweichend von n und mehreren anderen handschrif-
ten , von der chievre. Auch die Stellung der gleichnisse vom besant und den ovriers
en la tngne, die sich in dieser handschrift finden, ist abweichend, sie stehen hier
17 rubriken vor dem ende , also noch in der ersten hälfte des gedichts. Ich habe
überhaupt bemerkt^ dass sowol die zahl wie die folge der rubriken in den verschie-
denen handschriften sehr verschieden ist.
Die handschrift l, früher im besitz von Sir Francis Douce , deren nunmier in der
Bodl. libr. Martin nicht nachweisen konte , ist jetzt nro. 182 des Fonds Douce. Auch
hier stehen, wie in den meisten handschriften, die fabeln der Marie de France mit
dem hestiaire unmittelbar zusammen, ausserdem enthält die handschrift noch die
geste von Hom und das Chasteau d'afnour von Grosseteste. Die handschrift schliesst,
nach der angäbe des Catalogtie of the printed books and manitscripts beqveathed by
Francis Douce Esqu, to the Bodl. library. (Oxford 1840) p. 21 mit den versen:
Ou ü ad enfem despoillie || E canfondu e eissülie, — Die interessante einleitung,
die schlusswidmung, sowie noch eine andere stelle , aus der die abfassungszeit ersicht-
lich, teilt Martin nach der handschrift des British Museum mit; er hat übersehen, dass
1) Es existiert davon , wie ich aus der einleitung zu Hippeaus bei inconnu XXV ff.
ersehe, eine zweite handschrift in der bibliothek des herzogs von Anmale zu Twicken-
ham. Hippeau hat daraus, ausser dem erwähnten gedieht des Renaus de Beauju, später
noch die Vengeanee de Ragttidel von Raoul de Houdenc herausgegeben, es enthält auch
das gedieht Li atre» periUous , welches Schirmer nach der vermeintlich einzigen hand-
schrift 2168 der Pariser kaiserlichen bibliothek in Herrigs archiv 42, 135 — 212 heraus-
gegeben und das sich in einer dritten guten handschrift auf derselben bibliothek befindet
(Fonds fr. 1433 , alt 7526/3).
220 BBAKELMANN
Thomas Wright dieselben stellen des anfangs und Schlusses bereits aus derselben
handschrift herausgegeben hat (Biogr, hrit. lütl, 428 — 430). Dieser druck scheint
sogar mehrfach correcter als die Scottsche abschrift, wenn auch mehrere kleinigkeiten
bei Martin wol nur druckfehler sind , wie Boman/nz für Bomawnz, powre für povre,
tuit für tint. Wright hat übrigens am augeführten orte auch alle historischen stellen
aus dem Besant ausgezogen und abgedruckt.
Das Verhältnis des Besant zum Bestiaire wird im weiteren verfolg dieses
abschnittes bei Martin eingehend nachgewiesen und die Übereinstimmung durch Inter-
polation des letzteren aus dem ersteren erklärt. Darin scheint allerdings diese Über-
einstimmung ihre richtige erklärung zu finden. Die betreffenden stücke des Besant
finden sich in den handschriften des Bestiaire nicht allein ap ganz verschiedenen
stellen, sondern auch so äusserlich in den Zusammenhang eingeflickt, dass eine Inter-
polation unschwer ersichtlich. Einzelne handschriften , namentlich die oben angezeigte
Fonds fr. 25406 , scheinen mir sogar für diese stücke dem Besant noch näher zu ste-
hen, als die vom herausgeber zur kritik desselben herangezogene (welche ist dies
übrigens ?).
Der herausgeber bespricht weiter das in derselben handschrift erhaltene gedieht
des treiz moz, das er mit recht gegen de la Rue und andere unserem dichter zu-
schreibt, welcher an mehreren stellen auf ein anderes büchlein von ihm hinweist, das
offenbar der Besant ist. Martin weist auch als den auftraggeber Guillaumes für dies
gedieht mit Sicherheit den Alexander de Stavenby nach , während de la Rue (II, 274)
und nach ihm Wright {Biogr, hrit. litt. 1 , 333) denselben in dem 1147 gestorbenen
Alexander, bischof von Lincoln erblicken weiten. Auch das gedieht von der gehurt
Christi wird unserem dichter mit grosser Wahrscheinlichkeit beigelegt. Das leben der
Magdalena mag der Schreiber dem Guillaume haben beilegen wollen wie die a^somp-
tion (s. 0.) ; das (von Martin nicht erwähnte) fabliau La fUle a la borgoise, von dem
De la Rue spricht, soll nach Wrights Vermutung und Daunous behauptung (Hist
litt. XIX, 664) mit dem vom Prestre und Alison identisch sein. Der titel scheint
darauf hinzudeuten, die Wahrheit der behauptung habe ich jedoch nicht feststellen
können, da in keiner der mir bekanten fabliauxhandschriften das fabliau du prestre
et W Alison, das ich überhaupt nur in der einzigen handschrift 19152 (fol. 49 d)
kenne , unter dem ersterwähnten titel sich findet. Für verschiedene andere dem Guil-
laume beigelegte gedichte weist der herausgeber die Vermutung seiner autorschaft als
unbegründet zurück.
Der vierte und letzte abschnitt der einleitung behandelt das leben und den
character unseres dichters. Alle andeutungen in seinen werken, welche über sein
leben auskunft geben können, sind mit Sorgfalt und genauigkeit zusammengestellt, •—
sie sind, wie das bei den dichtem des 12. und 13. Jahrhunderts die regel, ziemlich
dürftig. Für die Charakteristik bot sich ein reicherer stoff, namentlich in den mora-
lisch - didactischen gedichten. Auch sonst tritt die subjectivität des dichters, der
seine sympathieen und personlichen meinungen bei passender gelegenheit auszuspre-
chen liebte, deutlich genug hervor.^ Die daran angeschlossene kritik der poetischen
1) Eine umstimmung des dichters der Croiaade eontre Ua Albigeoisy auf welche
gelegentlich (p. XLY) hingewiesen wird , kann wol nicht angenommen werden. Die bei-
den teile des gcdichts rühren von verschiedenen Verfassern her, wie Paul Mejer überscu-
gend nachgewiesen (vgl. dessen Eeeherche» sur let auteurs de la ehanson de la eroiaade.
Paris, 1865).
ÜB. LE BESAHT DB DIEÜ ED. MARTIN 221
bedeutnng Gtüllaumes erscheint als durchaus zutreffend. Der ganze abschnitt verrät
eine sorgfältige durcharbeitung der werke des dichter s, welche das füllwerk wolfeiler
hypothesen verschmäht, mit welchen gewisse bearbeiter der französischen litteratur-
geschichte des mittelalters uns in ermangelung positiver nachrichten abfinden wollen.
Es erübrigt, vom texte äesBesant, beziehungsweise, da derselbe nach der ein-
zigen handschrift nur mit einzelnen bestimten änderungen gegeben ist, von dersel-
ben zu reden. Der herausgeber hat die principien, die ihm bei der behandlung des
textes maassgebend waren, in der einleitung p. VII — IX auseinandergesetzt. Es
folgt da zunächst der beschreibung der handschrift eine liste der eigentümlichkeiten
ihrer Orthographie. Das tertium comparaiionis ist mir dabei nicht ersichtlich: es
scheint nicht das heutige Französisch zu sein , da dies doch nicht formen wie dou-
QWy ancesorie, mouteplier kent. Das gleichzeitige Französisch der Isle- de -France
kann es ebensowenig sein , da das weder die form veul , noch peu , noch örgeul hat,
welche Martin als regelmässige hinstellt, andererseits horCy ovrer, jor, deu u. a. m.,
die er als der handschrift eigentümlich characterisiert ,• gute centralfranzösische for-
men aus dem anfange des 13. Jahrhunderts wären , während im gegenteil die diph-
thongierten: hewre, jour usw. einer weit späteren epoche angehören. Die von Martin
verzeichneten eigentümlichkeiten gehören zum grösseren teil, wie er sagt, ganz all-
gemein dem normannischen dialecte an, zu einem andern teil der ganzen domäne
des altfranzösischen , endlich zu einem dritten , nicht geringen teil den Schreibern,
die sehr nachlässig waren und sich für die spräche des dichters offenbar vielfache
änderungen erlaubten. Dahin gehören z. b. gleich mesmes (im reim mit primes), wo
nicht s eingeschoben, sondern t weggelassen ist, auch glaube ich nicht, dass die
cndung um der ersten pluralis als der ausspräche des dichters unangemessen erwie-
sen wird durch den reim feon : veon, sondern dass man fetm : veum lesen muss.
Warum sollen überhaupt nachlässige Schreiber den reim mit religiöser Sorgfalt con-
serviert haben?
Eine liste der eigentümlichkeiten der handschrift war allerdings angezeigt,
doch würde ich dabei von einem anderen princip ausgegangen sein. Statt zu ver-
zeichnen , was allgemein normannisch , hätte ich vorgezogen , zusammenzustellen , was
nicht allgemein normannisch; dessen ist leider sehr viel in der handschrift. — Der
normannische dialect, in dem Guillaume sicherlich geschrieben, ist uns in einer
menge grammaticalisch sorgfältiger denkmäler erhalten, von denen ein grosser teil
veröffentlicht ist; die constanten characteristischen eigentümlichkeiten des normanni-
schen dialectes , die sich bis zur neige des 13. Jahrhunderts mit grosser dauerbarkeit
erhalten, sind daher ohne mühe aus gedruckten hilfsmitteln , die im bereiche aller,
zu erkennen und festzustellen, soweit dies noch nicht bereits geschehen. Das tertium
comparationis war damit gegeben: die vielfach entnormannisierten sprachformen des
Besant — ob sie nun ein werk der letzten, dem vierzehnten Jahrhundert angehöri-
gen Schreiber sind, welche die vorliegende einzige handschrift ausgeführt, oder bereits
von früheren copisten herrühren — konten damit verglichen, und eine grosse zahl
von formen des einzigen besantmanuscripts als entweder nicht dem dialect, oder
auch nicht einmal der zeit Guillaumes angehörig ausgemerzt werden. Da zeit und
dialect des dichters feststehen, und auch die reime — freilich in einem sprachlich so
verfälschten texte mit grosser vorsieht — als kritisches hilfsmittel herangezogen wer-
den konten, so war damit ein weg gegeben, in vielen fällen die sprachliche form
Guillaumes widerherzustellen, und ~ wenn auch der text selbst, als in einer editio
princeps genau die handschrift reproducierte — wenigstens in der einleitung anzu-
222 BEAKELMAKK
geben , wie und auf welchen basen seine kritische widerherstellung zu bewerkstelligen
sein dürfte. Eine solche nachweisung der sprachlichen eigentümlichkeiten der band-
Schrift wäre gewis von wesentlichem nutzen gewesen.
In der tat, wenn wir in einem gedichte aus dem anfange des 13. Jahrhun-
derts neben einander, mit der grösten inconsequenz , acht«, alt normannische for-
men, wie sie öuillaume offenbar gebraucht haben muss, neben solchen finden, die
allen anderen dialecten Frankreichs, mit ausnähme des normannischen, teilweise
sogar erst dem ausgange des 13. Jahrhunderts oder dem 14. angehören, so können
wir kaum annehmen, dass eine solche dialect- und epochenmengerci das werk des
dichters selbst gewesen, wir müssen sie notwendiger weise als den fimts später und
nicht normannischer copisten ansehen. Wenn wir zumal, wie im vorliegenden falle,
bei anderen von denselben Schreibern abgeschriebenen stücken, die noch in anderen
handschriften erhalten sind, durch vergleichung mit diesen eine grosse incorrectheit und
nachlässigkeit ihrer abschrift constatieren können,^ so sind wir um so mehr berech-
tigt, im Besant, obgleich wir hier keine zweite handschriffc zu hilfe ziehen können,
eine grössere Sorgfalt ihrerseits a priori durchaus nicht vorauszusetzen.
Wir werden z. b. namentlich annelmien dürfen, dass alle die zahlreichen for-
men in or, welche sich vorzugsweise in der zweiten hälfte des gedichts finden (wäh-
rend die erstere das normannische ur weit sorgfältiger bewahrt) änderungen der
Schreiber darstellen. So namentlich lor 1155, 2808, 2830, 2888 und a. a. o. , neben
lur 145, 194, 706, 855, 1788 usw.; por 205, 419 neben pur 44, 344, 3701; das
doppelt falsche plusors 584, 1103, 1310, 1320, 1327 und das 2yl^sor 851 neben plu-
sur 22; dolore 231, jors 246 neben dolur 129, 224, 229, 245, 1208, 1523, jurs
250, 334, 372, 426, 472, 528, 852, flm 907, creatur : entur 567 : 68 usw. Der
reim lehrt als falsch erkennen plor gereimt mit dolur 743 : 44, sah^eor mit dolur
129 : 30, dote mit tute 275 : 76, darnach auch dot 592, salveor 130, 1300, 1584,
2410. Verglichen mit pereillus 268, dolorus 708, joius : vtts 1035 : 1036, leprus
141 , VU8 : glorius 2145 : 46 sind für die spräche des Guillaume falsch , auf der einen
Seite alle die zahlreichen formen perillos 3255, doloros 694, 401^ 410, pitos 745,
3527 usw., femer die feminina tenebrose 135, 3166, joiose (mit s'espose gereimt)
2085 : 86 usw. oder gar diphthongierungen wie preciouse 186, dolorouse 323, tene-
brouae 324, delitouses 1341, die adverbien wie hidosement 329 — auf der anderen
Seite V08 und nos in allen den zahlreichen fällen , wo es nicht Possessivpronomen ist.
Ebenso steht soUment 173, 1511, 2853 neben sulement 2035 ^ 2915 und ml 334,
2912, 3262. Bulz habe ich nur einmal (709) gefunden, dennoch halte ich für nicht
1) Die ganze liandschrift rübrt von mindestens drei Schreibern her, im Betant
selbst sind zwei verschiedene bände deutlich unterscheidbar. Es ist einiger grund vor-
handen, anzunehmen, dass die Schreiber derselben klosterschulo angehörten und sich im
abschreiben ihrer vorläge (die wol auch ein religiöser sammelcodex mit vorzugsweiser
berücksichtigang der Guillaume zugeschriebenen werke wie das allein erhaltene ms. 19525)
ablösten. Ein solcher fall wäre durchaus nicht vereinzelt, und ist namentlich in sam-
melhandschriflen religiös - didaotischer werke, heiligenleben usw., deren Vervielfältigung
vorzugsweise klösterlichen abschreiben! anheimfiel, mehrfach nachzuweisen. Die Schreiber
pflegten gewöhnlich ihr werk bis zum ende eines quatemio fortzufahren, nicht in der
mitte abzubrechen; so begint in unserer handschrift die zweite band unmittelbar nach
dem 10. quatemio, die dritte fangt unmittelbar nach dem 15. an, während die zweite
ein quatemio weiter wider eintritt (jedoch erst nach abschluss eines gfedichtes von dem
noch ein kleiner rest blieb und nach freilassung eines blattos).
ÜB. LE BB8AN9 DB DUEU BD. MABTIN 223
der spräche Goillaumes angehörig dolz (in zahLreichen föllen wie 745, 1300, 2206,
3088), dolce 3350, dolcement 2786, 2798, 3472 a. ö. a. ebenso wie ducor 3559. Ebenso
halte ich für falsch (für die Schreibart des Goillaume) mouieplier 2745 oder gar mou-
tepleier 2749 für multeplierf das z. b. 2729 steht, die zahlreichen fölle wo on für das
normannische un oder um geschrieben ist , wie jptt'son : chaitiveaon 2593 : 94, scUveicion
G16, 669^ 2796, aavo» 56, awm 3175, istron 3171, deusom 52, neben felun 13, 481^
savum 49, 53 u. a. m. Den Sprachgebrauch > Guillaomes glanbe ich auch erhalten in
sumes 3175, 3194, 401, nicht in sames 1301. Richtig erhalten und für den Sprachge-
brauch Guillaumes beweisend sind auch die formen : tumbel 247, ttmbe 3243 , perfunde
3598, habunde 3713^ curt 592, Tunt 22, 792, encmUre 389, cumpaignie 322, etm-
trtfaiz 131 1 , cutisei/ 7 12 ; das alles sind Normannismen , die in jedem einzelnen falle
den nicht normannischen formen in o vorgezogen werden müssen , wo änderungen der
Schreiber solche in den tezt gebracht, ebenso wie die abkürzungen für muH, pur,
cu/n nicht molt (oder gar motiU 332) por, con aufzulösen sind.
Im anschluss an eine solche liste von sprachformen des Besant, die dem nor-
mannischen dialect nicht angehören, konten einige andere sprachlich interessante
details verzeichnet werden, z. b. das femininum tele 2301, 2304 u. o. , licUe 2209,
mit bezug auf die von Littr^ und nach ihm von Brächet mit so grosser allgemein-
heit ausgesprochene regel vom femininum der adjectiva zweier endungen im lateini-
schen, die freilich nicht mehr umgcstossen zu werden braucht; femer das alte cUt
2110, 2556 neben vait 420, 513, 516, 527, 876, 917, 1142, 1971 u. ö. a.
In diesem zusammenhange liegt auch die frage nahe , wie sich der dichter zu
der regel vom casusabzeichen gestellt habe. Der herausgeber hat sich darüber ent-
halten: die beantwortung dieser frage hat auch ihre ganz besonderen Schwierigkeiten, da
die handschrift nicht allein im reime, sondern auch im innem des verses sehr oft
das regime für das sujet braucht Von dem werte salvere habe ich nur einmal das
sujet gefunden (2127), sonst wird dafür stets, im verse wie im reime, le salveor
gebraucht Mit anderen Wörtern ist es ähnlich ; die gröste inconsequenz ist regel. —
Angesichts dieser regelmässigkeit in der Unregelmässigkeit, der enormen incorrect-
heit, die nahezu alle stücke unserer handschrift verunziert, sogar die prosaischen
(ich habe oben einige beispiele gegeben) darf man schon a priori starke zweifei dage-
gen haben, dass alle die offenbaren Sprachfehler sowol in den anderen stücken von
den betreffenden dichtem, als im Besant von Guillaume herrühren sollten, dass
nahezu alle Verfasser der in diese samlung aufgenommenen religiösen gedichte und
prosastücke ganz ausnahmsweise incorrect geschrieben hätten. Da ich nun aber eine
anzahl von solchen in unserer handschrift nach spräche und text sehr fehlerhaft über-
lieferten stücken in anderen handschriffcen nachgewiesen habe^ wo sie durchweg
sowol dialectisch reiner erhalten sind, als auch sprachlich einen sehr viel correcteren
tezt aufweisen, so glaube ich eine gleiche Verfälschung, wie ich sie oben für die
spräche des Besant wahrscheinlich zu machen gesucht habe, auch für den text mit
voller berechtigung annehmen zu dürfen.
1) Ich brauche dies wort in diesen au&ählungen darchgehends in allgemeinerem
sinne für schreibgebrauch, weil ich hier durchaus nicht untersuchen will oder zu unter-
suchen habe, ob letzterer von der ausspräche in einzelnen fallen verschieden; die (rage
der ausspräche lässt sich nicht so nebenher bebandeln , es ist für dieselbe noch viel oder
alles zu tun. Hoffentlich bringt Gaston Paris bald seine wertvollen Untersuchungen darüber
an die öffentlichkeit.
224 BRAKKTiMANN
Wenn eine durchgehende sprachliche Verfälschung des yorliegenden Besanttex-
tes ans den angeftShrten gründen höchst wahrscheinlich ist, so geht es doch nicht an,
denselben in allen fallen zu corrigieren, es gibt deren, wo maass und reim den fal-
schen casus erfordern (wie in den meisten altfranzösischen gedichten). Wie viele von
diesen fällen wirklich auf rechnung des dichters kommen^ lässt sich bei der einzigen
handschrift nicht entscheiden; ich glaube, dass sich noch ein guter teil berichtigen
Hesse, wenn wir ältere und bessere texte besässen. Wenn wir aber auch annehmen
wollten , dass öuillaume so sehr wenig anstand genommen , dem reime und dem vers-
maasse zu liebe der grammatik auch da, wo es sich leicht vermeiden liess, gewalt
anzutun, so wären wir darum noch keineswegs berechtigt, anzunehmen, dass er auch
da, wo solche rücksichten nicht obwalteten, die sprachlichen regeln vernachlässigt
habe, die wir in allen guten handschriften von werken, die seiner zeit angehören,
ziemlich durchgehends beobachtet finden.
Um auf besondere fälle des vorliegenden Besanttextes einzugehen ,8o glaube
ich, dass der herausgeber mindestens berechtigt war, da den richtigen casus wider
herzustellen, wo der vers es erforderte. So z. b. v. 2162, wo die handschrift liest:
Or quide Vorne bien espleiter. Der vers ist um eine silbe zu lang, und der heraus-
geber streicht, um das richtige maass zu bekommen, das 2, welches eigentlich nötig
ist. Ich würde hier die änderung Voms unbedingt vorziehen. Ebenso v. 1736, wo die
handschrift liest : E qom loist de quier fin. Es fehlt eine silbe , der herausgeber bes-
sert: E qu'ome oist (wobei das e natürlich nicht elidiert werden soll). Ich würde
lesen: Et que Voms oist. — Auch in 421, einem verse, der um eine silbe zu
kurz ist , würde ich li anciens setzen. Wenn man enemis nicht zulassen will (obgleich
Guillaume für das äuge durchaus nicht genau genug reimt; dass der reim is :i (ü)
befremden könte, der sogar lyrikem aus der besten zeit genügen muss), so kann
das Casusabzeichen des im reim befindlichen substantives wol wegfallen. Ich würde
auch 1513 ändern: Li didblcs out grant envie, 1261 Dont homs se deit en orgoillir
(vgl. 1481) u. a. m. In solchen fällen l^atte die herstellung des casusabzeichens wol
ihre berechtigung. Ich würde es noch in sehr vielen anderen fällen widerhergestellt
haben, namentlich wenn innerhalb des verses artikel und adjectiv, nicht aber das
zugehörige Substantiv das nominativabzeichen hat. Ich begreife aber sehr wol, dass
man in der ersten ausgäbe einer einzigen handschrift bedenken tragen kann, in die-
ser hinsieht durchgreifend zu bessern, zumal die ansichten Über die grammatische
regelmässigkeit in poetischen stücken, insbesondere über den grad, bis zu welchem
sie dem reim und versmaass zum opfer fallen durfte , noch in der schwebe sind. Doch
sollte man sich; wie Mussafia treffend sagt, aus furcht vor Willkür der willkür eines
Schreibers nicht unterwerfen (6rert/kima, 1865, 115). Namentlich mit texten, die
in einem solchen grade, wie der des Besant (und der meisten anderen stücke der hand-
schrift 19525) verunstaltet sind, können wir uns wol nicht begnügen.
In einer gewissen hinsieht hat die nachlässigkeit des copisten, resp. eine zu
grosse ehrfurcht vor der tradition , die vom herausgeber an unserem texte geübte kri-
tik beeinflusst, nämlich in bezug auf die behandlung des elidierten e Gaston Paris
hat in seiner eingehenden kritik des Besant {Revue a^tique , 1869 uro. 30 p. 59) die
bedenken, welche der Zulassung einer elision des weiblichen e nach bedürfnis und
belieben des dichters entgegenstehen, in vortrefflicher weise ins licht gestellt, es ist
also überflüssig , darauf zurückzukommen , da ich mich seinen ausführungen vollkom-
men anschliesse und sogar, in gewisser beziehung noch weiter gehend als er, wenig-
stens für die lyrische poesie unbedingt behaupten möchte, dass überall da eine text-
yerderbnis vorliegt, wo eine nidit- elision zur richtigen länge des verses erforderlich
6b. LS BB8AKT DB DtBO BD. ICABTIK 225
wäre. Ich möchte hier nur einen besonderen fall von elision des e betonen, nämlich
in gue und se. Jedermann, der altfranzösische gedichte in mehreren copien nach
handschriften namentlich des aasgehenden 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts
verglichen hat , weiss, wie geläufig den Schreibern die auseinanderrenkung der durch
die elision eines e vereinigten wörtchen que und üy ae und ü und ähnlicher ist, um
einen vers, der um eine silbe zu kurz ist, auf das richtige maass zu bringen. Die
Schreiber des Beaant haben von diesem bequemen mittel, verse zu vervollständigen, die in
ihrer vorläge durch die nachlässigkeit eines ihrer Vorgänger (in einzelnen fallen viel-
leicht auch des dichters , das lässt sich nicht entscheiden) das maass nicht hatten , in
ausgiebigster weise gebrauch gemacht Der herausgeber hat daraus für sich die
bcrechtigung hergeleitet, in gleicher weise überall durch trennung von qu'ü und s'tl
das maass herzustellen, wo der vers um einen fuss zu kurz ist. Wirklich kritische
ausgaben der chansons de geate müssen erst zeigen, ob diese trennungen im heroischen
verse zulässig sind; für die achtsilbner und andere kürzere maasse Ute ich sie,
wenigstens was den strengeren Sprachgebrauch der lyrischen dichter angeht, im all-
gemeinen für unzulässig, und glaube, dass an den meisten stellen, wo eine solche
trennung vorkomt, eine leichte besserung dieselbe überflüssig machen kann. Was
speciel den Beaant anbetriilt, so glaube ich, dass auch hier an manchen stellen, wo
Martin gegen die handschrift die durch elision eines e vereinigten werte getrent hat,
um das richtige maass zu bekommen , dem verse auf eine andere art geholfen werden
konnte. Ich notiere eine anzahl solcher stellen : 242 L. Qü'ele en pert. — 245 L.
SHl fuat au pariaair vgl. 235, 12%. — 249 L. S'il le aeüat. — 262 L. Äinz qu'ü
bien aache, — 265 L. QuHl deit e aler e parier vgl. 717, 734. — 290 L. Deaqu'ü en
avera ^ bleamie. — 390 L. Ä icel jar qu'ü vendra dire. — 416 : 17 L. SHl veeit celm
ena el via : Qu^ü a'en enragereit tut via, — 800 L. Maia qu'ü i aü (im vorhergehen-
den verse würde ich lesen: qu'en aü perdu), — 1124 Toblers t statt ü ist sehr gut,
warum aber nicht % einschieben und aHl i a lesen? — 1128 L. E a^ü ja puet. —
1134 L. Et a none du quHl eat nuü. — 2411 L. S'ü pardonereü. — 2442 L. E jeo
vei qu'ü ont vgl. 2456. — 2929 L. Cela quHl trava tot maintenant (Best Ms. 25406 f.
15^) 3379 L. En porcherie peatre pora.
In allen diesen fällen (mit ausnähme von 416, vro ae ü steht) hat das manu-
script die elision, die mit den angedeuteten leichten Veränderungen beibehalten wer-
den konnte. In einigen anderen fällen scheint die herstellung , auch gegen das manu-
script angezeigt , z. b. v. 354 Ä lur cora que eua reprendront , wo ich qu^elea {lea
almea) lesen würde. — 408 L. Qu'ania ü Iw fu. — 1021 L. Si qu'ü hien. —
1154 L. QuHl ont ci eu (vgl. 3107). — 1297 L. Qu qu'enaeveU ne jeo fui. — 1453 L.
Qu'ü a Deu face. — 1480 L. Por la grant biauti qu'ü aveit — 1666 L. La chaatei
qu'ü tant ama. — 2116 L. AI höre qu'ü tat fora del onde. — 2132 L. Qu'ü teit
devenu Deu baatart. — 2152 L. Mea dea qu'ü en velt revenir, — An sonstigen bes-
scrungen würde ich etwa noch vorschlagen 215 Quanqu'ä deaez le firmament. —
284 De ceo que eil, — 364 Qu'oma ne ne penae e qu'ü ne veiUe. — 481 würde ich
aus dem reime averaairea lesen , ebenso 1099 doaire und demgemäss auch gloire 943,
1965. Dem Schreiber ist diese etymologische Umstellung geläufig, er schreibt auch
patrimowie, — 554 derverie. — 1058 qui. — 1338 gemcUea, — 1435 S'or vua avez, —
1437 Quela. — 1865 pacience ebenso zu corrigieren wie 1529 acience. — 1935 A en
1) Hier und an anderen stellen (12, 607, 3102, 3188, 1805) schreibt der heraus-
geber avroy ebenso 682, 687 avrant, 3699 avron, aber 2896 und 2901 auront, 416 aureü,
2000 anrex, 3064 aurai. Wie soll geschrieben werden?
ZBITSOHR. F. DEUTSCHS PHILOL. BD. III. 15
226 BRAKBLMANN, ÜB. LE BBSAKT DB DIEU ED. MARTIN
ferir quangu'ele ataint, — 2443 L. Entr^eU. — 2832 QfAe plus il rCont estS entor, —
2934 tneisme. - 3009 cl&ix (Best.) — 3028 Be lequel, — 3079 : 80 Best. : Que U
monz avait duri pluz : Quant dieus avint en tere Jim. — 3102 (Best.) : Mais ü aura
tot U denier : Tont par est Deus larges et dolz. — 3136 (Best.): Tel en est mort
pidz hm matin. — 3149 sorpris (Best.). — 3150 En Deu creient (Best.). — 3228 : 29
De que q}/Cü ot ou quHl veeü : Ou que quHl pense <m quHl desire. — 3236 Qu'il
n'en i ait. — 3237 Ne ja sa jene. -—
In einem punkte bin ich einer wesentlich anderen ansieht als der heransgeber,
nämlich in bezug auf sein System, keine accente^ tr^mas, c^dillen usw. zu setzen,
ein System ; das bei einigen neueren deutschen herausgebem wider in aufnähme
gekommen ist, nachdem es eine Zeitlang verlassen war. Wenn diese zeichen nicht
gebraucht werden sollen, weil sie nicht in der handschrift sind, so mache man
folgerichtig auch keine t zu j, u zu v, man interpungiere nicht, man setze vor allem
keine apostr^he ~ man mache mit einem worte diplomatische ausgaben. Will man
aber das Verständnis wirklich erleichtem, so ist dazu und zur richtigen lesung der
verse das tr^ma, das z. b. chaüt von chaut unterscheidet, sehr oft viel nötiger, als
die Umänderung von u m v, oder gar die setzung der apostrophe. Diese vollstän-
dige enthaltung ist der entgegengesetzte cxoess von dem, in welchen einige franzö-
sische herausgeber verfallen sind^ die lesezeichen, namentlich die accente^ in unend-
licher abenteuerlicher varietat zu setzen. Dieser häufung gegenüber war enthaltsam-
keit geboten, aber es scheint mir noch innerhalb der grenzen dieser enthaltsamkeit
zu liegen, zwei getrennt ausgesprochene vocale von einem diphthong, ein betontes e
von einem unbetonten zu unterscheiden, ebenso zwei gänzlich verschiedene laute wie
c und g zu trennen. In bezug auf die accente scheint mir der enthaltsamkeit volle
genüge geschehen , wenn man dieselben auf die bezeichnung der betonung beschränkt
und von der bezeichnung der ausspräche ganz absieht, also nur den aigu, nicht den
grave verwendet. Aber innerhalb dieser grenzen scheint mir die Setzung der lese-
zeichen erforderlich.
In bezug auf die genauigkeit der reproduction gebührt der vorliegenden aus-
gäbe alles lob. Ich habe zeile für zeile mit der handschrift verglichen und nur einige
kleine ungenauigkeiten bemerkt, die wol gröstenteils druckfehler sind. So steht 126
im manuscript muU (ausgeschrieben), 232 mVt, das auch nwU aufzulösen, 215 quanqe,
1224 eovendrait, 1566 damnedeus , 2611 raimSy 2844 (var.) hat das manuscript
quauios, 2847 damnede. Dass ein so stark verderbter text, auch wenn man von tie-
fer eingreifenden änderungen in sprachlicher und grammatischer hinsieht abstand
nahm, vielfacher besserungen bedurfte, um nur einigermaassen lesbar zu werden, ist
erklärlich; Martin hat ihn vielfach mit sicherem blick und leichter band emendiert,
Tobler eine ganze reihe von scharf sinnigen und von umfassender lecture zeugenden
änderungsvorschlägen hinzugefügt. Aber trotzdem, und trotz der reichen nadilese
von G. Paris und Mussafia (Bev. crit. ; Litt, centralblatt) könte man kaum sagen,
dass alle Schwierigkeiten gehoben seien. Die auffindung einer besseren und älteren
handschrift könte hier allein helfen. Nach den aus dem Besant in den BesÜaire
hineininterpolierten stellen muss übrigens neben der uns im manuscript 19525 erhal-
tenen überlieferungsform eine andere existiert haben, die stellenweise ausführlicher
und xjielfach correcter war; soviel scheint mir wenigstens aus der vergleidiung mit
der Bestiairehandschrift f. fr. 25406 hervorzugehen.
Referent kann schliesslich dem herausgeber zu dieser höchst sauber gearbeite-
ten ersten leistung auf dem felde der romanischen philologie nur glück wünschen.
Er hat gezeigt, dass er die philologische akribie, die gereifte £rucht einer methodisch-
UÖmUB, ÜB. SKiDABlIfA V. K. MAÜBER 227
strengen schule, die er bisher ausschliesslich den germanistischen Stadien gewidmet,
mit glück und geschick anch auf das verwante feld der mittelalterlich - französischen
spräche und litteratar zu übertragen versteht. Möge er uns bald mit einer kritischen
ausgäbe der gesamten werke Guillaumes erfreuen, im anschluss an die Fregusausgabe,
durch welche er nächstens in neue beziehungen zu seinem dichter treten wird.
PAUS, IM NOVElfBBB 1869. JULIUS BRAKELMAIVN.
Die Skidarima. Von KaBr.Maerer* (Aus den Abhandlungen der könig-
lich baierschen Akademie.) München 1869. 70 b. 4.
Die Skidarima gehört einer dichtungsgattnng an , die auf Island seit dem ende
des 14. Jahrhunderts bis in das 18. herab sich einer besondem pflege erfreut hat
und während dieser zeit fast als die ausschliessliche form für erzählungen in gebun-
dener rede betrachtet werden darf.
Von älteren rimur waren bisher nur gedruckt: die Skdld'Htlga'rimwr (Grh.
Mind. n, 419 — 575) und die prymlwr und lUmw frd Völswngi himum öhorna (Ssom.
Edda, Leipzig 1860, 235 — 289; 240-- 254 und Vorwort IX— XV); ausserdem die
Olafs 'fima (Fiat. I, 8 — 11). Zu diesen komt jetzt die Skidarima, die man bis-
her nur aus den gelegentlichen anführungen P. £. Müllers und Finn Magnusens
kante. Hiemach galt sie für eines der ältesten gedichte dieser gattung.
Mit der letzterwähnten t)Za/*«-rtma hat sie zweierlei gemein. Einmal, dass sie
beide nicht wie alle sonst bekanten aus mehreren abteilungen (nrnttr) bestehen, son-
dern ungeteilt in je einer rima; die Olafs -rima hat 65 vierzeilige Strophen, die Ski-
darima hat deren 203, während die oben erwähnten Skala -Helga -rimur 390 Stro-
phen in 7 rimur, die piymlur 79 Strophen in 8 rtmwr, die V&swugs rimur 279 str.
in 6 rimur umfassen. Femer: beide gedichte sind nicht wie die SkcUd- Helga -
rimur, die prgmlur, die Vdlsungs rimur und alle die übrigen älteren, von denen
wir kentnis haben, gereimte paraphrasen von zum teil noch vorhandenen sagas (oder
wie die prymlur von einem alten Edda -liede) , sondem es sind originale dichtungen,
wenn auch verschiedenen Inhaltes und Charakters; die Skidarima ist eine ganz frei
erdichtete erzählung, die Olafs -rima dagegen nach art der encomiastischen drdpur
ein lobgedicht auf den norwegischen könig Oli^ den Heiligen (f 1030), dessen taten
und tod sie feiert.
Die Skidarima berichtet aber von einem norwegischen bettelmanne Skidi,
der auf Island von einem hofe zum andern hemmzieht und auf einem derselben,
dem des porleifr beiskjaldi, wo er einmal übernachtet, einen träum erlebt, dessen
erzählung den hauptinlialt des gedichtes (str. 46 — 187) bildet. Ihm träumt, dass er
vom gotte Thor im auftrage des Odin nach Yalhöll geleitet, hier die Äsen und Asin-
nen und eine ganze schaar nordischer beiden versammelt findet. Odin, nachdem er
ihn aufs beste bewillkomnet und beschenkt, führt ihm auch eine frau zu, Högnes
tochter, Hild, und verleiht ihm königsnamoi wie königreich, nämlich ganz Asien
und was er sich ausserdem wünschte. Als Skidi ein kreuz schlägt und sich hier-
durch als Christ kennzeichnet, erhält er zunächst vom Äsen Heimdall einen hieb,
dessen erwidemng durch Högne, der dem Schwiegersöhne Skidi schützend zur seite
tritt , das Signal zu einem kämpf und gemetzel wird , woran sich allmählich die ganze
ehrenwerte versamlung beteiligt. Viele der hervorragendsten beiden verlieren hierbei
das leben , ja selbst die Äsen Balder und Njord , Loke und Honer , von Skidis höchst-
eigner band erschlagen, bis dann dieser selber von Jung-Sigurd schliesslich zur
türe hinausgebracht wird und — wider erwacht. Die Wahrheit seines traumes wird
15*
228 MÖBIDS
nicht nur durch die mishandlungen betätigt, die er während desselben seinen
schlafgenossen angetan und von denen fünf sterben, sondern auch durch den aus
dem geträumten kämpfe mitgebrachten grossen zahn, den er einem seiner gegner
ausgeschlagen und der dann kunstvollst zum bischofsstabe für die kirche in Holar
verarbeitet wird.
Dies ist ganz kürzlich der Inhalt der Skidarima, die nun hier unter obigem
titel von Eonr. Maurer zum crstenmale vollständig herausgegeben und mit einer
höchst gehaltreichen einleitung versehen worden ist.
Die einleitung (s. 3 — 55) , die dem texte des gedichtes (s. 55 — 68) vorausgeht,
gibt zunächst eine ausführliche Inhaltsübersicht (3 — 5) , spricht sodann unter ver-
gleichung ähnlicher dichtungen sowol auf nordischem gebiete, vrie auf deutschem
(Rosengarten u. dgl.) über die tendenz der Skidarima, die als Verspottung der unna-
türlichen überspantheiten der romantik bezeichnet wird (5 — 17), wendet sich darauf
zu den mannichfaltigen quellen , aus denen der poet seinen stoff geschöpft (17 •— 34),
sucht dann in eingehender erörterung der frage über zeit und ort der entstehung des
gedichtes darzutun, dass es nicht früher als höchstens der mitte des 15. Jahrhun-
derts angehöre und, ohne dass person und namen des dichters nachweisbar wäre,
seine heimat im westlichen Island habe (34 — 54) , um zuletzt noch über die hand-
schriftliche Überlieferung , papierhandschriften des 18. Jahrhunderts (vgl. s. 46 — 47)
und eine von Maurer selbst für die vorliegende herausgäbe benutzte abschrift von der
band Gudbrand Vigfnssons, zu berichten (54 — 55).
Indem wir den leser, der sich über die angegebenen punkte näher unterrich-
ten vrill, auf Konr. Maurers einleitung selber verweisen, wollen wir versuchen einen
vom herausgeber zwar ebenfalls, doch nur beiläufig (s. 47) berührten punkt, nämlich
die spräche der Skidarima hier etwas näher zu charakterisieren.
Sie bietet in grammatischer vrie lexicalischer beziehung mancherlei, das teils
in folge ihrer entstehungszeit , teils der gebundenen redoform von der altnordischen
spräche, wie wir sie aus der litteratur des 12. bis 14. Jahrhunderts kennen lernen,
mehr oder minder abweicht.
Wir scheiden zunächst die Umschreibungen (kenningar) aus; sie gehören als
ein rein äusserlicher schmuck der poetischen diction als solcher an und können^ min-
destens in dieser art reimereien, ebenso gut bleiben, als durch die gewöhnlichsten
prosaausdrücke ersetzt werden.
Die Skidarima enthält folgende; für Odin: stäla-gatUr (124); für mann:
audar-baldr und mcfija -haldr (12. 7), örva-lundr, mens-lundr (59), lanfa-lundr,
seima-lundr, fleina-lundr (26. 59. 67. 92. 127), laufa-vidr und seima-viär (52.
145); ferner: randa-hrjötr (? 143), nisiill silkitreyju (180), aeima-poUr (199), her-
janS'Jhöttr (60); für fr au: hauga- skorda und gullhlads-skarda (4. 5), sÜkt-hrund
(3), parna-hrü und veUa-hru (112. 120), porna-vigg (87); für kämpf: ibeppa-so^
und eggja-aag (136. 139), mälma-prä (88), örva-seimr (147),. odda-skwr (153),
«eate-Än<f (165), kappa-dana (172), piumar-vera (178); für gedieht: Fjölnia-
bdtr (6) und Sudra ajdfarrok (203); für gold: greipar-rnjöll (71), Qrettia rauda
bdl (71), arma-aetr (86); für köpf: frada-adlr (188); für brüst: ödar-rann (6);
für Speer: remmi-g^gr (132); der ort Hitar-dalr wird genant: Belgja dair (35).
Es finden sich nur wenige unter diesen kenrnngarf die nicht bereits von Svbj.
Egilsson aus den altem dichtungen nachgewiesen würden; nur dass, offenbar unter
dem einflusse des vorsmaasses, die composita der kenningar in der Skidarima die
vollere form zeigen; so z. b. bei Egilsson: ör-, lauf-, aeim-, baug-, pam-, veU-,
während in Skidarima: örva-, laufa^, aeima-, bauga-, poma^, «e22a-.
ÜBBB BKiDARlMA VON K. MAUBKB 229
Einige der oben angeführten kenninffar dürften jedoeli seltner sein; so: nisHU
sükUreyiu , d. i. heftnadel der seidenjacke (dorchbohrer des gewandes) = mann , wo-
mit Skidi den draohentöter Sigurd anredet; nistül, was kein Wörterbuch anführt,
von nist oder nisti, n.: spange, heftel. Femer: -sag (vgl. sog, f. die säge und
saga, sägen) in keppa^sag and eggja-Siig: das sagen, schneiden, hauen mit knüp-
peln, mit Schwertern, d. L kämpf. Zwei andere hsnninga/r für kämpf sind: Icappa-
dans, heroum saltatio, und das nicht wol deutbare pusnar-vers; Svbj. Egilsson ver-
zeichnet aus Snarra-Edda dreyra-vera: versM, sonUus, Stridor sanguinis; doch
fusnar? pusn, f. (von Pytja rttere): clamor, str^tus? wenn es nicht gar zu nahe
läge An pusS' d. i. : purs» (riese) zu denken: ptMsa-vers? Gedicht wird umschrie-
ben durch hdtr Fjölms: bort des fjölnir, d. L Odin, nicht, wie dies öfter geschieht,
der Zwerge; femer durch Sudra sjafar^rok; sjdfar-rok vgl. sjor r^hr die see raucht,
von dem durch die luft aufgewirbelten wasserdampf; ähnlich dverg^regn: poesis. Der
aus der Njdla b^kante eigenname der Streitaxt des Skarphedin, Bimmu - gi^gr, d. i.:
kampfriesin , wird hier (str. 132) unter der form Bemmi-g^gr appellativ für axt über-
haupt gebraucht.
In grammatischer beziehung enthalten lautgestalt , bezüglich Orthographie , wie
flexion mehrere kriterien för die spätere zeit , obwol nur diejenigen von ihnen maass-
gebend für das alter der entstehung sein möchten, die sich neben der handschrift-
lichen Überlieferang auf das zeugnis von reim und metrum stützen ; denn jene reicht
nicht weiter als bis in den anfang des 18. Jahrhunderts , wobei es überdies zweifelhaft
bleibt, in vrie weit der vorliegende text sich ganz streng an seine so späte vorläge
gehalten oder ob nicht, wie wir fast glauben möchten, hier und da im interesse des
lesers, wenn auch nur in orthographischer beziehung kleine änderungen vorgenom-
men worden.
Rücksichtlich der lautgestalt heben wir folgendes hervor. Vocale: überall,
wie sich im vorliegenden falle von selbst versteht , e (sprich ja) für i , femer (B
Umlaut sowol von d als von ö; sonach reimen hida (= haHa) und nuBla (31), Siekja
(= sakja) und hraikja (51), fair (=« faW) und lestr (52. 138); die verlängerangen
aller vocale vor ng und nik, so wie au als die verlängerang des umlautes ö vor ng
in: laung == long, gaung = gong, saung »» söng (vgl. 43); ö statt des älteren au
in sjö Septem; das epenthetische u begegnet nur zweimal in ofurlegt und in tennur
(194) neben tennr (142) und tenn >— — s menn (5. 8), obwol wr =: r, wenn auch als
zweite silbe weiblicher schlussreime erst seit dem 16. Jahrhundert, doch als beson-
dere silbe, wie hier in der mitte des verses bereits am ende des 13. Jahrhunderts
erscheint
Consonanten. Erweichung des ^ zu ^ und des ib zu ^, wie sie später noch
weiter um sich greift, in ad, iä, päd, wd, annad, nokkud usw.; in eg, og, pig usw.
Vereinfachung des auslautenden rr und ss {-^ sr) zu r und s , zum teil durch den reim
gesichert, z. b. pör (= pörr) reimt mit lic sior (167), Icms {= lauss) mit rov Jiaus
(174) usw.
Die Silben -reime am ende der verse sind im ganzen rein, wobei es sich der
dichter häufig ziemlich leicht gemacht, indem er entweder dieselben reime vriderholt
oder zum reime dasselbe wort verwendet, vrie pörf und pörf (23), skreppu und
skreppu (40), peir und peir (65). Unächte oder doch nicht ganz ächte reime, die es
nicht bloss der schrift nach sind , sondern auch nach der ausspräche , finden sich
wenige: dtta (sprich autta) und hrotta (192), aUumst und sMust (116), rista und
hristna (180), voU und voH (122), v<mund n^erri (66), heljar wi^htlja (160), fiima
und pinnar (93), obwol schon früh das r fast lautlos wird (z. b. vart und svartr in
280 MÖBIÜS
Isl. n , 219 , higgja und Friggjar in Baräar ». (1860) s. 15 n. a.) ; avinia und titna
(128), e und e in er und mer, smeU und ßU u. a. werden durch gleichen hauptton
zum reime ; verändert des reimes wegen sind vißla (d. i. vela) und Uela (2) , vendr
(d. i. vandr, s.: Svbj. Egilsson) und kendr (19). In den übrigen fallen, wo die reime
in der schrift nicht stimmen, beruhen sie auf der spätem ausspräche, der sich die
Schrift hier und da anbequemt hat; sonach reimen: vers mit pess (4. 178), fyrst mit
hfst (91. 93) , mart (d. i. margt) mit baii (191) , pr^da (sprich priäa) mit vida (49),
teiga (d. i. teygja, sprich ttigja) mit ci^a (120), l^eai/r (d. i. 6c^r) mit^e^^r (32. 97),
lands mit mami^ (15), hitxa (d. i. hugsa) mit t4a;a (21), W mit II (spr. beidod drZ/)
in jarl mit i)ai2 und /o« (81. 176) , in SMli (d. i. Sturli) mit /t««t (99).
In der flexion der nomina weist schwanken der nominatiy- und accusativ-
formen auf die spätere zeit; so zunächst neben niadr (57) und inadrinn (11) auch:
6 mcmn (47. 58. 63), das zweimal (58. 63) mit kann reimt; neben -mundr in
Asmimdr (178) auch o-fnund in Geirmund (77) und Asirrnnd (78); 6 milding =^
müdingr (51), sdr(r) op mo(t(r) reimt mit hUd (15G), abgesehen von der regel-
mässigen, schon oben erwähnten abwerfung des nominativ -r in Svar («= Svarr)
Ägnar, Edgeir^ pör usw.; neben Fofnir (161. 165) auch — veranlasst durch
das vorausgehende Beginn — 6 Fofnin (82); andrerseits behalten die nomina auf
-tr das r im accusativ, z. b. lov pörir (8i), vor Hcenir, das mit jov nuBnir (179)
reimt, während auch rov Fjölni (91) und tov Fofni (85); Rögna (117), um es nicht
als acc. von Bögm = Rögnir (112) gelten zu lassen, muss wol raiv rögnu sein; rov gar^
priwn statt gaipinn (83) und wol auch rbv prdimi statt prdin (157. 160) möchten
vielleicht ebenso wie fleiru statt /Zetra oder fleirum (64) nur druckfehler sein. — In
der conjugation begegnet man dem späteren i für a in: dtti eg (6), eg skyldi (121),
cp <j?ndt (101), eg ynni (116) usw.; e»* für ew: 5ww (94 und öfter), seu pid für 8^
(d. i. a^i^) tY; suis vos (118), 8€ettust für atßttist: concüietis vo8 (116), mwt^t für
munduj inf.praet. (103).
Spätere wortformen sind: aldrei (55. 34) und aldri (27) für aldregi, ei (44 und
öfter) für eigi, köngr für konungr, die zahlformen sextigi (94) und prjdiigi (178).
Auf dem gebiete der 8yntax erklären sich die abweichungen von der älteren
und der normalen spräche zum guten t«il aus der lässigen redeform nicht minder,
als aus der gebundenheit durch das metrum. Wir hoben den freien gebrauch in der
Verbindung von Substantiv und adjectiv hervor, des einen bald mit, bald ohne artic.
Suffix., des anderen bald in bestirnter, bald in unbestimter form, bald das Sub-
stantiv dem adjectiv, bald dieses jenem vorangestellt — wie es eben reim und sil-
benzahl gestatten oder fordern; z. b. : drengrinn hvasSf aber auch laufavidrinn stori,
hüsin stör, aber auch Icapimf^veitin difta, fät€Bkt fölkid, f erleg widrin usw.; fast
jede Strophe enthält beispiele; dazu die auch unserer älteren dichtkunst geläufige
nachsetzung des unflectiertcn possessivs: d nddir pin (94), t küsum min (110), ur
gardi sin (14) usw. Auslassung des relativs: sd madr (er) mig hefir Igst (93), fyrvr
pd neyd (er) pü fekkst af mer (100); alt päd (er) kann kjosa vüdi (123); besonders
häufig ausgelassen ist ad (= at): dass, m. indicativ oder conjunctiv» nach frd eg
usw., z. b.: frd eg (ad) hann var (36), oder: <eüa eg (ad) kann heiti (99) auch :
3. 29. 34. 40. 43. 44. 45. 54. 59. 09. 103. 112. 180 und öfter; ebenso 9vo = 8vo ad
(26. 60. 140. 158. 174) und % pvi ^ % pvi ad, z. b.: i pvi (ad) hann lifid Ut (160).
Öfter, wie dies in der gewöhnlichen rede geschieht, wird dem nomen das pronomen
(kann und hiAn) vorgesetzt: hann Skidi, Jiann fddir minn (10. 121. 126. 169. 177)
und hün Fregja (175. 87. 112) hun Valhöll (69); eben dahin gehört das slikt en«-:
solches sind — , slikt tel ek — (39. 77. 72) und der periphrastische gebrauch von
ÜBBB SKlOABiMA VON K. MAURER 281
göra, z. b.: rettet gjOrdi raumrinn: — er tat sich erheben (51), ?Mnn gjäräi at
faUa (145). Noch sei erwähnt der adverbialen accasative: minstan und litinn (1.
131) nnd der selteneren Verbindung von kunna mit dem Infinitiv dnrch cUt (32. 70.
111. 143).
Auch Stellung und wähl der werte Bind öfters von jener rücksicht auf den vers
abhangig, so z. b. das durchaus ungefüge ad farstü: dass du giengst (100)! femer
far statt ferr wegen por (57), vin statt öl wegen sin (109); widerholung des-
selben Wortes, um eine silbe zu gewinnen, z. b. staf — staf {W- *), mtm >- mun
(202>- «)!
Am meisten, wie zu erwarten, zeigt sich jedoch der unterschied der spräche
vorliegender rima in lexicographischer beziehung. Einmal enthält sie eine ganze
reihe Wörter, die der älteren spräche entweder überhaupt oder doch in der hier
gebrauchten bedeutung fremd zu sein scheinen, andererseits eine anzahl entlehnter
Wörter, insonderheit deutscher, auch lateinischer. Mehrere, obwol auch nicht alle,
der erstgenanten finden sich nur in Björn Haldorssons wörterbuche, diesem so iftge
zeit alleinigen, doch auch jetzt noch unentbehrlichen lexicalischen hilfsmittel. Wir
verzeichnen sie unter besonderer rüclcsichtnahme auf Job. Fritzners Wörterbuch , des-
sen benutzung wir bei etwaigen lesem der Sktäa-rima voraussetzen.
dlpa, d. L apla, nach art eines aplif m. vitiilas gehen, anderwärts älpast,
hier (54): dlpuSu. — auli wird Skidi genant (98. 188. 189. 193): Dumrian. —
barda: caeso» nent str. 41 die gründlinge (grunmmgar) y indem getrocknete fische,
bevor man sie isst, mürbe geklopft werden. — brumla (74), tosen, lärmen. —
hrjöt in: randa-hrjöt (143), entweder dativ von dem allein in den Wörterbüchern
verzeichneten masculinum brjötr: fractor, oder (?) von einem neutrum brjoi: fractio,
sonach randa-brjot schilderzerbrechen, d. i. kämpf. ~ brüni in den Wörtern og
fttilti ntpsta Bruna (163) möchte wol Pofnir als den „braunen," d. h. atrum, fus-
cum (s. Svbj. Egilsson) bezeichnen. — bupp (163) reimt mit tipp; der drache Paf-
nir reckte in die höhe bölvad bupp: cctudam exsecrandam *{?\); Bj. Hald. ver-
zeichnet nur bopp , n. singultus vulpium und saltus pilae ; gestattete dies der gebrauch
von reka upp, so wäre der sinn: er schlug ein geheul auf. — byrdum^ dat. plural.
(35) von byrdr, fem.: last, menge — die p, sammelt? oder von byrda^ fem.: trog, so
dass safna byrdum : trog- , scheffelweise den häuslichen besitz anhäufen ? unter dem
texte wird conjiciert: birgdum von birgdir, f. plur. verrate. — byst og bart (191);
byst d. i. byrst, gebürstet, Übel zugerichtet; sonst heisst byrsta: mit borsten verse-
hen (vgl. guUi byrstr) oder byrstast: die borsten herauskehren (metaph.). — danga
in den Wörtern: „krattans synir danga** (136); danga, nach Bj. Hald., stark-,
fett werden, während kratti, m. weder von ihm, noch sonst wo verzeichnet wird;
der herausgeber conjiciert: krattans von hratii, m. (gleichfalls nur bei Bj. Hald.):
aesttis maris modictM at frequens; sonach krattans synir danga: (das ist ein kämpf,
wo) die söhne der brandung, d. i.: die wogen fluten (?). — drukklangr in drukk-
langa sti^nd (65) wird vom herausgeber selber (einleitung s. 12) erklärt: „nur so
lange, als man etwa zu reiten pflegt, bis man wider trinkens halber zukehrt." —
flür — von flürr, m. (med fagran flür 200), nicht von dem allein in den Wörter-
büchern verzeichneten flür, n. flores — hier von der blumigen Verzierung, die der
zahn durch die „Werkzeuge der ersten künstler'' erhalten. — gylla einn i ordum
(4. 98): jemand durch goldige werte schmeicheln. — harki, m, ttwitUtus, strepi-
tus (149), sonst nur kark, n. — kerra,i., gewöhnlich nur titel desbischofs, hier
(79) in dem parenthetischen ausrufe : kerra/nn vitr (nicht kerran vür ?) von gott: all-
wissender herri oder: der herr sei mein zeuge! — hrakföU, n. pl. (60), von
232 MöBius
den unglücksföllen I deren Prophezeiung sich Skidi verbittet. — kdklast (61);
„kdkl, n. levis puUcUio'* und „kcücla (ad) lerUe pUlsare** nur bei Bj. Hald.; hier
in den Wörtern per mtm kostr cid kakUtst um: deine läge wird, wenn du nach Val-
höll komst, eine sehr üble werden. — kampa-sidi, als epith. ornans des Skidi
(90), dem freilich vorher (9) ein dünner hart beigelegt wird, wol kaum anders zu
deuten, als: mit lang herabhängendem harte, bezüglich /hvotu^; vergl. hdr-sidr bei
Svbj. Egilsson. — - kengr, bei Bj. Hald. unter: keingr, m. gibber, höcker; krippa
(d. i. kryppa), f., bedeutet dasselbe, so dass die Wörter: p6 var upp wr krippu
kengr (8) entweder heissen: doch ragte aufwärts aus (ohnehin) krummem rücken ein
höcker, oder: krippu- kengr ist als potenzierter höcker und upp ör adverbial zu ver-
stehen. — kingr, m. = kengr: curviUwra, nur bei Bj. Hald.; koma tu kings
(155) zur beugung, d. h. zu falle kommen. — kvarda (41); „ zukost verbietet sich
von selbst (weil er keine hat) , setr tm ctd honum kva/rda ** ? kvardi (unter quardt),
m.. messstock, ellenmaass bei Bj. Hald.; doch was soll dies hier? — lengja,
f. fl^), s. nachher unter malir. — lif, n. leben, im sinne von person (99); Sturli
auf Island wird mit den werten eingeführt: annat er par dg<eU lif, dort gibt es
noch einen andern vornehmen mann usw. — lüinn, adj. (part. praet. von Itfja:
durch hämmern dünn machen): schlaff (182). — loppa, f. tatze, von der band
Skidis, mit der er eiligst ein kreuz schlägt (125). — lukka, f,: glück (50. 53. 57),
der älteren spräche so gut wie fremd. — malir, f. pl. (27) von dem kreuz auf
dem feile des viehrückens, aus dem sich Skidi eine „lengja mikil og sid/' ein gros-
ses und weites laugstück für seine schuhe schneidet. — neyta, benutzen, gemes-
sen, hier (12): vorteil erfahren; in den werten: enga menn fann {kann) % ordum
einum neyta, er Hess niemand in seiner rede gelten, er verläumdete jedermann. —
pin, f. (164, reimt mit sin), in keinem wörterbuche, wol für jwtia, f. cr%^MxJtu8,
so dass die worte long var sü hin Ijöta pin bedeuten: lange dauerte diese scheuss-
liche landplage (nämlich der drache Fofnir). — rakna: expUcari; hier (44) in den
Worten: seint tök gUdin ad rakna: erst spät verlor sich die lustigkeit der leute. —
reidigangr (76), in keinem wörterbuche; alt er % reidigangi, d.i. {v)reidi'gang%:
in zorniger aufregung. — sjöli, m. (50), könig, nur bei Bj. Hald., wie der her-
ausgeber bereits bemerkt. — skoltr, m. (142), rüssel, schnauze, unehrerbietiger
ausdruck für den mund des friesischen beiden Ubbi, dem Skidi vier zahne ausschlägt;
wol für skolptr vom stamme skalp— drehen, wenden, vgl. skolpr, m. dreheisen. —
skrüdi, m. (ällan skreppu skruda 10) nicht blos schmuck, omat, sondern hier all-
gemeiner , wie skrud, n. , vom ganzen inhalt der reisetasche ; ebenso in Markinskinna
100": skreppa ok alt skreppu skrud, — skrökkva (130) erdichten, erdichtetes
oder unwahres aussprechen, von dem sonst wolbekanten skrök , f. — smer (106),
in keinem wörterbuche, für smjör: butter, wie sonst überall geschrieben. — stüta
(167), gewöhnlich trans. : töten, hier intrans. : umkommen; „eher wirst du, Iflmmel,
unter den starken hieben dein leben verlieren.*' — süd, {, asserum compages, hier
(24) bloss: bret, dem das schuhleder verglichen wird. — teiga (120) nicht allein für
teigja wegen des reimes zu eiga, wie schon der herausgeber bemerkt, sondern auch
für teygja: hervorlocken; ord parf sizt at teygja: der bejahenden antwort auf einen
heiratsantrag bei einem mädchen darf man im voraus versichert sein (?). — tenn:
dentes (5), hier von den Sprachwerkzeugen; Idtum heldr leika tenn ä liHum aßntj^-
rwn: lasst uns unser mundwerk lieber an kleinen geschichten spielen, lasst uns
solche erzählen. — tetr, adj., in keinem wörterbuche, wol für tötrugr, von tetr
oder tötr, m. oder n.^ läppen, lumpen; ur hirzlu tetri Skida (198): aus Skidis arm-
seligem bßhältnis. — ür-mata: übermässig (13); wol kaum acht nordisch. —
ÜBBB BkIdABImA von K. IfAUSBB 233
vatna (202), „ehe er gelobte heidoische opfer abzulegen und in der Sonnabend-
nacht bei wasser zn fasten/' — ^ngismenn: jtwenes (2), wol nur in der späte-
ren spräche üblich. — ^nki, latnentationem oder lamentationes (133) « in keinem
Wörterbuche I jedenfalls dem dänischen ynk: Jammer, elend entnommen, das selbst
wider auf altnordisch aumk (in aumka: misereri) zurückgeht.
Ausser diesen Wörtern finden sich nun noch einige offenbar fremde, bereits
vom herausgeber als solche gekennzeichnet: fin (19. 22. 114), jungr (199), for-
smä: verschmähen (121), par: paar (32)^ kvittr: quitt, ausgeglichen (4), zu denen
man wol auch sldngi =» armr (auch schon in der Didrekssaga) rechnen darf. Latei-
nische Wörter sind: vers: versiM, in der kenning: pusnar-vers (178) und in
amors vers : carmina erotica (4).
Der druck ist ein correcter; nur wenige druckfehler sind stehen geblieben,
lies: Skiäi (10), stofunni (36. 46), vida (49), Uzt (59), hvorki (61), vist? (69),
utur (80. 81. 84), yet (85), poma (87), lofann (114), svima (128), -g^gi (132).
Störend wirkt der mangel eines grossen p.
KIEL. THEOD. HÖBIU8.
SSderwall) K. F* Hufvudepokerna af svenska spräkets utbildning.
Lund, Gleerup. 1870. (VUI), 132 ss. 8.
Während der letzten jahrzehende haben schwedische gelehrte ihrer landes-
sprache , sowol in betreff der älteren gestalt derselben , des Altschwedischen , als auch
ihrer mannigfachen dialecte, einen regen fleiss zugewendet. Die dialectische for-
schung hat einen gewissen abschluss wie andererseits grundlage und ausgangspunkt
für fortgesetzte forschung im schwed. dialectlexicon von J. E. Rietz (1867) erhal-
ten; die mancherlei älteren dort aufgeführten und benutzten monographieen sind seit-
dem fast jedes jähr um eine oder mehrere neue vermehrt worden. Historische gramraa-
tik des Schwedischen und vor allem genauere kentnis der alten spräche wurde überhaupt
erst ermöglicht, aber dann auch wesentlich gefördert durch kritische ausgaben der
quellen, einmal durch die nunmehr mit dem Xu. bände (1869) voUendete der schwe-
dischen provinzgesetze durch Co 11 in (f 1834) und Schlyter (geb. 1795),* sodann
durch die seit 1844 beginnenden publicationen der schwedischen Fomskriftsällskap,
unter denen namentlich das altschwedische legendarium, herausgegeben von 6eo.
Stephens (2 bände, 1847 — 58), durch alter und gute der handschriftlichen Über-
lieferung (Cod. Buranus und Cod. Bildstenianus) hervorgehoben zu werden verdient.
Mit umfassendster benutzung dieser queUen, und unter anwendung alles dessen, was
die historisch -comparative graromatik der gegenwart an methode gelehrt wie an
resultaten zu tage gefordert hat, verfasste Job. Er. Kydquist sein grundlegendes
werk: „die gesetze der schwedischen spräche" {Svenska spräkets lagar), worin er
deren flexion und lautsystem seit dem Schlüsse des 13. Jahrhunderts, wo unsere quel-
len beginnen, bis zur gegenwart in ausführlicher weise zur darstellung bringt.
(Band I: conjugation, XLIV, 509 Seiten, 1850; band U, declination, 633 Seiten, 1857
bis 60; bandlll: Wortregister, XYII, 303 selten, 1863; band IV: lautlehre, 552 selten,
1868 — 70). Zu Rydquist und dem nicht minder verdienten Carl Säve in Upsala,
dem man ausser anderen monographieen die treffliche ausgäbe des alten gotländi-
schen gesetzes {Guialag) so wie die eingehende behandlung der spräche auf der insel
Gotland und in Dalame verdankt , gesellt sich unter den in gleicher richtung tätigen
jüngeren gelehrten: K. F. Söderwall, docent an der Universität in Lund.
1) Eine orientierende Übersicht über das ganze werk gibt F. Dyrlund in der
Kopenhagener Zeitschr. f. phii u. p»d. VIII (1870), 314 — 323.
234 MÖBiüs
Von seinen früheren arbeiten kennen wir die drei akademischen ahhandlnngen :
„Über die rection der verben im Altschwedischen." 1865, 37 seiten. 4 ; „Über die behand-
lung fremder werter im Altschwedischen." 1867, 19 seiten. 4 ; „Über die kasnsformen
im Altschwedischen." 1868 (?), 17 seiten. 4. Ganz nenerdings hat er eine kleine
Schrift herausgegeben: „Die hauptepochen in der entwickelnng der schwedischen
Sprache." Lnnd 1870 (VIII), 182 seiten. 8. Anf diese möchten wir hier den leser
ganz besonders aufmerksam machen , weil sie ihm in kurzer Übersicht die hanptergeb-
nisse mitteilt, zu denen die heutige schwedische Sprachforschung gelangt ist, und
wol geeignet erscheint, ihn in die quellen selber und in die umfänglicheren nntersn-
chungen einzuführen.
Bekantlich hatte schon N. M. Petersen in seiner nordischen Sprachgeschichte
(2 bände, Kopenhagen 1829 — 30), wie die geschichte der dänischen und der norwe-
gischen y SO auch die der schwedischen spräche verfasst ; ihr yerdienst ist für die dama-
lige zeit um so höher anzuschlagen, je geringer und je weniger gesichtet das mate-
rial war, das ihm zur bearbeitung vorlag; Torarbeiten aber fehlten so gut wie gänz-
lich. Unter weit günstigeren bedingungen ist jetzt Söderwall an seine aufgäbe her-
angetreten ; nicht allein , dass ihm die quellen , die Petersen teilweise nur aus hand-
schriften und in dürftigen cxcerptcn zu benutzen hatte, vollständig und sämtlich in
kritischen ausgaben vorlagen , konte er teils seine eigenen Specialuntersuchungen,
teils die anderer, namentlich Rydquists, in betreff der flexion und des vocalismus,
als mehr oder minder abgeschlossene benutzen und sich auf sie berufen.
Söderwall teilt die geschichte der schwedischen spräche in vier perioden; die
erste beginnt mit der anwendung der schwedischen spräche zu buch und schrift,
d. i. mit dem ende des 13. Jahrhunderts , dem unsere älteste schwedische handschrift
angehört (das ältere Vestgötalag in einem codex vom jähre 1281); die zweite reicht
bis in die der kalmarunion (seit 1397) vorausgehende zeit , ende des 14. Jahrhunderts ;
mit dem aufhören der union (1520) und mit der reforraation (1527) begint die dritte,
die sich bis in die mitte des 18. Jahrhunderts erstreckt, wo die vierte anhebt.
Jede dieser perioden behandelt Söderwall in der weise, dass er nach einer allgemei-
nen Charakteristik ihrer sprachform und nach kurzem überblick über die litt^ratur , in
der sich dieselbe ausprägt , das lautsyst<jra , die flexion , die syntax , den Wörterschatz
bespricht; eine allgemeine Übersicht (116 — 122) bildet den schluss.
Um an dieser stelle nur auf laut- und flexionslehre der ältesten periode ein
wenig näher einzugehen, so können Söderwalls auseinandersetzungen , in willkomme-
ner weise veranschaulicht durch die s. 123—130 beigefügten paradigmen der alt-
schwedischen declination und conjugation, allerdings nur bestätigen, was uns bereits
P. A. Munch und Carl Säve dargelegt haben, jener in wenn auch nur dürftigem
umrisse in seiner „altschwedischen und altnorwegischen grammatik" (1849), dieser
viel eingehender in der kleinen, aber sehr inhaltreichen abhandlung: „Über die
sprachlichen Verschiedenheiten in den altschwedischen und altisländisphen Schriften''
(1861); nämlich: die, wenn auch charakteristische, gleichwol relativ überaus geringe
Verschiedenheit, die zwischen dem Altschwedischen des 13. Jahrhunderts und
dem sogenannten Altnordischen, d. h. dessen altnorwegisch- isländischer form,
zu tage tritt. Es sind eben, wie es angesichts der gemeinsamen, wirklich „altnor-
dischen" Stammsprache nicht anders zu erwarten, nur grad - unterschiede , während
andererseits merkwürdig genug die beiden nordischen eigfentümlichkeiten , die suf-
figierung einerseits des pronomen demonstr. zur bildung des articulierten Substan-
tivs , andererseits des pronomen refiex. zur bildung eines medium und passivum — ,
eine jede von ihnen sowol im Isländischen und Norweg^chen, als auch im Söhwe-
Ob. SÖDSBWALL, SVENSKA gPaAKETS ÜTBILDNING 235
dischen und Dänischen sich ganz unabhängig von- und parallel neben einander
gebildet zu haben und dem gemeinsam -nordischen fremd gewesen zu sein scheinen;
nur selten erscheinen sie anfangs im Altschwedischen, während sie unsern ältesten
altnordischen denkmälem bekantlich fast ganz fremd sind, um aber dann im skan-
dinavischen Westen wie osten sich immer mehr und mehr zu befestigen und in den
neunordischen sprachen als durchgreifendes kriterium gegenüber allen übrigen ger-
manischen sprachen zu erscheinen.
Bücksichtlich der altschwedischen spräche im allgemeinen hebt Söderwall
zunächst hervor, dass die spräche unserer ältesten quellen, also der provinzgesetze,
nicht etwa, wie man erwarten möchte, provinciale dialectverschiedeuheiten , minde-
stens solche nur sehr untergeordnet, sondern — mit ausnähme nur des gesetzcs von
der insel Gottlaud — bereits eine ihnen allen gemeinsame Schriftsprache zeigen, die
sich allerdings , wie das ja auch beim heutigen Schwedisch der fall ist, dem dialecte
Upplands und Södermannlands am nächsten anschliesst.
Im vocalismus ist dem Altschwedischen dreierlei eigen: die Verdichtung der
diphthongen zu langen vocalen (abgesehen vom Gotländischen , was jene bis auf heute
bewahrt), der sehr beschränkte, wenn auch keineswegs mangelnde umlaut des a durch
u, die trübung des a zu ^, namentlich des ja zu J€e. Jene Verdichtung der diph-
thongen, sehen wir von solchen fällen ab wie ste = steig ^ flo = flattg usw., ist
dem Altnordischen ganz fremd. Der altnordische umlaut des a durch u, seit dem
anfange des 11. Jahrhunderts, mindestens auf Island, ganz consequent und im wei-
testen umfange durchgeführt, erscheint vor dieser zeit, wie uns die Innern silben-
T* irae lehren , nur erst im beginne , während er im Altschwedischen , wenn überhaupt,
so nur da erscheint — sei es das a des Stammes oder der ableitung —, wo das
umlaut -wirkende u geschwunden, (einerseits: öl, örn, biorn, skiolder, iorp, myoper
(altuord. : wjödr), andererseits: sakam, nicht: sokum, kallum, nicht: kollum, gamul,
nicht gomul usw.) Die trübung des a und ja zu (ß und ja zeigt sich wol in spätem
norwegischen (vom Schwedischen beeinflussten) Schriften , nimmer im Isländischen. Das
häufige ^ ^= e im Altschwedischen fehlt dem Altnordischen nicht sowol dem laute,
als dem zeichen nach. Die epenthese eines vocals zwischen consonanten und r im
auslaute eines wertes, einest, e, <ß, a im Altschwedischen, des u im Altisländischen,
des a oder e im Altnorwegischen mag ziemlich gleichzeitig eingetreten sein ; im Islän-
dischen ist sie bereits zu ende des 13. Jahrhunderts nachweisbar (z. b. in AM.
623, 4).
Dem altschwedischen consonantismus ist bis auf vereinzelte föUe fremd
die im Altnordischen so durchgreifende assimilation. Im Altschwedischen durchgän-
giger abfall des Ä vor i, n, r, beibehaltung des v vor r, während im Altnordischen
in beiderlei rücksicht das gegenteil. Altschwedische einschiebung des h , p zwischen
m und r, des d zwischen /, n und r ohne dass h und d auch vor epenthetischem e
wider weichen, z. b. fulder, alder, sander, domber, warmber, verglichen mit alt-
nordisch: fuUr, aür, sannr, dömr, varmr.
Die flexion des nomen, die starke wie die schwache, ist im Altschwedi-
schen und Altnordischen — abgesehen von rein lautlichen Veränderungen, wie abfall
einzelner consonanten (r, t) oder vocale (», u) im auslaute usw. — wesentlich ganz die-
selbe, auch darin, dass die erstere hier wie dort nur zwei declinationen gestattet, von
denen die eine die nicht mehr scheidbaren a- und t- stamme umfasst, die andere die
wenigen u- stamme, deren neutra sich auf das eine wort/<e (altnordisch/)^) beschrän-
ken, deren masculina und feminina den i- umlaut aufweisen und deren masculina
ihr charakteristisches u im acc. pl. auch hier und da erhalten haben. Dagegen:
236 MÖBIUS, ÜB. SÖDERWALL, 8VENSK. SFB.
uominativ und accusativ des ploral der beiden schwachen nentra ögha (altn. attga)
und öra (altn. eyra) lauten: öghmi (altn. augu) und önm (altn. eyru). Dass dies
n nicht der artikel sei» folgert man einmal aus den formen öghunin (altn. augwt)
und örtmin (altn. eynm), in denen der artic. suffix. sonst zweimal stehen würde,
andererseits aus dem in diesem falle ganz gleichen Altdänischen, aus dessen Eriks
loY (2| 33) L. Wimmer das beispiel anführt: tu eghan oc twa huendar oc twa
fetter, wo die artikellosen JuBndar und fetcBr auf gleichfalls artikellose eghasn hin-
weisen; hiemach gilt dies n als eine altertümlichkeit, die das Schwedische und
Dänische vor dem Altnordischen voraus hat und die ihre erklärung in dem gotischen
augona und ausona findet (s. L. Wimmer , altdänische dedination § 68 ff. und histo-
rische Sprachforschung s. 30 ff.). Sollten diese beiden , im Schwedischen und Däni-
schen ganz allein stehenden beispiele für solche beibehaltung des n maassgebend
sein dürfen und nichts desto weniger, gleich dem dänischen verden und verdenen
(vergl. dän. verd und ahd. werdU), aus allmählich dem bewustsein entschwundener
Verbindung von öghu und öru mit dem artikel entstanden sein?
Die dedination des adjectivs und seine comparation bietet keinerlei unter-
schied. Im pronomen begegnet man den eigentümlichen formen: iak (altn. eJc), vir
und ir (altn. vir und ir), sina, d. i. «tu, (got. setna, altn. sin); sar neben sa und
8u (altn. sd und sü), obwol nur im älteren Vestgötalag, bevor pan und pe, d. i.
eum und eam (altn. pann und pä) als nominative dafür eintreten ; dem paragogischen
n begegnen wir in pön (altn. pau) , pessin (altn. pesst) , hvilikin (altn. hvüikr) u. a.
Charakteristischer als in der nominalflexion sind die unterschiede der vcrbal-
flexion im Altschwedischen und im Altnordischen. Namentlich zweierlei tritt her-
vor: das altschwed. n statt des altn. t in der 2. plur. , ind. und conj. , praes. und
prset. (die 2. plur. ind. des prset. nicht ausgenommen, gavin altn. gdfut), sodann:
der nicht -Umlaut im conj. des prset.: gavi altn. gtßfa. Andere unterschiede sind
weniger wesentlich, wie durchgehende nicht -Unterscheidung der personen im Singu-
lar, d. h. 1. (oder 1. und 2.) =" 3., gehe sie consonantisch aus (stamm, oder -er,
ar, ir), oder vocalisch (-t, dt, api), mit einziger ausnähme des für das nordische
überhaupt charakteristischen t in der 2. sing. ind. des starken pr»teritum (1. gav,
2. gavt , 3. gav); ferner nichtunterscheidung des indicativ vom conjunctiv in 1. pl. :
-um (kein -im); nicht - Unterscheidung des ganzen indicativ und conjunctiv im schw.
prset. ausser' der 3. pl. (indic. kcUlapu und conj. kaüapi); auch hier in der 3. pl.
der beiden conjunctive, prses. und prset., stark und schwach, das paragogische n
in der nebenform -in, statt des gewohnlicheren und im Altnordischen alleinigen -t;
denn dass dies n wirklich nur ein späteres augmentum sei, wie in flcUrin, p€nm
u. a., nicht aber dem n im gotischen nimaina entspreche, möchte wol auf grund
des mangels solcher formen auf -in in den ältesten quellen keinem zweifei unterlie-
gen (vgl. Wimmer, altdänische dedination s. 117 — 118 und historische Sprachfor-
schung 37).
KIEL. THSOD. MÖBIUS.
Die gotische spräche im dienste des Christentums von dr. K. Wein«
hold. Halle, Buchhandlung des Waisenhauses. 1870. 7Vt Sgr.
Vorliegende schrift gibt eine, wenn auch nicht viel neues enthaltende, doch
immerhin dankenswerte zusanmienstellung derjenigen gotischen werte, welche Vulfila
benutzte, um die grundbegriffe der christlichen religion zu bezeichnen. Bedeutung
und ableitung der einzelnen werte sind kurz besprochen, und die geschichte dersel-
ben wird durch die übrigen deutschen mundarten verfolgt.
BBBMHABDT, ÜB. WSINHOLB, GOt. SPRACHE 237
Zunächst wird nachgewiesen, wie Vulfila für die griechischen werte, die sich
auf gott and weit bezichen , die altheimischen ausdrücke verwandte, sodann wie er die
eigentlich christlichen begriffe, d. h. was sich auf des heilands lehren und taten,
seinen tod und sein erlösungswerk bezog, meist in genauem anschluss an die grie-
chischen, ebenfalls zu diesem zwecke neu geschaffenen oder doch in ihrer bedeutung
veränderten worte widergab. Sodann folgt ein Verzeichnis, überschrieben: „Der
mensch in geist, gemüt und Sittlichkeit,*' und schliesslich werden die hierher gehö-
rigen ins Gotische aufgenommenen fremdwörter aufgezählt.
Eine ganz ähnliche arbeit wie die vorliegende findet sich in W. Kraffts
kirchengeschichte der germanischen Völker I p. 267 ff. Krafffcs darstellung
ist ausführlicher und beschäftigt sich mehr mit dem ethischen inhalt der begriffe,
wobei freilich — meist nach J. Grimms Vorgang — eine anzahl ziemlich kühner Ver-
mutungen mit unterlaufen, namentlich, wo es sich um das Verhältnis der christ-
lichen Vorstellungen zu den heidnischen handelt. Weinhold hat dagegen mehr die
sprachliche seite des gegenständes im äuge. Mit recht spricht sich derselbe gegen
die annähme der gotischen götter Frauja und Vod aus, so wie gegen die persön-
liche auffassung von vaihts. Dagegen kann ich ihm in betreff der ableitung von
skohsl nicht beistimmen, ich halte an der abstammung von skiithan fest und erkläre
mir das o als aus au entstanden, ein Übergang, der sich auch in taujan — tojis,
stojan — stauida, daübnan — dobnan zu vollziehen begint und im althochdeutschen
vor A, r, l, n, d, t, z durchgeführt wird.
SLBBRFELD, OCTOBEB 1870. BRNST BERNHABDT.
Deutsches heldenbuch, fünfter teil: Dietrichs abenteuer von Albrecht
von Kemenaten nebst den bruohstücken von Dietrich und Wenezlan
herausg. v. J« Zupltca. Berlin, Weidmannsche Buchhandl. 1870. 2Thlr. 20Sgr.
Das deutsche heldenbuch will die sämtlichen reste der mittelhochdeutschen
volkspoesie mit ausschluss der Nibelungen und Gudrun in kritisch bearbeiteten tex-
ten vereinigen. Es bietet somit einmal eine geschichte des Verfalls unserer volks-
tümlichen dichtung, der ja anhebt mit der fixierung durch die schriffc, andererseits
lenkt es aber auch unseren blick zurück auf die der schriftlichen aufzeichnung vor-
hergehende zeit und lehrt den Zusammenhang beider epochen erkennen. Die beiden
ersten bände enthielten den Biterolf, Laurin und Walberan, Alpharts tod, Dietrichs
flucht und die Babenschlacht. Der vorliegende fünfte, dessen inhalt der titel angibt,
hat darin sein hauptverdienst, dass der herausgeber bis ins einzelne den nachweis
führt, dass die vier unter dem namen „Dietrichs abenteuer*' zusammengefassten
stücke, nämlich die Virginal (so wird recht angemessen das bisher als „Dietrichs
drachenkämpfe *' und anders bezeichnete gedieht genant) , das fragment des Goldemar,
der Ecke und Sigenot ^inem Verfasser angehören und zwar dem Albrecht von Keme-
naten , jenem Albrecht, der sich im eingange des Goldemar nent und dessen rühm
Budolf von Ems besingt. Durch feststeUung dieser früher allerdings schon vermu-
teten tatsache war es denn auch möglich , die entstehungszeit jener vier gedichte und
ihre reihenfolge richtiger als bisher zu bestimmen. Unter ihnen ist jedenfalls die
Virginal wie dem umfange nach die bedeutendste , so die interessanteste. Nicht ihrer
poetischen Schönheit wegen: nach dieser hinsieht wird sie vom Ecke weit übertroffen.
Das Interesse ist ein ausschliesslich philologisches. Die einzige handschrift, die das
gedieht vollständig uns erhalten hat, ist sehr verderbt und der conjecturalkritik bie-
tet sich ein weites feld. Zupitzas leistungen in dieser richtung sind höchst anerken-
nenswert Ausser der erwähnten handschrift besitzen wir aber noch bruchBtüeke einer
238 8TBINMEYEB
kürzenden reccnsion und eine Umarbeitung des gedichtes. Das Verhältnis dieser bei-
den zur ursprünglichen gestalt ist von Zupitza leider gar nicht näher erörtert wor-
den. Ich werde mich nachher darüber v^breiten: um dies zu können, muss ich
zuvor jedoch auf die art und weise eingehen , wie der dichter in der Virginal seine
recht geschickt erdachte fabel im einzelnen durchführt. Nur an einzelnen stellen in
den anmerkungen hat Zupitza einiges zur Charakteristik des dichters beigebracht:
dieses führe ich im folgenden nicht auf. Vor allem setzt uns Albrechts vergesslich-
keit in erstaunen. Str. 33, 8 kent die dem beiden ausgelieferte Jungfrau den Hilde-
brant, woher wird nicht berichtet, 38, 7 aber sagt sie zu ihm „herre, swer ir sit,"
Mindestens unklar ist 56, 9 fgg.: da von der megede ir sorge verswant, die si vor
menegen jären hat üf den einen tac getragen , denn nach 28 , 9 entscheidet ja das
loos über die, welche des beiden raub werden soll. Ob übrigens die ganze Umgebung
der Virginal dieser gefahr ausgesetzt ist, oder nur ihre eigentliche dienerschaffc,
bleibt gleichfalls unentschieden; es scheint beinahe nur die letztere. Denn nach
431, 7 fgg. war Ibelin, Nitgers Schwester, auch bei der Virginal gewesen: diese würde
aber doch kaum dem beiden haben übergeben werden dürfen. 61 , 6 meint Hilde-
brant , Dietrich werde über ihn spotten , dass er einen einzigen beiden nicht bewäl-
tigen könne, während er ihm doch selbst befohlen hätte, eine gansen rotten gesigen
an. Dass Hildebrant dies ansinnen an den Bemer gestellt habe, ist vorher nicht
gesagt. Wol aber entspricht jene äusserung dem nachher geschehenden. Doch das
kann Hildebrant nicht vorauswissen. 72 igg- ist die Situation sehr unklar. Die bei-
den erfahren den tod ihres herrn und zwar nach 84, 3 von einem wildenare, sie
trennen sich, um Hildebrant aufzusuchen, einige stossen auf Dietrich, von dem sie
erschlagen werden, immer neue dringen an , er muss bis zum morgen kämpfen (97, 1),
da endlich komt ihm Hildebrant zu hilfe. Und doch hat dieser vorher so grosse Sehn-
sucht, seinen herrn wider zu sehen, dass er nach der besiegung des Orkise sofort mit
der Jungfrau zu ihm aufbricht; der weg dahin kann auch nicht allzu weit sein, haben
doch vorher Hildebrant und Dietrich von der stelle aus , wo der letztere nachher zu
verweilen angewiesen wurde , den klageruf der Jungfrau gehört (22, 1). In str. 404, 12
behauptet Dietrich sogar, fünf tage gekämpft zu haben, ehe Hildebrant erschienen
sei. 83 und 64 widersprechen sich; letzterer strophe zufolge weiss Orkise nicht,
warum seine leute ihm nicht zu hilfe kommen, in der ersteren wird dagegen erzählt,
dass er selbst ihnen befohlen habe zurückzubleiben und ihn allein kämpfen zu las-
sen. 143, 5 fgg. hört Bibunc den kämpf Dietrichs und Hildcbrants mit den drachen,
doch als er auf den Schauplatz des Streites komt, sind beide längst fort und er trifft
sie erst zu Arone, nachdem sie bereits gegessen haben. 263, 13 beträgt die zahl
der getöteten würme 72, dagegen 271, 10 me dan hundert. Dass die herzogin Por-
talaphe den rat gegeben hätte (266 , 12) , den brief an die Virginal zu schreiben , ist
im vorhergehenden nicht berichtet. 279 lügt Bibunc, wenn er seiner gebieterin
erzählt, dass er gleich nach aufhebung der tafel gebeten habe, ihn wider heim zu
senden. Er hatte sich nach str. 241 erst 14 tage ohne gewissensbisse auf Arone
amüsiert, ehe er jenen antrag stellte. Seiner eigenen aussage zufolge reitet Bent-
win 180, 1 einen tag und eine nacht , bevor ihn die verhängnisvolle müdigkeit über-
wältigt; Bibunc lässt ihn zwei tage und ebensoviel nachte (283, 7) reiten. Was
292, 10 fgg. erzählt wird, ist vorher nicht erwähnt worden. Wie Dietrich 867, 8
dazu komt, sich vorwürfe darüber zu machen, dass er Hildebrant nicht gefolgt sei,
ist nicht abzusehen. Ebensowenig werden wir darüber unterrichtet, woher der riese
weiss , dass es Dietrich ist , den er gefangen hat. Der inhalt der strophon 412 und
413 ist vorher anders dargestellt worden. 417 wird erzählt, dass Hildebrant fbr
ÜB. ALBRECHT V. KBM8NATEN ED. ZUPITZA 239
Dietrich gegen den wurm gekämpft habe, 175 hat er jedoch nur diese absieht, an
deren aosführung er von Dietrich verhindert wird. Auch strophe 420 macht anga-
ben, die im früheren sich nicht finden. 429. Dietrich hat gar nicht geschworen,
sich mit silber zu lösen, sondern nur über die art und weise seiner gefangennähme
dnrch den riesen zu schweigen (326). Die angaben der str. 459 sind gegen die frü-
here erzählung sehr übertrieben. Der dichter hat 491 vergessen, dass der spass von
den Zwergen, welche Hildebrants schild nicht heben können, mit Bibunc 354 sich
zugetragen hatte und nicht mit Beldelin. 538 will Imian dci^ Baldunc Steiermark
schenken, während dies doch nach 543 Dietleip besitzt. 551, 10 ist nicht wahr oder
wenigstens schief ausgedrückt. Sonst ist Orkise stets mit 80 mannen ausgezogen
(1, 9. 30, 3), dagegen lässt ihn der dichter 601 nur selbahtzegest reiten. Aus Ibe-
lins briefe oder Bcldelins berichte kann ferner Hildebrant 604 nicht wissen , dass der
riese, in dessen gewalt Dietrich sich befindet, Wicram hcisst. Woher hat er also
diese künde? Völlig sinnlos sind die str. 703 — 705. König Imian fragt den Hilde-
brant, obwol er dies schon 542 durch Bibunc erfahren hatte, nach dem aufenthalts-
orte Dietrichs. Ohne sich um diese frage zu bekümmern, erzählt nun Hildebrant
durch zwei strophen hindurch die uns schon so oft vorgetragene geschichte, wie er
den Orkise und Dietrich dessen begleiter getötet habe. Am Schlüsse seiner ausein-
andersetzung scheint er sich jedoch bewust zu werden , dass er eigentlich recht unge-
höriges geredet habe, denn er bricht plötzlich ab. Er beantwortet jedoch auch jetzt
nicht Imians frage, es heisst vielmehr: sus Miezen si die rede ligen. Wenn Gemot 747
sagt : nu ligewt der risen ehtwe tot , so rechnet er , da bisher nur sieben Zweikämpfe
stattgefunden haben, den von Dietrich früher getöteten Grandengrus mit; nicht wird
dieser aber 728 mitgezählt, wo es heisst: nu sint der nsen zwene ervalt, Adelrant
und VellenwaU, 778, 5 fgg. spricht Dietrich zu Hildebrant, als ob der letztere die
Ibelin bisher noch nicht gesehen habe und er ihn mit ihr bekant machen müsse. Doch
Hildebrant kent sie, er hat ja 770, 10 mit ihr zusammen bei tische gesessen. Kecht
unpassend setzt 811 fgg. Hildebrant Dietrichs erzählung fort und berichtet, was doch
nur dieser wissen konte. 817, 1 widerspricht 518 fg. 859 machen sich die beiden
auf die reise zur Yirginal. Sogleich kam gen in geschozzen vil manec vnirm her
unde dar und woltens da verbrennen und 860, 4 die wivrme schuzzen gegen in dar.
In demselben augenblicke erscheinen aber 11 riesen. Der kämpf mit ihnen begint,
sie werden der reihe nach erschlagen. Wo bleiben inzwischen die drachen? entwe-
der haben sie geschlafen wie der dichter , oder sie sind fortgegangen , weil sie die
helden bereits durch den kämpf mit den riesen beschäftigt fanden und sie dabei nicht
stören wollten. Denn 895, 3 nach dem falle der riesen hören die recken die stimme
eines alten wurmes, der kam geschozzen gegen in dar. Der schluss des ganzen
gedichtes ist völlig verfehlt und befriedigt nicht Man verlangt irgend eine lösung.
Die natürlichste wäre die heirat Dietrichs mit der Virginal und Baidungs mit der
Yalentrins. Auf die letztere ist im verlaufe des Werkes mehrfach hingewiesen (267,
13 fgg. 302, 5. 538, 8); auch die erstere hatte der dichter im äuge: Virginal selbst
erwartet sie, ja sie trägt sich ganz unverhohlen 974, 10 und 1055, 12 dem Dietrich
an. Zu ihren Jungfrauen sagt sie 1030, 9 : machent al iuwer här reit diu minne wil
iu nahen. Dietrich selbst und seine ritter sind verliebt, aber es komt zu nichts.
Um nur die zeit hinzubringen, wird zweimal getanzt, zweimal tumiert und entspre-
chend oft gegessen. Dabei langweilen sich aber die recken dennoch, ¥rie dies Die-
trichs frage 1031, 3 wes wßUen wir heginnen? zeigt. Um nur dieser peinlichen
Situation ein ende zu machen, muss als deus ex machina ein abgesanter aus Bern
erscheinen und Dietrich mit absetzung seitens seiner Untertanen drohen, wenn er
240 STEIKMETBB
nicht eiligst zurückkehre. Von einzelnen ungenauigkeiten innerhalb dieser letzten
partie bemerke ich folgende: 1017» 6 ist früher unbekant. 1022, C fgg. ist vorher
anders dargestellt" worden. Wer sind endlich die 2000 mann, die 1081, 9 mit Die-
trich nach Bern reiten ? Das heer betrug nach 843 ungefähr 60000 mann vor Muter,
gefallen ist niemand. Wo sind die 58000 geblieben? Wider nach hause können sie
doch nicht abgeritten sein, denn Imian verabschiedet sich erst zu Bern 1094 von
Dietrich.
Fassen wir kurz zusammen, was aus dem vorhergehenden sich für die Charak-
teristik Albrechts ergibt, so dürfte sich das bild etwa folgendermaassen gestalten.
Im grossen und ganzen mag wol der dichter, ehe er an die ausführung schritt, sich
einen plan für seine erzählung gebildet haben, doch diese selbst ist weit weniger
eine fortschreitende handlung als eine reihe lose verbundener Schilderungen. Mit
lebhafter phantasie malte er die einzelnen bilder aus ; kam er im verlaufe seines Wer-
kes auf ein früher dargestelltes ereignis zurück ^ muste er es einer bei demselben
unbeteiligten person erzählen lassen, so trat es mit allen seinen einzelnheiten wider
vor seine seele, er reconstruierte es. Warum sollte es sich der leser nicht auch wider
vorführen lassen wollen? Das interesse, das Alb recht selbst an den Schicksalen sei-
ner personen nahm, setzte er auch bei seinen lesem (oder hörem) voraus. Dass bei
derartigen reconstructionen sich das bild häufig verschob und Widersprüche entstan-
den, ist erklärlich. Doch bei seiner Icbhaftigkeit fehlte dem dichter die klare
anschauung, seine phantasie gieng sprungweise und seine detailmalerei hatte zur folge
dass er über dem einzelnen den Zusammenhang des ganzen öfter vergass. Durch die
zahlreichen widerholungen war der umfang des Werkes weit über die ursprüngliche
absieht hinaus gewachsen und hatte natürlich auch entsprechend längere zeit der
arbeit gekostet: so mochte dem alternden dichter die lust ausgehen, das werk nach
dem früheren plane zu vollenden und er griff gerne nach einem mittel, welches
wenigstens einen äusserlichen abschluss zu wege brachte. Die mehrzahl dieser
momente Hessen sich, glaube ich, auch aus der spräche und insonderheit dem satz-
baue Albrechts nachweisen. Ohne auf diesen punkt weiter einzugehen mache ich
nur auf den häufigen Wechsel im gebrauche von du und ir, zuweilen in demselben
satze , aufmerksam ; ferner auf die Übergänge iu der anrede , so dass mit demselben
pronomen kurz hintereinander zwei verschiedene personen bezeichnet werden, ohne
dass man diesen Wechsel anders als durch den sinn erraten kann. So z. b. in str. 64.
Endlich noch ein charakteristischer zug von Albrechts spräche. Zwei zusammen-
gehörige Zeilen werden (dies ist so häufig , dass ich bcispiele nicht aufzuführen brau-
che) durch eine dritte dazwischengeschobene getrennt, welche eine folge jener beiden
oder einen sie begleitenden umstand erzählt.
Die mängel der Virginal werden dem publicum des dichters ebenso wenig
entgangen sein wie sie uns entgehen. Aber der muntere bänkelsängerischo ton, der
inhalt und der ansprechende bau der strophe überwogen zu gunsten der dichtung.
Es gab ja auch mittel, jene anstösse fortzuschaffen oder wenigstens zu verringern.
Man versuchte es auf verschiedene weise. Die eine bestand in der kürzung; das
gedieht wurde bedeutend ansprechender, wenn jene unzahl von widerholungen fort-
fiel. Doch damit war dem Schlüsse des gedichtes noch nicht geholfen. Da2u bedurfte
es einer völligen Umarbeitung. Eine solche ist auf uns gekommen. Von ihrer
ursprünglichen gestalt besitzen wir allerdings nur bruchstücke, welche Lexer im
13. bände der Zeitschrift herausgegeben hat. Zupitza nent sie f. Es sind die bei-
den äusseren doppelblätter wahrscheinlich des zwölften quatemionen. Ich bemerke
beiläufig, dass bei Zupitza s. XI, wo er diese reste bespricht, hinter 356, 2 — 357, 13
ÜB. ALBBBCHT V. KBMINATBH BD. ZTPITZA 241
die zahlen 358, 1 — 12 ausgelassen sind. Sprache und reime gestatten diese bearhei-
tung noch ins 13. Jahrhundert zu setzen. Auf ihr basiert sodann die Wiener pia-
ristenhandschrift, welche, wie bei den meisten in ihr enthaltenen stücken, so auch
hier in der hauptsache den Inhalt nicht anrührt, sondern nur die form soweit ver-
ändert als dies die neuen sprachformen und die neue silbenzählende metrik verlangte.
Vergleicht man diese handschriffc (w) mit dem gedichte Eemenatens, so wird man
die meisten der oben gerügten Unebenheiten beseitigt finden; besonders ist aber der
schluss befriedigender geworden. Zu derselben bearbeitung gehört endlich die Ver-
kürzung des Dresdener heldenbuches , doch ist dieselbe unabhängig von w, wie dies
die namen Rentwein und Macitus gegenüber den entstellungen in w, Rotwein und
Madius beweisen.
Auf das Dresdener heldenbuch etwas genauer einzugehen hätte Zupitza wie
hier so auch s. LI nahe gelegen. Dass er es nicht getan hat, ist ihm allerdings
nicht in dem grade zum vorwürfe zu machen , wie dass er s. XXXll über die spätere
recension des Sigenot schweigt und uns mit den Worten abspeist: „weiter darauf
einzugehen muss ich dem Überlassen , der eine ausgäbe der bearbeitung liefern will/'
Wann wird sich wol dazu jemand finden! Pflicht eines herausgebers ist es, nicht
nur das edierte denkmal seiner ursprünglichen gestalt möglichst nahe zu bringen,
sondern auch seine geschichte vom anfange bis zum ende darzustellen. Die spätere
gestalt des Sigenot hier zu besprechen bin ich leider nicht im stände, da mir das
material fehlt , dem Dresdener heldenbuche will ich aber einige worte widmen. Zamcte
hat in der Grermania 1, 53 — 63 nachgewiesen, dass Kaspar von der Roen, den man
früher fölschlich für den Verfasser der ganzen samlung hielt, nur einer der Schrei-
ber der handschrift gewesen ist. Bedürfte dieser nachweis noch einer stütze, so
liesse sich diese durch folgende beobachtung geben. In allen von Kaspar geschrie-
benen stücken mit alleiniger ausnähme des Wunderers , nirgends dagegen in den par-
tien der anderen band komt sporadisch ein zeichen vor, das von der Hagen mit tc
widergibt. Wie es in der handschrift aussieht, erkent man aus Zamckes facsimile.
Ich vermute es ist ein Schnörkel, den Kaspar machte, wenn er im schreiben absetzte.
Darin bestärkt mich der umstand , dass es sich regelmässig am Schlüsse der gedichte
findet. Auch in anderen handschrifen der zeit und am ende von Urkunden hftbe ich
das zeichen einigemal bemerkt. Ist also Kaspar nicht der Verfasser der 11 gedichte,
so fragt sich, ob ¥rir einen oder mehrere Verfasser anzunehmen haben und dann,
wohin die entstehung der samlung zu setzen ist. Ich versuche die zweite frage
zuerst zu beantworten. In allen stücken herscht die gleiche spräche wie in den
Nümbergischen fjastnachtsspielen. Einige gleichartige ausdrücke und redensarten
stelle ich hier zusammen, (idern auszerm fastnachtsp. 596, ze%icht etich atu eur
odtr 0. 219, aUpot ll(i R. 209, complex sehr häufig Wund. 44, drus und petikn 173,
178, 539 L. 80, 220, fortel 1290 L. 232, gedymd 1198 L. 266, Wund. 169, gespei
sehr häufig 0. 121, gloen 1296, 1300 Wund. 182, zu hauffen schlagen 1281 L. 298
u. ö., fwrp€LS hauen 240, haw hin 1280, von hmen hawen Yirg. 85, litze 1485 u. ö.
L. 301 , pafikhart 67, 68, Wolfd. 96, subtü 71, 1173, Virg. 130, ungelachsen 301,
768, R. 188. Es lässt sich diese samlung noch bedeutend vermehren. Ebenso zei-
gen die reime viel übereinstimmendes, so tan für tuon, nü und nicht abwechselnd,
der inf. fregen == fragen, praet. stand, luff, luffen für stuont, lief, liefen, part.
geloffen, genung für genuoc, werden, pf erden mit ausfall des d im reime und vieles
andere mehr. Auch in der satzfügung zeigt sich mannigfache Übereinstimmung.
Alles weist dahin, dass wir die entstej;iung der samlung in dem kreise der Nümber-
gischen meistersänger — wenn wir Rosenplüt und Folz mit ihren genossen diesen
ZSITSCHR. F. DEUTSCHS PHILOLOGIE. BD. UI. 16
242 STBIMlfETBR
namen beilegen wollen — zu suchen haben. Stilistisch sind allerdings diese pro-
ducta bedeutend schlechter als Rosenplüts und Folzs gcdichte; doch ist dabei zu
bedenken, dass hier keine freie selbständige dichtung wie bei diesen vorliegt, son-
dern Überarbeitungen. Und in schwachen stunden konte auch Folz verse machen,
die denen des Dresdener beiden buchs auf ein haar gleichen, so z. b. 1270: sprach
„das tut in gedechtnus mein, gib ins zu tranck tund speise.'' Gemein ist endlich
auch den fastnachtsspielen und dem Dresdener heldenbuche die derbheit des tones.
Wenn ich mich jetzt zu der zweiten frage wende , so muss ich zuerst die von Zamcke
a. a. 0. 58 aufgestellte meinung zurückweisen, dass die von dem zweiten Schreiber
aufgezeichneten stücke, welche sich ihrer Verkürzung rühmen (Ortney, Wolfdietrich,
Virginal) , diesem selbst ihre jetzige verkürzte gestalt verdanken ; er glaubt daas der-
selbe, um sich seine arbeit zu erleichtem, so verfahren sei, und bringt damit in
Zusammenhang, dass sein name den stücken nicht wie der Kaspars zugefügt sei; er
habe gefehlt, dass er mit seiner arbeit grosse ehre nicht einlegen könne. Damit
steht aber der umstand in Widerspruch, dass die postscripta der drei gedichte sich
deutlich ihrer Verkürzung rühmen, und dass es bei weitem grössere mühe gekostet
haben wird, diese verkürzte fassung herzustellen , als die ausführlicheren vorlagen wort-
getreu abzuschreiben. Auch ist nicht zu leugnen , dass ein gewisser takt in der Ver-
kürzung sich zu erkennen gibt: wichtiges ist kaum irgendwo ausgelassen worden.
Beim Ortnit und Wolfdietrich lässt sich das verfahren controllieren , nicht so bei der
Vltginal , weil uns die bei derselben benutzte vorläge von 408 Strophen nicht erhalten
ist. Der verkürzer bemühte sich möglichst die reime des Originals zu benutzen , frei-
lich suchte er sich dieselben aus verschiedenen Strophen zusammen. So oft im Ort-
nit die form Ortmt im reime vorkomt, so ist sie der vorläge entnonmien, der bear-
beiter schrieb Ortney. Ebenso sind in Ortnit imd Wolfdietrich fast sämtliche reime
von niht und nicht aus dem originale; wo der verkürzer ganz selbständig verfuhr»
setzte er nü. Um zu zeigen, wie die reime der vorläge und diese selbst — beiläu-
fig gesagt, lag beim Ortnit eine handschrift vor, welche im allgemeinen der Ambras -
Wiener handschrift entsprach, die aber auch lesarten hatte, wie sie der Monesdie
text bietet, vgl. 192: und mich ert an mdm pet :== Mone 405: er wü mich verirren
vü gar an minem gebet, während bei Hagen 391 steht: „lä mich durch mine bet" —
benutzt sind, lasse ich einige beispicle folgten. 0. 240: toas tut gen, reiten , fairen
mag nichs vor in bestee = Hagen 494: so wten ich in dem lande vor in iht da
beste. 256: sie hat allein dttrc/i meines vatcr und muter verhorn: ich weis, stürb
unser eines, das ander wer verlorn = Hagen 525: diu vater unde muoter dur^
mich hat verkam, ich weiz tool, stirbe ich eine so st wir beide vlom. Wolfd. 176 fg.
die teufel er do vant .... und schlug sie umb die want das waren merwunder «^
Hagen 465: diu ungefüege helle und die tiufel dier da vant die todm des meres
unde und sluogen an die steinwafU. Wolfd. 201 : her reit ein reuter von feren ■«
Hagen 514: Keinem riuUere. Schon aus diesen wenigen proben ist ersichtlich, dass
zur hersteliung eines gedichtes in dem falle, dass die vorläge uns verloren ist (wie
beim Schlüsse des Wolfdietrich) diese Verkürzungen keine mittel an die hand geben.
Der Verfasser des Ortnit und Wolfdietrich war ohne zweifei derselbe; auch für die
Virginal ist es mir wahrscheinlich. Im gegensatze zu diesen drei verkürzten gedioh-
ten stehen der Laurin und der Wunderer. Beide zeichnen sich durch eine entseti-
liche breite aus: man lese nur die unendliche Schilderung von Laurins waffen-
schmuck und im Wunderer die beschreibung der ausfluchte Etzels und der angst» die
die Jungfrau ausstehen muss, ehe sie einen kämpfer findet. Zupitza meint allerdings
s. LI , dass der Wunderer in der ursprünglichen gestalt uns erhalten sei. Dun ist
Ob. albbbcht v. kxmbiatin bd. züpitza 248
dabei entgangen , dass in den fastnachtsspielen nr. 62 ein spü van dem Pemer und
dem wundrer mitgeteilt ist, welches an einigen stellen wörtlich mit unserem gedichte
übereinstimt nnd im ganzen dieselbe grundlage voraussetzt, wie dieses. Die ftber-
einstimmenden stellen aber zeigen in dem „9pü" eine reinere gestalt als im wun-
derer. So Wanderer 161: heU, wütu mt lenger Uiben das du dein leben here wüi
umb eine pubin gd>en 9 im vergleich mit spü 550 : du junger narr, wiUu dein leben
hie umb ein pose pubin geben ? Ich kann mir jene breite im Laurin und wunderer
nur dadurch erklaren, dass ich eine — ungeschickte — Übertragung aus reimpaaren
in die strophenform annehme. Für den Laurin hat bereits Müllenhoff (DHB 1,
293) wahrscheinlich gemacht, das» seine quelle nur das alte gedieht selbst sei,
keine strophische bearbeitung desselben. Vielleicht dürfte auch in den Worten des
Laurin 290 : soli man das als durchgrynden .... als mans in der Schrift thut fin-
den: das vnwd 8u vü im gesanck dieser gegen satz zu finden sein; schriß als reim-
paare, gesanck als strophische bearbeitung. Denn dem gesange sollten diese Umar-
beitungen dienen, darum muste eben die Umsetzung in Strophen erfolgen. Vom
wunderer hat sidi (Kalkf » erzählungen aus altdeutschen handschriften 1) ein aller-
dings sehr abweichendes fragment in. reimpaaren erhalten. Der rosengarten erscheint
im Dresdener heldenbucho nicht erheblich, gekürzt; was würde auch bei ihm geblie-
ben sein, wenn dieselbe manier wie beim Ortnit angewant worden wärel Man mag
an den Zweikämpfen besonderes vergnügen empfhnden haben, sonst würden sie ja
nicht im Laurin so breit ausgeführt worden sein. Die besprochenen sechs stücke
scheinen von demselben Verfasser herzurühren, wenigstens laasrt sich nichts erheb-
liches beibringen , das dieser annähme widerspräche. Von den Übrigen stückfia hat
der Ecke eine Überarbeitung nicht erlitten, er entspricht den gedruckten exemplareav
dagegen liegt beim Sigenot zwar auch ein text zu gründe, wie wir ihn in den ver-
schiedenen fassungen der drucke besitzen , er scheint aber überarbeitet zu sein. Dies
ergibt sich aus den häufigen stellen , an denen durch Vermischung zweier construc-
tionen unsinn entsteht. Man vergleiche str. 11 : ob eudi der ungefüge mcM mii sig
gegen euch gelungen, dar noch so wolt ich in bestan ob es mein ende wereßko sprach
der so lobesan der edel Fernere mit dem drucke (nur der von Schade herausgege-
bene steht mir 7.u geböte) und ob der ungefüge man, herr, euch wurde eu schwere,
darnach so wiU ich in bestan das es mein ende were, da sprach der fürst so hoch-
genant {lobesant in dem bruchstücke eines Sigenotdruckes zeitschr. 5 , 248) , 86 : und
das ich van jm danne und vmrd ich den van jm erslagen mit ab ich van jm wurd
danne auf dieser fteid zu tadt erslagen, 62: er weckt jn nit mü der hende und gab
jm mit dem fuss einen stoss mit dem fuss in sein pruste mit er wöü in mU der
hande nicht wecken und gab jn einen stoss mit eim fuss auff die pruste, endlich 83:
da^ fauer das auss deinem munde gat ich weiss nit, wer dich getragen halt mit von
fewr das omss deinem munde gat, weiss nicht, wers in dich tragen hat. Von der Ha-
gen hat an diesen stellen durch einklammerungen meist richtig den von dem Über-
arbeiter beabsichtigten sinn hergesteUt. Die Vermischung zweier constructionen erkläre
ich mir daraus, dass der Überarbeiter ein exemplar des Sigenot vor sich hatte und
in dasselbe seine änderungen eintrug. Er vergass vielleicht manches nun nicht mehr
passende auszustreichen, einiges war auch durch die correcturen unleserlich gewor-
den, daher das wunderliche durcheinander in Kaspars reinschrift Es ist möglich,
dass auch bei den Verkürzungen (Ortnit usw.) ähnlich verfahren wurde, denn man-
che unzuträglichkeiten fallen sicher dem Schreiber anheim. Wie es mit dem Hilde-
brandsliede im Dresdener heldenbuche steht, weiss ich noch nicht, das Meerwunder
aber halte ich mit Zupitza s. LI für ein originalwerk des 15. Jahrhunderts. Die
16* .
244 8TEINHSTEB> ÜB. ALBRBCHT V. KEMSRATBN BD. ZUPITZA
fabel hat auch Hans Sachs , s. Grimms d. sagen nr. 405. Die Verkürzung des her-
zog Ernst ist eine wesentlich andere als die beim Ortnit usw. Sie beschränkt sich
auf auslassung ganzer Strophen und lässt das gedieht sonst unangetastet. Zu beach-
ten ist dabei, dass der Ernst und das Meer wunder erst nachträglich eingeheftet sind.
Mit ausnähme dieser beiden und des Ecke und mit jener beschränkung beim Sigenot
glaube ich dass die übrigen stücke von eiuem Verfasser herrühren.
Ich kehre nach dieser abschweifung noch einmal zur Yirginal zurück. Die von
dem Schreiber ausgelassenen verse hat Zupitza nur zum kleinen teile ausgef&llt. Für
eine anzahl derselben lasse ich hier ergänzungen folgen und füge zugleich einige
besserungsvorschläge bei. 57, 13 ist wol in für i/r zu schreiben , da vorher nur Ton
den frauen der Yirginal die rede war und der Übergang auf diese selbst hier doch
gar zu rapid erschiene. 265 , 2 ist etwa zu ergänzen: {wan er ist vil sere wtmt),
276, 2 dar üf die helde iiberal, 858, 3 schlage ich für das handschriftliche gegen
den schmpfe (: wazzertrüpfe) zu lesen vor daz ist gein dem ein stüpfe (mittelhochd.
wörterb. 2, 2, 659*) wie man sonst strö, spriu zur Verstärkung oder Vertretung
der negation verwendet. Auf diesen ausdruck führt auch w 544 der mir kund freüd
verstopfen. 379, 12 klingt erforsche etwas aufföllig, ich würde lieber ervreische
lesen. 382 , 2 hat die handschrift tn manegem wasse lac ein stein hi kern Dieteriche.
Die stelle ist vielleicht so zu verbessern: ame weisen lac ein mangenstein. Wollte
man dagegen einwenden, dass Dietrich im geföngnis sich befindet und daher vom
rasen nicht die rede sein könte , so liesse sich entgegnen , dass die jungen ritter
nicht in Dietrichs zelle ihre gymnastischen Übungen anstellen werden. Die zeile
würde vielmehr widerum für die überall hervortretende unklare anschauungsweise
Albrechts zeugen. 495, 5 ergänze ich: dae ich iu sage daz ist war, 496, 2: daz
mich die risen sus hänt vlorn (in der vorhergehenden zeile muss doch wol für der von
Beme geschrieben werden der Hemer), 570, 5: daz st salec miiezen stn, 608, 3 fg.:
die mit iu koment üf den plan, und weint vr wns ze Berne län , 685 , 7 : kumt ir
niht in den holen berc. 721, 7 fgg. ist die interpunction abzuändern: der künec
muoste ef^Uden daz sich die starken schUde bugen {dar üz so vielen stucke), dar
under si sich dicke smugen. 782, 8 kann- wol nur tirtne (im reim auf schirme)
gestanden haben; die handschrift hat es vielleicht selbst, denn arme und tirtne kön-
nen täuschend ähnlich geschrieben werden. 901, 9 fg.: vor einer höhen Steines want
er mich von in erlöste, 1047, 2 lese ich : krijierten für priviertent. So hat in der
vorhergehenden zeile die handschrift für kriren. 1093, 5: daz ir nmgt wwnnee-
liehe leben.
BBRUN, IM OCTOBER 1870. ELIAS 8TBINMBTSR.
Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen
Geistes von R. Uaym. Berlin, R. Gaertner 1870. XII und 951s. gr. 8.
4 Thlr.
Jene bedeutende geistige bewegung, welche den klassischen idealismus des
18. Jahrhunderts stürzen und einen poetischen Universalismus als herscher des lebens
der nation aufstellen wollte, hat bis vor wenig jähren genauer geschichtlicher for-
schung entbehrt Gervinus und Julian Schmidt hatten allerdings mit viel geist und
grosser bewältigung des pragmatischen Zusammenhanges die romantischen dichter
und ihre werke besprochen, und Hcttner in einer seiner ersten schrii'ten eine Studie
WinVHOLD, ÜB. HATM, BOMANT. BCHVLB 245
über die schule gemacht; aber die urkundliche geschichte blieb unversucht. Selbst
R. Eöpkes treffliches buch über L. Tieck stellte den gefeierten dichter zwar leben-
dig, aber durchaus nicht mit diplomatischer genauigkeit dar, dass die arbeit auch
nur für diesen einen als getan erklärt werden könte.
Da gab Eoberstein in dem unschätzbaren dritten bände seines grundbau eher
als grundriss zu nennenden Werkes die sammelfrüchte eisernen fleisses auch Über die
romantiker auf den markt, zwar nicht bequem auf breiter übersichtlicher tafel, aber
doch in vielen körben und nestchen für suchende liebhaber zum fund und nutzniess
leicht genug verpackt. Nicht alle, welche Über jene männer schreiben, werden so
dankbar wie R. Haym Kobersteins gedenken. Dass er aber sehr eifHg benutzt wer-
den wird, und von vielen als einzige quelle, die weiteres graben unnötig mache,
wer wollte daran zweifeln?
Vor uns liegt nun Rudolf Hayms romantische schule. Mit freuden begrüssen
wir darin die erste wirkliche geschichte jener merkwürdigen bewegung, deren Cha-
rakter gleich anfangs des herm Verfassers gutes wort bezeichnet, dass der gegen-
wärtige sinn für das reale und das einfach wahrhaftige auch der litteraturwissenschaft
zu gute kommen müsse.
Das werk erzählt nicht die ganze geschichte der schule, sondern ihre anfange
und die entwickelung bis zum ende der blütezeit, das durch Schellings identitäts-
system , Fr. Schlegels Europa und W. Schlegels Berliner Vorlesungen bezeichnet wird.
Das ganze ist in drei büchcr verteilt: das entstehen einer romantischen
poesie, das entstehen einer romantischen kritik und theoric, und die blütezeit der
romantik.
Gegenstand des ersten buche» ist begreiflich L. Tieck , dessen anfange , märchen-
und komödiendichtung und Verbindung mit Wackenroder eingehend dargestellt wer-
den. Der Stembald, in welchem nach Fr. Schlegel der romantische geist angenehm
über sich selbst phantasiert, bewies nach der freunde urteil, dass die romantische
poesie eine lebendige macht sei. Tieck hatte mit Wackenroders deutscher kunstan-
dacht seine überidealistische behandlung des vnrklichen lebens hier verschmolzen, zu
der er sich allmählich aus teils nüchternen , teils grellen anfangen unter W. Meisters
anleitung heraufgearbeitet hatte.
Das zweite buch beschäftigt sich mit dem Schlegelschen bruderpaare bis in
die Jenenser zeit und in die tätigkeit für das Athenaeum. Friedrich erscheint zuletzt
als mittelpunkt des kreises, indem seine lehre von der Ironie die verschiedenen rich-
tuiigen der genossen sehr wol zusammenhält
Das dritte und letzte buch ist der eigentliche Schwerpunkt der Haymschen
arbeit. Schon äusserlich noch einmal so stark als die beiden andern zusammengenom-
men, tritt mit der ganzen fülle der geschilderten personen und tatsachen auch ein
reicheres quellenmaterial hervor , das dem Verfasser in dem zuerst durch Dilthey geöff-«
neten Böckingschen schätz des W. Schlegelschen archivs aufgieng.
Das erste capitel behandelt Hölderlin, dessen einfügung unter die romantiker
überraschen muss. Der herr Verfasser kann diese Verwertung seiner studio über den
schwäbischen dichter für das vorliegende buch denn auch nur gewaltsam rechtfertigen,
indem er Hölderlins dichterisches streben einen commentar zu Fr. Schlegels abhand-
lung Über das studium der griechischen poesie nent. Im übrigen gibt er zu, dass
sich Hölderlin von den romantikem , die fast keine notiz von ihm nahmen , in allem
einzelnen unterscheidet und auch mit Wackenroder und Novalis nur eine ganz all-
gemein poetische berührung hat.
246 WBnmoLD, üb. hath, romant. schule
Novalis, den einzigen ¥rirklichen dichter der schule, führt das zweite capitel
vor. An ihn, der zarte poesie, tiefe philosophie and klares lehen verbindet, schliesst
sich im dritten capitel Schleiermachcr , „die wendang zur religion and die ethischen
anschannngen der romantischen schule,'* im vierten Schelling nnd die natnrphilo-
sophie, worauf wir im fünften zu den kritischen häuptem Schlegel zurückkehren und
mit sehr rascher übersieht über den poetischen nachwuchs und die wissenschaftlichen
ergebnisse der schule an das ende gelangen.
Dieser überstürzte , wol durch äussere gründe gegebene schluss steht mit einem
mangel des ganzen buches in Verbindung, der ungleichmässigkeit des aufbaues, den
der herr Verfasser übrigens in der vorrede selbst eingesteht. Daraus ergeben sich
auch die ezcurse, welche unter den ergänzungen erscheinen, und die freilich bei
mehrjährigen litterargeschichtlichen arbeiten, deren druck vor dem abschluss begint,
sehr leicht notwendig werden. Solches verringert übrigens den wert des buches durch-
aus nicht, an dem ¥rir solide arbeit, gesundes und scharfes urteil, richtige Charak-
teristik und als grundlage eine vielseitige wissenschaftliche tüchtigkeit zu rühmen
haben. Dass herr Haym weder mit Bugeschen noch mit Eichendorffschen anklängen
die romantische anfangs - und blütezeit behandeln werde , war ohne zweifei. Er strebt
nach geschichtlicher gercchtigkeit auf grund der taten und worte, nicht geleitet
durch irgend eine doctrin. Er erkent an, dass jene männer edle bildung in vielsei-
tiger anwendung erwiesen , durch zahlreiche kanäle weiter leiteten , gegen die gemeine
menge und die mittelmässigkeit verteidigten und den geist der poesie in leben, sitte
und Wissenschaft hineintrugen, ünberückt durch die romantische zaubermacht spricht
herr Haym es aus, dass nicht die dichtung, sondern die Wissenschaft durch die schule
nachhaltige bereicherung und Vertiefung erfahren habe. Doch komt auch hier nur
der anstoss von ihr, nicht die strenge ausführung und die gewaltige arbeit.
Durch ein günstiges geschick haben wir fast gleichzeitig zwei bedeutende
werke über die romantische zeit erhalten; denn wenig wochen vor Haym ist der erste
band von W. Diltheys Leben Schleiermachers vollendet erschienen. Beide
bücher berühren sich an vielen selten ; nicht blos in dem Schleiermacherschen capitel»
sondern auch sonst, namentlich wo Friedrich Schlegel erscheint. Es ist interessant,
die darstellung des gleichen in beiden büchem zusammen zu halten ; man tue es z. b.
mit der ausführung über die Lucinde (Haym 493 — 531, 875 fgg. ; Dilthey 1, 487—508).
Die hohe bedeutung des Diltheyschen buches hat herr Haym neidlos anerkant. Dil-
they hat aus noch reicheren quellen als er geschöpft und versteht geistreich und
scharfsinnig, lebendig und mit feinem gefühl die Charaktere zu entwickeln, die
lebensbeziehungen darzulegen und die geistigen arbeiten genau und erschöpfend nahe
zu bringen. Mögen beide bücher, Hayms romantische schule und Diltheys Sohleier-
macher, nachdem stille, ruhige Zeiten zurückgekehrt sein werden, zahlreiche freunde
um sich sammeln, die sich in geistige kämpfe und in die taten wissenschaftlicher
und poetischer führer gern versetzen.
KIEL. K. WEINHOLD.
Christi Leben und Lehre besungen von Otfrid« Aus dem Althoch-
deutschen übersetzt von Johann Kelle. Prag 1870. Verlag von Frie-
drich Tempsky. YII und 512 s. Klein -8. 2 thlr.
Der wünsch, das Studium des so schwierigen Otfrid zu erleichtem, bestimte
den Verfasser, diese Übersetzung desselben ganz unabhängig von seiner ausgäbe des
ZUPITSSA, ÜB. OTFBIO, ÜBBRS. V. KBLLB 2^7
originales zu veröffentlichen. Sie soll »^gewissennaasscn als ein fortlaufender com-
mentar das in der grammatik und im glossar gebotene ergänzen.'' Da dieses ihr
hanptzweck sei, habe sein streben dahin gehen müssen, so wörtlich, als nur mög-
lich, zQ übersetzen: nur eine wortgetreue Übersetzung genügte denen, die eine solche
aus sprachlichen oder sonst aus wissenschaftlichen gründen in die band nähmen; eine
freie höchstens den freunden der poesie überhaupt. Man kann diese ansieht nur
billigen, zumal Otfrids werk keineswegs darnach angetan ist, seine leser unter den
freunden der poesie zu suchen.
Man sollte nun aber hiernach denken, dass der Verfasser eine einfache pro-
saische Übersetzung bieten würde: aber nein, er will auch die form des Originals
wahren , er übersetzt metrisch , wenn auch ohne zu reimen. „Vom reim ,'' erklärt er,
„habe ich umgang genommen, da er bei der absieht, eine wortgetreue Übersetzung
zu liefern, nicht durchführbar ist*': gewis richtig, aber ist auch nur die metrische
form in diesem falle durchführbar V und welchen zweck hat diese bei der ausgespro-
chenen bestinmiung der Übersetzung?
Kelle gibt je eine strophe durch vier iambische diroeter Wider, behält also den
stumpfen schluss und die hebungen des Originals bei, füllt aber die Senkungen aus
und lässt den (einsilbigen) auftakt nie fehlen. Ich habe aber drei Strophen nur durch
je drei dimeter widergegeben gefunden; denn 2, 14, 14^ ist
thdz si tJies gieiloti thes wdzares gtholoti
übersetzt mit
y,um weisser sich zu holen hier/'
So auch ebenda 79 und 115. Es ist das sicher nicht absieht, sondern nur versehen.
Ein ähnliches begegnet dem Verfasser in demselben stücke, indem ihm ein vers zu
kurz, ein anderer dafür wider zu lang gerät. Q^ zi einemo gisdze wird durch das
einen ganzen vers bilden sollende „zu Hnem ruheplaz," dagegen 39*" niueit nUnan
brunnan durch „hedierU der quille, die ich ninne mein** widergegeben.
Aber übler, als diese versehen, ist etwas anderes, wozu die metrische form
der Übersetzung genötigt hat. Kelle bemerkt s. V richtig: „um die erforderliche
anzahl von hebungen, zusammenzubringen, um zum reime zu gelangen, hat Otfrid
oft Überflüssige Wörter eingeschoben, weitläufige Umschreibungen gebraucht, und sich
hier und da verwickelter constructionen bedient" usw. Nun erwäge man aber: Otfrid
lässt oft die Senkungen fehlen, sein Übersetzer füllt sie aus; jener kann zu der
hebung am versschluss auch tieftonige, dieser ausser bei compositb nur hochtonige
Silben brauchen; die althochdeutsche spräche hat volltönende formen, die neuhoch-
deutsche bedeutend geschwächte und zusammengeschrumpfte — man erwäge das, und
man wird sich von vornherein sagen müssen, dass Kelle zu den flickwörtem und
Umschreibungen Otfrids neue fügen und in verwickelten constructionen es ihm nach-
tun wird.
Und das bestätigt sich denn auch sofort bei einer vergleichung der Übersetzung
mit dem original. Von flickwörtem wimmelt sogleich das erste, was wir bei Kelle
lesen , was wunderlicher weise das zweite kapitel des ersten buches , „Otfrids gebet,''
1) Ich zahle, wie es bei Otfrid ja allgemein üblich, nach langversen , Kellein der
Übersetzung nach halbversen.
248 zvpiTZA
ist. Es heisst da» indem ich die flickwörter des Übersetzers durch gesperrte schrift
hervorhebe :
wohlan denn nun, o du mein herr! ich bin, fürwahr, dein diener ja,
und sie, die arme muUer mein, sie ist ja deine eigne magdf
So lege deinen finget nun an meinen, deines diener s, mund,
und strecke aus auch deine hand auf meine zunge , grosser gott,
auf dass ich überall dein lob ertönen lasse und verkünd\^
wie einst geboren ward dein söhn der aller weit und mir gebeui^
nsw. Es wird jeder zugestehen müssen , dass das keine wortgetreue Übersetzung ist.
Oft braucht der Übersetzer statt eines einfachen wertes im original ein compositum
oder umsclireibungen , wodurch zum teil fremde Yorstellnngen in das werk hinein-
getragen werden. Man vergleiche z. b. 1, 5, 3 fgg. :
da kam ein böte unsers herrn, ein engel aus dem himmelszelt,
und brachte diesem Jammertal die höchste künde, die es gibt
Er flog den pfad des sonnenballs, er flog die strass^ des sternenalls,^
er flog die weg' der wolkenwelt zur Jungfrau, die dem herrn gefällt,
zw fr au, der add wohnet in , zur Jieüigen Maria hin,
im original himile, worolti, diuri ärunti, stmnün, sterrönö, wolkonö, fröno. So
wie hier, wird auch sonst sehr oft diuri umschrieben , so gleich v. 12 diwrero gamo
mit „aus garn von übergrossem wert,'' wo auch der zweite halbvers t?MZ deda sin
io gh'no durch „die lieblingsarbeit war es ihr'' meiner ansieht nach nicht besonders
glücklich widergegeben ist. Ich greife sonst noch einige stellen heraus , 1,5,2:
after rime „vne man zu zählen ist gewohnt;" 32 nmnne, „jedwedem der die erd"
bewohnt;** 47 in himüe „hoch über diesem erdenraum;" 58 in beche „in tiefetn
höllenschlund;*' 1, 18, 4 ni girinnit mih thero wörte „doch fehlt es mir an Wör-
ter scJiatz** usw.
An sich kann man gegen die Übersetzung dieser stellen meist nichts einwen-
den, wol aber z. b. gegen den gebrauch von „auch" in stellen, wie 1, 17, 60 „und
fanden dort den guten söhn zugleich mit seiner mutier auch" und 2, 14, 96 „er
möchV zum mahle endlich doch sich nidersetzen, essen auch." „Das schwerfallige
und unbeholfene liegt" hier nicht „bereits im original" (s. V); ebensowenig 1, 17,
73, wo der vers sie wurtun släfente fon ingüon gimänote so zerdehnt wird: „die
magier befiel der schlaf, die enget aber mahnten sie.*' Von ganz unerträglichen Wort-
stellungen erwähne ich 1, 17, 13 „sie fragten überall im land, wo er geboren wäre
nur;" ebenda 69 fg. „lasst alle uns beachten wohl, dass sie mit dieser wundergeib^
in Wahrheit nur, was glauben wir, verkündeten der ganzen weit;" und 1, 2, 50
„dass ich erfülle deinen dienst und etwas andres wolle nicht.**
Sehr mislungen ist dem Übersetzer die widergabe von 1, 5, 16: der engel
Gabriel redet die Jungfrau an mit
dllero wibo gote zHzosto!
bei Kelle:
„heil dir, die aus der frauenweit als liebste sich der herr gewählt"
•
1) 8i lütentaz.
2) giburt tiints thines, drühtiftfs mines.
3) Ad dieser stelle ausnahmsweise reim, so auch ebenda v. 13 fgg.
ÜB. OTFBID, ÜBEB8. V. KELLB 249
«
Freilich ist es sehr schwer ans 10 althochdeutschen 16 neuhochdeutsche silben heraus-
zubekommen , aber so sonderbar hätte Kelle doch nicht übersetzen sollen , da man
„als liebste** beim ersten lesen misverstehen muss.
Alles das wird allerdings einen leser, der die Übersetzung aus sprachlichen
gründen braucht» wenig stören. Auch das wird nicht viel schaden, wenn vielleicht
der eine oder andere anfanger im Studium des althochdeutschen, im glauben eine
wortgetreue Übersetzung zu befragen, wenn er 1, 17, 58 im original liest:
mit sineru ferti was er iz zeigonti
und bei Kelle:
„mit seinem licht am himmelszelt wies er sie zu demselben hin/*
oder 2, 14, 5. 6:
zi einera bürg er thar tho quam
in themo dgileize
„und kam daselbst zu einer Stadt,
gerade in der mittagszeit''
wenn dieser meint, fort könne „licht am himmelszelt** und agileizi „mittagszeit*'
heissen.
Aus dem bisher bemerkten wird sich jedem ergeben , dass man die Übersetzung
keine wertgetreue nennen kann: sinngetreu jedoch ist sie in der vollsten bedeutung
des Wortes, wenn mir auch bei den teilen, die ich genau durchgegangen bin, einige
stellen aufgestossen sind, die unrichtig übersetzt sind. Bei einzelnen ist eine bei
dem souöt nur zu gründlichen Verfasser doppelt auffallende flüchtigkeit daran schuld.
Eine solche zeigt sich z. b. 1, 1, 87:
las iCh ju in alawdr in einen büachon, ih weiz war,
Kelle :
j.ich las auch einst in einem buch, doch weiss ich nimmer, wo es war;**
es schwebte ihm statt weiz neiz vor. 1, 17, 9 sunnim fart, bei Kelle „der steme
lauf** könte, weil „steme** folgt, auch leicht unbemerkter schreib- oder druckfehler
sein; aber 1. 17, 61:
fialun sie tho främhald, thes guates wdrun sie bald
und bei Kelle (es ist von den magiem die rede):
„zur erde nieder fielen sie der göttlichkeit ganz überzeugt,**
das klingt, wie nach Verwechselung von gotes und guates? weiter 2, 14, 88:
mit wortan mir cd zilita, so waz sih mit wirkon sitota,
Kelle: „mit Worten alles mir gesagt, was ich mit werken je getan**:
wer sieht nicht, dass Kelle waz %h statt waz siA las? auch wenn es 2, 14, 33 vom
Jakobsbrunnen heisst:
er (Jacob) wöla iz al bühoMa^- thaz er mit thiu nan wihta
und bei Kelle:
„sehr gut hat er ihn ganz bedeckt und vor entweihung so bewahrt,**
so hat Kelle für iz wol ina vorgeschwebt, sonst hätte er bithahta (d. i. bithähta)
nicht von bithechen, sondern von bithenken abgeleitet. Femer 1, 5, 9 fand sia
drwrenta ist nicht „und traf sie voller trauer an:** denn warum soll hier Maria
250 ZUPITZA, ÜB. OIFBID, ÜBBBS. V. KELLE
beim psaltcrbeten und bei ihrer ^^lieblingsarbeit'^ traurig sein? sie schlagt nur sitt-
sam die äugen nieder. Jacob Grimm in Haujits Zeitschrift 7, 456. Ebendort vers 28
heisst es von dem Erlöser:
Got gibit imo wihaj joh era filu höha,
drof ni zuiuolo thu ihes , Dauides sez ihes küninges.
Ich weiss nicht, woran der Übersetzer dachte, da er schrieb:
„die weihe gibt ihm gott der herr, und ehre auch im hohen maass,
dess sei du sicher wnd gewis, du sprössling du von Davids haus/'
sez ist ja doch „thron." Endlich sei noch 1, 1, 79 erwähnt:
joh mennisgon düe, ther si iz ni tmtar fälle,
ih weiz, iz göt worahta, dl 6igun se iro forahta
nach Kelle:
„ja keine menschenseele ld)t , die ihnefi nicht wird Untertan,
so JkU es nämlich gott gefügt; vor ihnen hangt drum jedes voOc/'
Wie Kelle den zweiten halbvers construiert hat , um so zu tibersetzen , weiss ich nicht.
Was tmtar falle hier bedeute , darüber lässt sich streiten , aber se meint sicher se, gen.
sewes, und der satz ist condicional: „wenn die see nicht.*'
Das erste capitel des ersten buches, dem das letzte beispiel entlehnt ist, bot
überhaupt dem Übersetzer die grösten Schwierigkeiten, die mir nicht immer glück-
lich gelöst scheinen. Das hat sicher Kelle selbst am besten gefühlt, und das war
vielleicht auch der grund, weshalb er es ans ende vor die deutschen' Widmungen
stellte: der leser hätte sonst gleich am anfange einen satz bekommen, den er nicht
verstanden hätte; denn ich wenigstens bin ausser stände, die ersten verse desselben
bei Kelle zu construieren : eine falsche stärkere interpunktion in der mitte statt am
ende des zweiten verses scheint an der Verwirrung, die für mich das original nicht
hat, schuld zu sein.
Wenn nun also auch die Übersetzung an den stellen, die ich genau geprüft
habe, nicht immer so richtig ist, wie man sie von dem gegenwärtig bedeutendsten
kenner Otfrids hätte erwarten sollen, so wird doch, wer bedenkt, eine wie langwie-
rige arbeit sie bot , und wie leicht da die aufmerksamkeit ermatten konte und muste,
bei diesen und anderen versehen über den Verfasser nicht allzustreng zu gericht
sitzen, sondern sich von herzen freuen, nun endlich bei der lectüre des Otfrid über
jede stelle eine gewissenhafte Übersetzung von so berufener band zu rate ziehen
zu können.
BBBSLAÜ. JULIUS ZUPITZA.
1) Die lateinische für die gcschichte der deutschen litteratur so wichtige , in ihrer
spräche aber nicht eben leicht verständliche widmung an Liutbert hätte wol auch über-
setzt werden sollen.
JESSEN, ZUR EDDA 251
NAOHTBÄaUOHE BEHEBKÜVQEN ZÜB ABHANDLÜNQ ÜBES DIE
EDDALIEDEB.
4. (FortBetznng der nachträglichen bemorknng 2 oben s. 81 — 82). Worsaaes
Vortrag über bilder auf ,, goldbracteaten** ist erschienen, in Äarhöger f. nordisk
Oldkyndighed og Historie f. 1870 s. 382 — 419, mit tafeln 14—23. Ich widerhole
meine behaaptiing: Worsaaes entdecktin^en sind gänzlich ans der Inffc gegriffen. In
den zu befolgenden gnmdsätzen , meine ich , ist Worsaae ganz und gar nicht ä la
hauteur de la questian; denn
a) Worsaae will (s. 400) auf einmal zwei unvereinbare thcorien festhalten:
erstens, dass „die Eddalieder*' schon im „mittleren elsenalter'' existierten; zweitens,
dass die spräche, welche Buggo aus runeninschriften jener zelten herausliest, älteres
Stadium des „Altnordischen" sei. Jede dieser beiden theorien macht die andere
unmöglich (vgl. oben s. 26).
b) Worsaae meint (s. 383, 418) in diesen bildem belege för dasein „der Edda-
lieder" im „mittleren eisenalter" haben zu können. Eine totale Verschiebung der
Probleme (vgl. oben s. 81 note 1). Eins ist alter einer sage, ein anderes alter eines
gedichts. Worsaae würde den gewaltigen fehlschluss sogleich bemerken, wenn man
aus deutschen bracteaten dasein „des Nibelungenliedes" im 6. — 7. Jahrhundert fol-
gern wollte — (Übrigens räumt Worsaae [s. 400] ein , die sage möchte „ in Deutsch-
land noch älter " sein , also dass die frage über entlehnung oder nichtentlehnung sich
nicht mittelst dieser bracteatenbilder entscheiden liesse).
c) Worsaae verwendet gleichermaassen bracteaten , die im norden fabriciert sein
können, und solche, die dem norden teils nicht zu vindicieren, teils entschieden
fremd sind. Nr. 3 auf tafol 18, nr. 4 und 7 auf tafcl 16 sind bei Dannenberg in Han-
nover gefunden (sollten also nach Worsaaes schlussweisc dartun, dass „die Eddalie-
lieder " im „mittleren eisenalter" in Deutschland existierten). Nr. 2 und 4 der tafel 19
erweisen sich durch lateinische und andere fremde buchstaben als fremd (oder frem-
den fabricaten mechanisch nachgebildet). Sein verfahren ist hierin um so sonderba-
rer , als er im Ätkis de VarchSologie du naid und in Thomsons abhandlung om Guld-
bracteaterne (in Annaler f. nordisk Oldkyndighed og Historie /*. 1355) hinlängliche
anlcitung hatte. Im Atlas sind die beiden letzten (daselbst nr. 15 und 17) ganz rich-
tig unter die fremden gesteUt.
d) Worsaae berücksichtigt nicht, was doch Thomsen und der Atlas hinlänglich
urgiereu^ dass fremde münzen als Vorbilder dienten. — So wenn auf den bildchen
tafel 16 und 18 (= Atlas 84, 85, 88 usw.) der daumen gegen kinn oder gesiebt gehal-
ten wird (was Worsaae auf tafel 16 dem Sigurd, auf tafel 18 aber dem Gunnar bei-
legt!), ist dies schon ebenso der fall auf den fremden ^mit fremden buchstaben ver-
sehenen) nummem 26 und 33 des Atlas. — Der Atlas liefert umsichtig gewählte Vor-
bilder auf fremden, zum teil römischen münzen und bracteaten; so auf den beiden
ersten tafeln figuren , die einen ring oder kränz , die eine kugel , die eine kleinere figur
(Victoria) em})orhalten , oder gescnmeide und Werkzeuge um sich oder zu ihren füssen
haben usw. Somit fällt hinweg , was Worsaae von solchen dingen als kennzeichen ger-
manischer sagen aufführt. — Als beispiel der enormen willkürlichkeit möchte ich hervor-
heben, dass Worsaae die in der band emporgehaltene kugel seiner tafel 19 nr. 2 und 3
(Atlas 15 und 111) für einen ring, hingegen auf seiner tafel 20 nr. 3 (Atlas 77) für
einen apfel erklärt.
e) Worsaae berücksichtigt nicht hinlänglich die natur der bracteaten als blosser
Schmucksachen. Auf solchen tst es an und für sich nicht notwendig , bilder bestimter
sagenhelden zu suchen. Das bild eines kriegers, drachentöters ^ Jägers, tierbezäh-
mers, in der schlangengruft gemarterten usw., ganz im allgemeinen ist schon hin-
länglich. (Ich habe eine abhandlung von Dietrich über diese bilder gesehen, mit
erklärungen solcher allgemeinem tendenz; dieselbe ist mir jetzt nicht zur Sand). [Es ist
die abhandlung in Haupts zeitschr. f. deutsch, alterth. bd. 13, Berlin 1867. Bed.]
Die bracteaten, welche Worsaae auf die Nibelungensage beziehen will, stehen
auf seinen tafeln 16 — 20, mit text s. 401 — 11. Besehen wir dies specieller. (Mit
dem übrigen der abhandlung haben wir hier sonst nichts weiter zu schaffen).
f) Worsaae bezieht die bildchen der tafeln 16 und 17 (= Atlas 85 , 84 , 86,
218, 88, 153, 115, 103, 109, 100, 93, 233 usw.) auf den Sigurd. — Um einen sicheren
anhält hiefür, so wie überhaupt für anknüpfung an die Nibelungensage zu erlangen,
macht Worsaae tafel 16 nr. 1 (= Atlas 85) zum grundstein, der alles übrige trägt,
indem Worsaae nicht umhin kann zu fühlen, dass all das übrige zu locker ist, um
252 JESSEN, ZTJB EBDA
eines solchen grundsteins entbehren zu können. Mit diesem anhält schwindet das
ganze aber in nichts zusammen. Dieses bildchen zeigt, nebst vogel und vierfüssigera
tier, einen mann, der den daumen dem offenen munde gegenüber hält; nach Wor-
saae den Sigurd , der beim braten des drachenherzens den finger in den mund steckt.
Aber die übrigen bildchen der tafel 16 (== Atlas 84, 218, 88, nebst 26 u. a.) und der
tafell8 beweisen, dass kein stecken in den mund, sondern nur emporhalten der band
mit vorgestrecktem daumen gemeint ist ; der daumen wird gegen oder unter das kinn
gehalten, und hat sich nur auf jenem einen bildchen dem goldschmiede ein wenig
emporgeschoben , so dass in diesem einen falle (der von den andern nicht zu trennen
i«t) die spitze des daumen s zufällig dem munde gegenüber steht. Femer ist der andere
daumen gleichfalls ausgestreckt, indem auf einigen bildem die andere band zugleich
vor die geschlechtsteile gehalten wird. Wie man unter solchen umständen den Sigurd
entdecken kann, ist unbegreiflich. Dass überdies nr. 26 des Atlas fremd ist, habe
ich erwähnt. Worsaae meint auf seiner ersten nummer ein pferd zu sehen; das tier
hat aber gespaltene füsse ! Auf nr. 3 (Atlas 8iS) läuft dem manne ein tierchen über
die Schulter und gähnt über den emporgehaltenen daumen; Worsaae meint, dies könne
sehr passend den drachen („wurm," d. i. schlänge) bezeichnen, den Sigurd erlegte!
Ich möchte wissen, was Worsaae einwenden würde, wenn jemand in seinen drei ersten
bildchen (= Atlas 85, 84, 86) gaukler und tierzähraer sähe? — Tafel 17 nr. 2—3
(Atlas 153) zeigen ein vierfüssiges tier, über dessen hals etwas dreiekiges, und darüber
einige reihen punkte stehen. Worsaae versichert, dies sei Sigurds pferd mit dem
schätze. Was würde Worsaae einwenden , falls jemand versicherte , es sei das pferd,
welches steine für die festung der götter holte? oder falls jemand läugnote, ein pferd
könne auf dem nacken lasten tragen, also läugnete, es sei eine vom pferde getragene
last gemeint? — Auf den übrigen bildern der tafel 17 (Atlas 115, 103 u. a.) sieht
man einen köpf, einen vogel und ein vierfüssiges tier (gewöhnlich mit gespaltenen
füssen), und nichts, wodurch wir irgendwie in der ganzen grossen bekanten und
unbekanten sagen weit den köpf identificieren könten.
g) Die drei bracteaten (nr. 3 — 5) der tafel 18 bezeichnen nach Worsaae den
Gunnar in der schlangengruft. Nr. 3 , ein mann von schlangen umwunden , ist in
Hannover gefunden; (ue erwänte Stellung der daumen, verglichen mit andern bild-
chen, erlaubt, ihn für einen schlangenzähmer zu halten. Nr. 4 und 5 haben keine
schlangen, möchten aber gleichfalls gaukler bezeichnen.
h) Die vier bracteaten (nr. 2 — 5) der tafel 19 gehören nach Worsaae den letz-
ten teilen der sage an. Nr. 2 und 4 (Atlas 15 und 17) sind aber fremd. Auf nr. 2
und 3 (Atlas 15 und lll) will Worsaae einen emporgehaltencn ring sehen, den er
sogleich als denjenigen identificiert , den Gudrun an ihre brüder schickte ; es ist aber
eine in der band emporgehaltene kagel. Nr. 5 (Atlas 89), eine stehende, vieUeicht
weibliche fi^tir, welche die band einem ticre ins maul steckt, meint Worsaae , könne
sehr passend die Schwanhild unter den pferden bedeuten!
i) Die fünf bildchen (nr. 1 — 5) der tafel 20 endlich bezieht Worsaae auf dio
Vorgeschichte der Welisungc, aber mit so lobenswertem zweifei, dass es mir kaum
erlaubt wäre , ernsthaft zu fragen , wie in aller weit man im brustbilde und der klei-
nen figur mit dem Spielzeuge aufnr. 1 (Atlas 76) eben Sigmund und Sin Qötle erkennen
kann ; auf nr. 2 (Atlas 80) dieselben beiden , in der nakten figur eine fiiehende , und im
gegenstände links eine garbe; auf nr. 3 — 5 (Atlas 77 — 79) Odin, eine Walkyre, und
Mimir (was hätte der da zu tun?), im ticre mit dem harte auf nr. 3, und auf allen
drei nummern mit gespaltenen füssen ein pferd? Ganz unnütze fragen; denn Wor-
saae erklärt sich eben so willig, die bildchen auf den Sigurd zu beziehen.
(Zu meiner note 3 oben s. 81 ist noch zu notieren, dass man darüber nicht
ganz einig ist, das daselbst erwähnte bild auf den Dietrich zu beziehen. G. Bryn-
julfson bezieht es auf eine sage von könig William Richardson von England. Es
wäre wol auch möglich an Iwan den Löwenritter zu denken?)
5. Nicht mit recht habe ich oben s. 83 fg. zugegeben , die form GjüH sei unver-
dächtig. Im gegenteil: gjü ist eine in der norrönen spräche unerhörte Verbindung,
und die vocalisation des b (vgl. Gibich) sehr auffällig. Der name Gjiiki ist also den
oben s. 16 — 17 besprochenen linguistischen indicien deutechen Ursprungs der sage
zuzuzählen. — Auf derselben seite 83, zeile 12, sind die worte „mehr als" zu streichen.
KOPENHAGEN, 28. JANUAR 1871. E. JESSEN.
Hall«, Bachdmckerel d«a W>ia<nham<>.
Literarische Anzeigen.
In Ferd. Dttminler^s Terlagrsbaolihaiidliuig (Harrwitz und Gossmann) in
Berlin ist erschienen:
KLEINERE SCHRIFTEN
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JACOB GRIMM.
Fünf Bände. 1864 bis 1870. Velinpapier, gr. 8. 15 Thlr.
Mit dem soehen erschienenen fünften Bande liegt diese Sammlung nunmehr
vollständig vor, die för jede öffentliche Bibliothek unentbehrlich, ein werthvoller und
nie veraltender Erwerb für jede Schul- und Privatbibliothek genannt werden darf.
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tenkunde. Mit einer photolithographischen Tafel. 1865. Velinpapier,
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vor allem auf solche gerichtet , die für jeden Fachgenossen noch jetzt lehrreich , erfreu-
lich und brauchbar , aber nicht jedem gleich zugänglich und erreichbar sind. Alle in
den Fachzeitschriften enthaltenen Arbeiten wurden ausgeschlossen.
DEUTSCHE GRAMMATIK
von
JACOB GRIMM.
Zweite Ausgabe. Neuer vermehrter Abdruck. Erster Theü. Zweite Hälfte.
Preis 3 Thh.
In dem Vorwort zum neuen Abdruck giebt der Herr Herausgeber über densel-
ben die nöthigen Mittheilungen. Der Subscriptionspreis von zehn Thalern
für das ganze Werk von zwei Bänden (circa 120 Bogen gr. 8) erlischt
nach Erscheinen dieses Halbbandes.
So eben ist in Ferd. Dfimmler^s Terlagrsbaohliandliuigr (Harrwitz und Goss-
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Bopp (Franz), Yerglelchende Grammatik des Sanskrit,
Send, Armenischen, Griechischen, Lateinischen, Litauischen, Altslavi-
schen , Gothischen und Deutschen. Dritte Ausgabe. Dritter Band. Erste
und zweite Hälfte zu je 2 Thlr.
Mit dem Erscheinen dieses Bandes liegt das berühmte Werk vdeder vollstän-
dig vor.
Um die AnschafTung desselben zu erleichtem, haben wir einen Snbscriptions-
preis angesetzt, den wir noch einige Zeit bestehen lassen, und diese dritte Ausgabe
in Halbbänden ausgegeben.
Zur Ergänzung dieses Werks dient das folgende:
Ausführliches Sach- und Wortregister zur zweiten Auf-
läge von Franz Bopp's Vergleichender Grammatik von Carl
Arendt, gr. 8. geh. 2 Thlr.
Dieses Register ist mit Hülfe der jedem Bande der vorliegenden dritten Aus-
gabe angehängten Vergleichung der Seitenzahlen auch bei der dritten Ausgabe zu
benutzen. Der Unterschied der Seitenzahlen beträgt übrigens beim zweiten Bande
im Ganzen nur drei und ist beim dritten Bande ganz imerheblich.
3m !SerIage ber ^^%ViWn Oof^ud^^an^lung in OonnoUtr ift fo eBen erf^ienen
unb bur^ alle ^u^^anblungen au Bestellen:
Vorfdiule nnb ^nfan$0$rünbe ber
bcfcriJJtiöctt d^comctric-
©in Surfu^ für bie ©ecunöa einer SRealfd^ule I. Drbnung.
Gearbeitet üon
$rofeffor am (£atl^natin in SÜbetf.
^it 155 Qolafd^nitten. gr. 8. ge^. 21 6gr.
!8eitfabett jur alten ^efdftid^te
(OrientaHfd^e Sieid^e unb ©ned^eulanb)
für btc unteren Älaffen l^ö^erer Sel^ranflolten jufammcngeftellt oon
Stfta an fcer b(ntf4tn @4ub in IDttiiTg.
8. ge^. 6 @gr.
f)anct'f(^ JBerlagg^anbtung in SJcm.
OEiatfäiet, (t,^ SMrtöetDmoIofiift^t Sforff^ungcn 010 iBeitrSgc 5« einer
Xopoitomafttl Der St^eii. 4 ^fte in l S9b. 8. 1866. ^i«
1 a;^lr. 15 Sgr.
BEITRÄGE ZVn DEUTSCHEN METRIK 255
verse 4107 — 4134 fehlen. Entbehrlich wäre dieses stück allenfalls, aber
es deutet auch nichts auf interpolation in P; es honte durch versehen
in M ausgefallen sein. Wichtiger ist ein anderer unterschied. Das
Mibiche^icr bruchstiwk gibt den text in bairiscJier mundart, während die
Heidelberger handschrift ihn in rheinfränkischer mundart gibt. Da nun
Haupt (Zeitschr, f d, a, VII, 262.) aus sachlichen gründen wahr-
scheinlich gepnacht hut, dass der Rother, wenn auch von einem rhein-
ländischen spielmann, so doch in Baiern verfasst und auf bairische
hörer berechnet sei, so könte das wol einiges gewicht für den Münchener
tvxt in die ivagschale legen. Dann hätten wir in der Heidelberger
handschrift die rheinfränkische abschrift eines bairischen Originals. Aus
der bescha/fenheit des Heidelberger textes ist das aber keitieswegs zu ent-
nehmen. Die betrachtung der reime gibt wegen deren ungenauigkeit hier-
bei nicht das mindeste criterium an die hand. Wo hin tmd wider ein-
zelne stellen eine oberdeutsche Urschrift anzudeuten scheinen, überzeugt
man sich doch bald , dass das ein täuschender sehein ist , der nur durch
das aus anderweitigen gründen vorgefasste urteil erweckt tvird. Auch
im übrigen wird die betrachtung des Heidelberger textes von sieh aus
niemals mit einiger Sicherheit auf diese annähme führen können. Das
wechseln hochdeutscher und niederdeutscher formell für ein und dasselbe
wort ist in den ühergangsdistrictcn oberdeutscher und niederdeutsclier
mumlarten gar nicht selten, tmd es wäre irrig, daraus auf einen gemisch-
ten text schlicssen zu ivollen. Das gleiche schwanken fimlen tvir in fast
allen den fränkischen dialecten, die uns Mi'dlenhoff in der einleitung
zu den Althochdeutschen Denkmälern so trefflich charaetcrisiert hat.
Namentlich muss dieses schtvanken bei einem ungebildeten Schreiber , der
sich auf keine feste tradition in der lautbezeichnung stützen konnte,
scharf hervortreten, ivährend in der Münchener handschrift der im gan-
zen günstigere eindruck zu einem grossen teil auf der consequenteren
Orthographie und auf der reinen darstellung einer in sich fester geschlos-
senen mundart beruht. Zur entscheidung der frage k&nnte nun schliess-
lich noch der umstand Iwrbeigezogen werden, dass der innere versbau
in M bis auf einige Meine Verderbnisse durchaus regelrecht ist. Wäre
der Versbau in P wirklich durchaus wild und regellos, so würde das
gewiss für die priorität des Münchener textes entscheiden. Wie ich
aber schon oben bemerkt habe, walten in ihm durchaus feste regeln, die
auf klar erkennbareyi principien beruhen. DaJier kann er jedenfalls
nicht als eine unwillkürlich aus blosser nachlässigkeit des abschreibers
entstarulene vergröbermig angesehen werden, und so wird auch hiermit
die frage noch nicht entschieden. Wären die bruchstücke von M etwas
umfangreicher, so würde sich aus der vergUichung der üh'igen teoddif-
17*
256 AMELUN6
ferenzen gewiss ein sicheres urteil ergehen, auf welches wir jetzt verzich-
ten müssen. Wie dem aber mich sei, so liegt doch jedenfalls in P eine
textgestaltung vor, in der der Rother gleichfalls verbreitet und gelesen
war, deren eigentünüiche form also doch anerJccnming uml geltung gefun-
den haben muss, und die daher wol eitler gesonderten betrachtung wert
ist. Die regeln, nach denen sich dieser txrsbau mit do^ypelten Senkun-
gen gestaltet^ werde ich nun im folgenden efUwickeln, wobei alle verse
des Rother, die ilber das gewönliche mass hinausgreifen, zur beurteilung
kommen,
L Auf eine von natur hochtonige hebung können zwei Senkun-
gen folgen. Jede der beiden Senkungen muss minder betont sein,
als die vorangegangene heJmng, also höchstens tieftonig,
a) döhter gehige 35. aller getrfuste 55. vüoren vermßzzenliclie 205.
de süunen gesäcli 315. nümmer verclägen 477. 485. der vünver vir-
däge 484. waren gehöubitöt 511. de herren virnä'men 544. diugis
geda ht 578. die he rren begünden 637. kitenin geliez 757. de nia neu
bewünden 863. deneöt geta'n 896. allen geli'che 900. ninimir ne
möhte 915. mir ratin genüoge 962. mächten getrünkin 101:^. h6dden
getan 1065. ünsir siheinis 1118. mö'zen gone zen 1231. wdzzer gcnäm
1251. mannen ne mdg 1277. sölden getä'n 1279. he rren geazin 1329.
warin gegängin 1632. uwers gemo'tis 1676. aller gesihte 1741. h6t-
tis gesen 1790. mö'stin geväzzit 1892. herzen begünde 1912. niorgin
genören 2012. irli'den nemdc 2125. vuzen gesäz 2189. moter gewän
2211. swärzis gewsete 2319. herren gesazen 2499. sölvin bequäm 3035.
newörde zo hänt 3194. vröuwen geördiuot 3328. vörsten gesche 3977.
leiden begünden 4107. herren benäm 4161. vcrmi'den newolde 4400.
si'nen geno'zin 4444. gfengen gezögenlichon 4576. di'nis gevörtis 4670.
leides getan 4700. hatten getan 4847. ünde Ceciljin 48^^4. uimmir
nicheinin 4900. e'ren gero'chit 4983. e'rin gegän 4996.
b) heriste man 10. getrü'iste man 55. schö'niste man 294.
Romesker 6rden 463. ßldesten süne 483. Ifebesten man 542. gro ziste
hörvart 2559. b^zzistin göte ;>742. hfmiliskcn köningis 3927. Rö'miske
diet 4052. scö'niste wi'f 4620. ßO'mesche rfche 4754. truwistin
man 5083.
e) der mdrcgräve rü'mt 104. der antworte nfht 262. söltsaene
ddz 277. söltsane knäpe 649. stä'line stänge 650. wi'gande zwölfe 671.
ni'dliche worin 700. l^milgere ri'tin 769. Dietriches man 1023. nie-
manne vor 1139. iemanne mit 1162. dilncnieme si'n 1226. eilenden
mö'zen 1231. staline ringe 1135. ärmöte niht 1398. vro'liche ddnne
1450. stä'line stdngin 1653. iemanne zörn 1671. inville wären 1853.
BEITRAGE ZUR DEUTSCHEN HETRIK 257
vröwelichor gdnge 2085. B^rkere dorne 2145. jüncvrouwe beiz 2545.
he rliche gäre 2630. heimlichen männiii 2832. scärlachin üüde 3063.
valandes mdn 3227. Lü'polde mit 3322. Lupoide hä'st 3351. wa tziere
man 3578. Lü polde d^n 3672. herliche schäre 4075. Wi'dolden öuch
4292. :^]rwine gäf 4840. vrömichede iifht 4857.
d) sündorlich schäre 242. Thfederich üude 894.. Cönstantin säz
908. waphenroc trö'ch 1110. Dieterich vor 1252. Cönstantinöpole 67.
1385. 1585. 2843. 2983. 3635. 3713. 3771. 3809. 4082. 4449. 45:33.
4535. fegelich kämaräre 1590. Cönstantin vrä'gete 1705. vgl 2763.
3035. 3803. 4563. hochgezit wä'ren 1871. Dieterich z6' 1993.^ vgl.
2695. 2710. 2851. Ymelöt g^rte 2561. Jerusalem sfiit 2570. Ymelot
IS 2788. vgl. 3029. 3038. 3991. heflichdüm vor 4141.
e) zferheit gesä'hen 388. phönninc gegevcn 669. ci'rheit gese n 824.
nfeman nihefue 1576. neman irw^nden 2337. sänctus Johannes 4069.
ürlof genäm 4968.
IL Während als einfache Senkung auch hochtonige silhen zulässig
sind (ein hörzoge der hiez Frfderi'ch 1609) erscheinen hei doppelter nur
tieft (ynige silhen statthaft. Daher ist hier der gebrauch seihständi-
ger Worte als Senkung in viel ewigere grenzen eingeschränkt als sonst.
Neben den flcxions- und aUeitungssilhen, den praefixen, wozu auch die
negation ue zu rechnen ist, die nur ausnahmsweise einen hochton tra-
gen kann, und den zweiten gliedern der composita, sind nur getvisse
bestirnt zu bezeichnende redeteile in der doppelten Senkung zulässig, welche
da)m für tieftmiig gelten müssen. Es sind meist redeteile, die sich endi-
tisch oder proditisch mit eitlem arideren worte verbifiden, oder doch
solclic , die mit einem anderen höher betonten redeteil syntactisch eng ver-
bunden sind, an den sie sieh gleichfalls enditisch oder 2>^ocUtisch an-
schliessen würden, wenn sie unmittelbar neben einander stünden. Einige
von ihnen können jederzeit tieftoniy werden, andere nur unter gewissen
bedingungen,
1) Ohne jede weitere einschränkung Jcönnen folgende reddeile
ihren hochton verlieren:
a) der bestirnte artikel, da er sich jederzeit proditisch mit
dem folgenden Substantiv oder adjectiv verbinden kann: redeten die jun-
gen 19. erwürbe daz m^getin 89. ümbe daz mögctin 110. werbe
die bödcscaft 120. ümbe die mäget 145. würben des he'rren 119.
vö'ren die böten 198. trüogen die h^lede 228. wä'ren die sädilschel-
len 231. redete du go'te 250. ümbe die bödeschap 334. giengen die
äldtfu 436. B6rhter der aide 466. 520. waren die äldesten 483. kfe-
258 AMELUNQ
sen den tö't 588. Börhter die rieseii G54. ümbe daz sin 668. vir-
le sin den (1. daz) loben 674. sprä'clien die störmgieren 698. begdnden
die herren 720. waren des küningis 796. liefin die bürgaere 822.
besagen den kiel 841. vö'rten die vreislichen 842. hiezin den vreissa-
men 852. waren de ixianen 863. ünde die gö'te 898. Ro'tlier den
küninc 934. ünde die si'ne 948. an de gewält 975. zobr^che die
stänge 1005. giengen die kdmeräre 1026. Mrde daz gö't 1119. vörh-
ten die geste 1137. vermi'det den ünliolden 1157. waren die pörten
1289. hätten die kl&der 1309. uzir der no'te 1434. dü'hto die rode
1447. ä'ne die rücken 1494. moste die riese 1505. ünder den vröu-
wen 1518. einer daz fo'tor 1709. ümbe die schütten 1782. ta'ten die
änderen 1881. von der gewsete 1904. gedachte die rode 1964. vii'die-
nit daz äfgrunde 1970. wsenit der eilende 1998. daten die änderin 2164.
namen die zwölf 2431. älse die he'rren 2499. hinder den ümmehanc
2503. relite die vröuwe 2521. wölde die ri'che 2564. nä'men die zwölf
2623. giengen die rös 2634. ünder der heidenschefte 2681. ümme die
höidenschaft 2711. hö're die vi'ande 2756. nahet der tö't 2776. in daz
gecelt 2798. sänte daz völc 2833. do wöinte de vröuwe 2847. ünde
die wigande 2849. ümbe daz schone 2922. ünde die jungen 3037.
bedrü'git die söltsaenc 3069. giengen die bürgajre 3113. duhte die bür-
gere 3119. einer die ciselinge 3123. wölde die köningin 3150. gebö'-
zet der sölver 3162. alle die länt 3188. vö'rden die Griechen 3226.
trö'ste daz trö'rige 3268. gewönne die hülde 3271. hilfit den öUenden
3481. nämen die bürgäre 3523. sprachin die bürgäre 3537. sci'net
den Böyeren 3577. älse die helede 3579. uzer der mönie 3614. lieze
die andre 3616. älse de rat 3619. düzzen die segele 3631. ünder die
bömiie 3640. ünde die wöreltliclie 3648. wörde die grüntveste 3651.
nu wet der hölle 3652. älse die höledo 3653. säl die beze'chenunge 3674.
slüflfen die hölede 3687. waren die vörsten 3719. rehte die stät 3989.
mo'wit die lüde 4000. vröiskiu die lio'ma^re 4003. Johannes der töu-
fajre 4069. ünde die välewen 4147. dade die gödes craft 4168. hor-
ten die Orden 4215. wä'rcn der spilemanne 4285. ünde die rös 4328.
ünde die lüfte 4405. sco'nit des äldin 4412. alle die länt 4416. wör-
fin die stäugin 4446. waren die vörsten 4500. ünde die gü'do 4525.
quamen die zöldaere inde die rös 4579. waren die sädele 4585. ünder
den vröuwen 4590. lu hte daz Ko'theris 4604. ünder den vröuwin 4627.
kindin den li'f 4629. rehte die köningin 4663. behördint die buch 4701.
ünde die ri'che 4746. wä're die möiste 4807. virbü'tit der wäldindiger
4910. hette dat älder 5077.
h) das pronomen personale nicht nur wo es endiUsch hi fiter
dem vcrbum steht, sondern auch wo es dem verbum vorangesetd ist oder
BBITBAGE ZUB DBÜTSCHEN MISTBIK ,259
ganz von demselben getrennt steht; auch nicht nur im nominativ, son-
dern in jedem casus und numerus.
a) hinter dem verbum: namen sie grö'ze wäre 243. wärt er irslä-
gen 476. sölde wir mit 508. sö'che wir sie 514. quölitmeu die helede
515. hö'rde man mänigen 546. ne völgis du des niht 600. niö'ze er
gewinnin 611. ne trü'widich fn negeineme lande 924. den hanich iedöch
984. ne käu icli nichöirae 1014. strfbete her an der 1039. möhtistu
dise 1064. gesie wer daz Mste 1112. begri'fet her iemanne 1162.
begünden sie b^hurdieren 1343. lövete man Dfeteriche 1345. so helfet
iz öuh 1440. lövetemen Dieteriche 1509. höizin si Aspriäne 1593. dar
bönketer vli'zeliche 1596. ingßlden sie hü'te 1688. möhtin sie umbe
1782. möhten sie häven 1783. laze wir däz 1787. mo'stin sie äl 1865.
wöldistu aber 1991. begündin sie b^ide 2314. legete man gO't 2492.
Ifez man die bötin 2524. h^ten sie rös 2601. lä'zet man mir 2670.
kerte her vroliche 2786. mO'zin sie lästerliche 2790. hä'n wir gevän-
gin 2901. möhte si bäz 2994. begünde man z6' 3091. wie biedet ir
dät 3116. wöUit ir däz 3124. bat her die küninginne 3177. wöldet
ir in 3191. wflle wir vären 3218. würphen sie an 3223. möhte wir
sin 3303. behe'lde he trü we 3316. Isege du h^lt 3334. gezömit ich
immer 3338. setzent sie an 3388. genüzzen si dös 3395. göswi'che he
deme 3413. sä'gen sie ünder 3527. vö'rten sie an 3569. rfeden sie
döme 3613. rfefin sie ällenthalven 4109. möhte man wöle 4356. wöl-
dis du mi'nis 4419. liezen sie Cönstantinople 4449. dörsten se vor
4496. inbrseche her von der 4679. vrömete man rös 4756. le'ch he
die rfchen 4820. 4828. gäf he Ispanien 4840. löveten sie ane 5064.
/:^) ausserdem; nommativ: eines zöihnes her fme gedähte 168.
einen mäntel her (me gap 210. wannen sie kümen waeren 254. trü'-
rieh iz uz ir hercen gienc 380. sie sprä'chen, wir haben 578. zwene
steine her (n de haut nam 1040. dar ümbe du mänegen 1071. dänne
wir alle quämin 1200. wänder irscröcket 1275. sölve her fz in wol
gebot 1291. wie lüzzel her dös genesen liez 1656. bi den hönden sie
sich bevingen 1747. deme rocken sie fn daz ore sprach 1946. däz iz
irschelle 2006. mit vröweden sie fn deme hove sint 2108. älse du Crf-
stin woUis sin 2196. swännen du vörist 2243. sowflchis künnis du
aber bist 2268. einen pälmen sie ober ir ahslen nam 2321. also' he
die mägit 2327. mö'ter, er sült 2330. ich wsene sie here wollen 2758.
ze vürdirst her fn daz gecelt ginc 2798. herre, du sält 3056. war
limbe ich die rode hän irhaven 3736. älse du sölbe 3808. eine köfsin
her an daz sper baut 4094. war ümbe wir hü'te vehtin 4118. si jä'hen,
iz dä'de 4168. wie gewfs er den mfnin schilt hat 4896. — Accusa-
tiv: dat hör ez gewröche 37. süln iz den he rren 500. künden iz gd'tin
260 AHELUNO
knehtin 501. mähtu dicb aller best 582. irsäg iz der herzöge 693.
intle'uc sie gezögeuliche 901. möhtin sie höben 905. bü'tit sich äu 944.
düukeut mich härte 949. linde mich also 1019. hö'von sich dänne 1043.
sowös sie dich bseten 106G. du zückis dich trunkenheit an 1083. ho'dit
üch alle 1160. liezis sie uz der nöte 1203. trö'ste mich an de kunin-
gin 1216. Ifezen sie uz 1290. lezin sich ^re not erbarmen 1296.
brahte sie alles gOdes eninne 1302. sie entfe'ngen iz äl 1378. mächit
uns alle 1476. dü'hte mich wi'stüm 1627. lä'zit mich mi'n gestole hau
1628\ hrtten dich braht 1668. woldc sie alle 1670. her rö'fte sie
vräsliche 1716. warf her mich över ver man 1718. irlä'zin in d6s
1742. törste dich nfeman 1796. genö'ztin sich alle 1900. mö'wis mich
allen disen tac 2126. virh61 mich der rWe 2246. möhte sie uf den
liph hän 2294. törste sie d^s gewern 2380. lä'ze mich göt 3350. vrö-
mede sie h6im 3624. vo'rtin sie widir 3796. vö'rte dich wfdir 3849.
ho'vin sich gögin der dicke 414(\ 16'sten in von deme galgin 4214.
trü'dis mich näht unde tach 4481. le'rdis mich go de knehte 4485. vö're
sie deme 4527. zebra chin in älse ein hon 4908. begi ngin sich vröme-
liche 4988. wir münichin uns, trü't herre mm 5168. — Dativ: nu
höiz dir gewfnnen 124. däz er in künincliche gap 148. wölde dir genie
522. h^lfe mir schädehaftin 537. swflich in intwfchet 666. kfesit ü
öinin 734. kän ich ü nfet 851. gfengen in an den henden 862. mau
sägte mer fe 911. ungerne ich en viisägete 965. swflichin mir göt 967.
gelöubit mer herre 1017. wändiz mer noch 1018. gfvestu mir noch
1186. du ne rietis mir niht 1212. hflfen tliir di'ne 1242. nevölget mir
niet 1262. verbö't man en Cönstantinis hof 1310. gab m die vänin
1342. ich völge dir görne 1373. heifit ü vrümeliche 1402. wfl ich
ime, däz is war 1445. wfl her ü rfliten 1733. gäf mir der h61t 2046.
ünder in allen 2199. daz sägih der, sprach 2201. wfl ich dir schiere
bringin 2*228. her bozte mer dicke 2233. wserc mer fnnencliche lieb
2271. nu lö'ne dir göt 2605. wilich ere dir ist geschein 2804. dänne
sich mänige 3032. ich nebr6nge der Kö'theres wif 3076. hä't dir getä'u
3305. daz wane mer zörn 3395. inle'zis uns ünder woge 3944. drä-
vetin in uz der stat na 4097. wfl iz ü warliche sagen 4309. hotte
mir wöl 4514. got löne dir mänigir eren 4687. s6 vfle he dir leides
getan hat 4700. mü'sten gelo'net werden 4852. völge mer köninc 5113.
cöufe dir sölve 5145. völge mir trü't h^rre 5164. — Genetiv: ob ^r
is gevölgic wolde sin 577. ich ne geböito sin vor deme kuninge niht
1051. sclö'gin ir öne michele craft 4134. die ne gelö'vent is ni^t 4850.
wir ne vfudin sin nflit 5148.
c) das pronomen dcmonstrativum; sdteti, swännen diso
herren kumen sint 281. Rother sänte gö'te kn^htc in diz länt 997.
BEITBAQE ZUR DBT7T8CHEN IffBTBK 261
den du zörnetis wfder dessen wi'gänt 1079. wfl her ü rfliten, daz fs
mir Heb 1733. älse daz Cönstanti'n vimäm 2785. störvich en dän, des
inmach ich dan niht 3458.
d) die praepositionen, nicht nur wo sie procUtisch unmittelbar
vor dem suhstantiv oder adjecfiv stehen. Belege finden sich für mit an
von in üf zo bi nach vor under umbe üzer äne durch, a) unmittel-
bar: stüonden mit erin 14. mit grözen zühten an sfnem hove 15. die
fst der van allen 93. fmer in dechöine 175. ünde von vröuwen 278.
Rother üf efme steine 442. sölde mit gro'zen erin 553. quä'men zo
Rö'me 645. intfä' sie nach di'nen eren 661. ünde mit grö'zer cirheit
780. vo'ren zo Cönstinopele 802. mo'zen mit gö'ten 810. gebunden
vor si'me zorne 844. quam iz an einin 884. ünde mit hörzogen 887.
ünde mit vri'gen 888. immer mit öineme häre 1080. daz du iz vor
vörehtin tsetes 1067. Börker zo si'me herren 1356. wörte zo dfsen
armen 1357. sfn under in 1371. hfnne vor Cönstantinin 1451. väste
zo mote 1486. wsere mit gölde 1574. qua min zo Cönstantinopole 1585.
dänne zo femanne 1671. schi're zo dische 1808. dänne mit e'ren 2306.
quseme mit si'nen mannen 2371. lagen in ünkreften 2410. würden
von trö'ste 2511. bedwüngin mit grö'zir 2565. virlo's zo Jerusalem
2570. brahter zo Cönstantinopole 2843. quamen mit hörescrefte 2868.
stu ndiz an mfnin willin 2920. gövit umbe öinin penninc 3118. bfddis
durch ünsin trehtin 3208. älse vor vönfcich jären 3358. ich vö're üzer
m! nem lande 3401. lü'hten in strfte 3555. vo'rde van Töngelinge 3560.
quä'men in sös wochen 3633. wä'ren mit händin 4040. hüoven mit
gio'zer 4079. was her in stärker nöte 4114. nä'men von si'nen ban-
den 4157. hündret mit fn 4286. bit zühten an överbrehte 4362. 16'ste
mit sfner hande 4398. bfde in durch göt 4529. würdin bit bänden
4718. lövete mit grö'zin erin 4721. den herren von Töngelingin 4862.
Börker mit si'me Schilde 4886. ünde zo höfe 4916. der he'rre von Tön-
gelingin 5024. brä'hte von Körlingin 5034. dö röit er mit mänigeme. —
ß) durch ein anderes wort getrennt: von enänder in däz gewant 237.
sfnt zo den brüsten 662. göt an mir armen 916. bäz in daz öuge 1077.
vo'ren mit s6' getanen 1094. sie vröit sich in (r gemöte 1219. vär zo
den hörebergen 1230. vo'r zo den herbergin 1284. hin zo der wört-
schefte 1561. ich mit den öugen 1711. ge zo den hörbergen 1934. nä
mör zo den kömenäten 2114. wfl nä den scho eben 2122. gfnc zo den
rossen 2695. iht zo den rossen 2752. daz völc zo des küninges vanen
2833. öf si durch fre gode 3161. glenc vor den herren 3290. alle in
daz wäl 4241. säl vor die düre stän 4384. böiz in die stängin 4653.
mir bi der hönde 5130.
262 AMELUNO
e) die conjunctionen, Belege finden sich für wie daz ob dan
so ouch aber doch unde; besondere einschränkungen scheinen nicht statt
zti finden; unde nicht nur wo es einzelne worte, sondern auch da wo
es ganze sätze mit einander verhindet. Zwene unde sfbincih 7. 644.
25&8. 2643. 3763. eiä', we die segele duzzen 182. ich wsene, daz nfe
so manic man 264. ne lögitiz ouh niergin nidere 455. owf, daz ich fe
geborn wart 479. vier unde zw&ncic 651. unde sägit mir ouch ddz
her notic si 945. benümen unde brä'ht in arbeid 1071. mich dünldt
daz sie 1076. her ne gerögite doch nfe de vote 1146. ü'z unde fn 1290.
vr6' unde spä'de 1519. min dfenist ob sie is gerochit 2003. gü't unde
hält 2217. stü'nt unde w6in6te 2413. härter dan sine schönen kint
2452. Ime unde si'nin 2814. bö'ge unde ha rbant 3087. gölt unde p61-
lin 3115. trü'we unde ere 3316. mä'ge unde man 3429. under diso
unde sine man 3851. nu vi'ä'get ouh einin andren man 4318. die wi'le
daz dfse werelt stät 4344. owi' daz ich ie geborn wart 4423. und
giw6r is och dir, of du nä' ime düst 4562. zühte unde erin 4611. he
lach inde böiz in die stangen 4653. nu wärde, wie j6nez kint spilit
4672. he cüste ouch die dldin koningin 4647. irk^nnis och ünsin treh-
tin 4693. g6't unde lövesam 4876. ni't unde spöt 4909. dre tage unde
dri'e naht 5054. (2277. 2468. 3059 siehe unter IV 1. a; 3412 unter
F. 1; 1458. 1770 unter IV 1. h)
f) die adverbien dö da dar dan, nicht nur wo sie proclitisch mit
einem anderen adverbium verbunden sind , sondern auch wo sie für sich
allein stehen: besä'zen da h6ime 385. rMete döBörter 406. 520. hi'ngen
dar an 686. wie tümp wer d6 wä'ren 1057. waren dar ober naht 1587.
3605. einin dar nider 1692. zo h6ile dar in 1880. ridede do Diethe-
rich 1957. 2281. unde wä'riz dan nl der werlde leit 2274. virhölene
dar in 2541. rMede d6 Cönstantm 2579. rftit da hßre 2855. man
sölden dar raide 3141. des inmäch ich dan niht 3458. lü'hte dar äno
3534. waz möhte dar b^zzeris sin gegevin 4126. sich hävont dar golä'-
zin nidere 4391. ne wöldin dar häme 4904. der möhte dar gßme bro-
der sin 5167. (1027. 2299. 4897. siehe unter IIL here nur procli-
tisch 4707 siehe unter III b.)
g) selten die adverbien wole und ie: war gewän ie sih^inia
kuningis gnöz 663. of ime die töhter ie würde lief 3457. firwin dßr
sich ie vöre näm 4349. (2237 unter Vi.) gezseme wole in 952. her
wiste wole däz iz ir emest was 1994. iz schi'nit wole sprach die kunin-
gin 2053. desgleichen das adverbial gebraucMe wsene: iz ne g&t mich
niht wsene an den liph 2401. und die negation niht: ne wiltu mich au
din dienist nicht n^men 932. du ne tä'dis nicht übelis dar ane.
BEITBlOE ZUR DBDTSCHEN METRIK 263
h) die auxiiiaren vorhon bin wirde wil mac: wir sulen üch
dlle sin ünderdän 143. swil üwer dänne wil scät nemen 190. dar fnne
was got gesteine 865. min dröwe ne wart nio von sinne getan 1016.
dise rücken sin alle riebe 1114. in disme säle istiz aber seiden getan
1279. noch dän was sie imo vremide 1913. der megede warten was
grozlich 2143. sin gemö'te was härte listich 2282. üf minen trö'st sin
sie hie bestän 3310. ir önde was go t 4876. daz dinc nemac immer
niht sin 5118. (1384 sieho unter IILa.)
2) Nur unter hesonderon bedingungen Icönnen folgofide
ihren hochton verlier m:
m
a) das pronomen possessivum und das pronomen inde-
fi n itu m (ein sichein nehein dehein) wenn sie adjectivisch gehrauclU
iverden, und auch dann nur wenn sie unmittdbar vor dem zugehörigen
noinen stellen, a) possessiv: moste sin hö'vet 337. so mächer sin e re 555.
ir hübet minen he'rren 996. dö sprach siner ratgeven ein 872. sien
dine kündicheit 1037. daz sie dine meistere sin 1076. is din gebä're
1081. wie ri'ke sin he'rre wäre 1614. zo ^me sine man gän 1736.
dich nelaze din tüginthafter möt 2397. doch wördich din bürge 2402.
waere din dienist 3332. wäre min li'f 3357. älse min herre 3791.
wie her sin 6nde have genomin 4006. daz ime sine dinc 4409. älse
sin väter 5059. intfi'nc he sin rös 5099. ß) indefinit: den ie sichein
Kö'misc kuninc gewan 56. nie nehein man 82. durch däz iz ein höve-
spräche was 640. tro ch eine stäline stangen 650. gedahte eine wi's-
heit 805. troch eine briinien 1100. ich vö're eine hälfelose diet 1261.
ir leides ein töil 1330. väzzen ein jä'r 1446. säzte einen tisch 1605.
dö was her ein härte herman 1608. begreif eine staline stangin 1653.
greif einen üngevogen stein 2165. ir leides ein täil 2500. älser ein
herre wsere 3176. trö'ch eine brünien 3500. vö'rde einen herlicheri
vanen 3532.
h) das pronomen relativum, wenn es unmittelbar hinter detn-
jenigen worte steht, auf weldies es sich bezieht: ällez daz in den kielen
was 1031. äin der iz wöl behöte 1033. sin holde der da' gebunden
lach 1097. allen die dös gerochten 1299. älliz dat indeme kiele was
4757. (3105 siehe unter IV b).
c) die adverbien s6 vile al zö, wenn sie unmittelbar vor dem adjec-
tiv oder adverb stehen: wserin al ündertän 25. töhter vil he'r 66. alle so
güot 132. du hä's mir s6 künincliche gegeben. 216. lü'te s6 wünnencliche
268. eime vil schö'nen 740. daz du so gewäldich 927. minen he rren
z6 swäche gezalt 996. ene erbarmet zd härde daz göt 1119, hü'te vil
264 AMELUNG
sere 1688. öirae so stätehaften 1986. nünmer so wöle 1999. hüte sd
mänich 2361. ünde vil mänich 2764. 6iiie vil br6ide 2975. iz waere
vil wöl 4621. quä'men vil mänich 4779. ähnlich ist der gcnetiv aller
in sin e're aller bözzist beware 555.
d) das der directcn rede eingesclialtete sprach, wenn es immit-
tdhar vor einem eigennanien steht: ich volge dir görne, sprach Dieterich
1373. ich dätiz görne, sprach Dieterich 2105. genäde herre, sprach
Cönstantin 3077.
Wie man sieht, schliesst der hierin her sehende gebrauch sich ganz
eng an die grammatisch richtige hetonung der Satzglieder an. Dass die
hier aufgezälten redeteile im betreffenden fall den ihien ursprünglidi
zukommenden hochton wirJdich verlieren, deutet auch die ha'ndschrift
selbst an, indem sie sehr oft mit vocalschwächung men wer er se de für
man wir ir sie die setzt. Es liegt diesen erscheinungen ein in unserer
spräche waltendes gesetz über die normale betonung der Satzglieder zu
gründe, welches sich durch ausgedehntere beobachtungen wol noch in eifie
bestimtere form bringen Hesse. Zu beachten ist wol, dass gerade die-
selbcfi redeteile, die hier ihren hochton verlieren känneti, es sind^ tvelche
in der späteren mittelhochdeutschen schriftsjyrache jene mannichfacJien
anlehnungen, verschleifungen und wortzusammenziehungen bilden. Dass
sie aber nicht an sich tonlos sind, sondern jederzeit den hochton bewah-
ren können, bedarf keines besonderen beweises.
Ich habe mich bei der oben stehenden auf Zählung der fälle ^ in
defien doppelte Senkung erscheint^ streng an die handschriftliclw Überlie-
ferung gehalten. In vielen meiner belegstdlen Hessen sich nun durch
blosse annähme der apocope oder syncope eines tießonigen e verse her-
stellen, die sich vollkommen den sonst geltenden regeln des hochdeutschen
Versbaus fügen. Ein solches verfahrest wäre aber im einzehien durchs
aus unzulässig^ wo sich doch im grossen ganzen ein stach bestirnten
regeln normierter gebrauch doppelter Senkungen nicht bestreitest lässt;
um so mehrj da ein allzu ausgedehnter gebrauch der apocope dem Zeit-
alter und der mundart unseres gedichtes wenig angemessen erscheint.
Auch durch annahne schwebender betonung Hessen sich die doppelten
Senkungen zwar vermirtdem, aber nicht ausschliessen. Damit toäre aber
die anomalie nur noch anstössiger gemaclit. Ich folge daher lieber der
ftatürlichen betonung. Ebenso bei vier Itebungen mit kiingendem scitluss.
III. Wir hohen im obigen nur diejenigen fälle in das äuge gefasst,
wo die hebung auf eine von Statur hochbetostte silhe fällt. Zu cister
hebusigy auf welche zwei senkurtgen folgen sollen, taugt jedoch audt eine
BBITBAGE ZUB DEUTSCHEN METRIK 265
tief ton ige silhe; diese ist dann aber immer ein voll wort als zweites
glied eines compositums , allenfalls auch eine volltönende ablei-
tungssilhe, niemals eine blosse casus- oder personalendung.
a) die sigelriemen sie zögin 801. geäntwärten zo r^hte 1015. die
ümbehähge man fi'f hienc 1120. dem ingesinde over äl 1151. nä ri'ter-
li'chen gebä're 13G6. sin fngesinde was herlich 1384. des äntwärte d6
Dietherich 2299. wie b'stichlfche sie z6' ime sprach 2328. des änt
wärde die köningin 2987. swer so iht vrömolfchis getö't 4376. ze wili-
chin häntwörke he quam 4662. des äntwärde dö Wi'dolt 4897. ey wie
verm^zzelf che her r^it 4958. Mit schwebender betonung snelli'che her
an den rfnc trat 1006.
b) zo« Lu pölde deme möister sin 367. die mit Thfederf che da
wa ren 1027. vor Cönstantfne sie giengen 1087.^ ir zöch zo Dfeterrche
die cräht 1306. Wi'dölden den konen 1737. Äspriane zo eren 18G3.
Dieterfchis gewänt 1866. vor Cöustantfne deme ri'chen 2301. Cön-
stanti'nis gemö'te 3005. vor Cönstanti'nen den ri'chen 4293. Cönstan-
ti'num den ri'chen 4463. zo Cönstanti'no deme ri'chen 4665. heiz
Arnolde here vöre gän 4707. die vrouwe Pfppfnis genas 4758. Berke'-
ris gewält 4883.
c) der vrömigistin nevölget mir niet 1262. zo kßmenä'ten gegan-
gen 1960. hie ist der m^rksere s6 vfle 1995. den k^rkenäere man uf
brach 2415. in püegrfmis gewaete 3688. verwändelo'te die sinne 4012.
Von selbständigen loorten finden sich also in doppelter Sen-
kung nadi tieftoniger hebung: der artikel, das pronomen perso-
nale, die pr aepositionen, die adverbien da und dö, das pro^
clitische here {in here vor), das hilfsverbum wesen, das ad v erb so
vor vile.
IV. Bei folgender doppelter Senkung gelten für die hebung ganz
die gewönlichen regeln über verschleifung, elision und Unter-
drückung des tieftonigen e vor liquiden; verschleifung : kitenin
geliez 757. rodete du go'te 250. so nömich einen holden 2217 usw.;
elision: war ümbe ich die Hde hän irhaven 3736. vo'rde einen he rlichen
vanen 3532 usw,; Unterdrückung des tieftonigen e vor liquiden: 16ider
sie neheten vrouwede niht 347. zo deme er allen sinen rat nam 453.
Thiederich gezögenliche stünt 909. Dfetheriche du hte die rede got 1447.
Dietherichis kömeraere 1729. Dfetheriche uf den liph sin 2404. der
k^rkenaere wärt gerümot 2533. zo Dietherichis h^rbergen gän 2546.
pöllin unde deine gewiere 3565. väzzen unde baden 3749.
266 AMELUNG
Es kann aber auch jede der beiden metrisch und pluynetisch
einsilbigen Senkungen graphisch zweisilbig sein:
a) indem v er Schleifung eintritt. Dabei sind zwei falle zu
unterscheiden, von de^ien der zweite sogar über die freiheiten hinaus
geht, welche in einfacher Senkung gestattet sind. Erstens darf näm-
lich die verschleifung hier, wie atich in einfacher Senkung gestattet ist,
dann eintreten, tvenn die erste der beiden zu verschleifenden süben tief-
tonig ist: Ungerin und Krechen 489. Eöthere den li'ph 933. mänte-
lin sie sich 1086. scho'wetin die jüngeliuge 1109. bez&chuote den
rfchetüm 1101. väzzete sie mit gewande 1177. väzzite sie äl geliche
1340. unde väzziten sich vlfzeliche 1572. in deme v6nstere die junge
2169. lö'nede den godin 3049. völgeden der vröuwen 3213. die
vröuwe vrä'gede den spilemän 3230. irbärmote den rücken 4111.
vrä'geten die vörsten alle 4295. do crö'nete man in mit golde 4712.
unde mächete den holt jungin 4881. Hierher gehört auch: unde
cörzitime äve den stälin hot 1694. ich käfifedene Undankes ane 2051.
Zweitens aber tritt hier die verschleifung auch dann ein, wenn die
erste silbe hochtonig ist, was sonst nur auf der hebting gestattet ist,
ivährend in der Senkung der Wegfall des tonlosen e graphisch ausgedruckt
werden muss. Doch ist dabei tvol zu beachten, dass diese freiheit nur
in denjenigen Worten stattfindet, welche, wie wir oben gezeigt haben,
ihren hochton nach bediirfnis abwerfen können. Für die formen des
artikels gestattet es auch Otfrit (Lachmann zu Iw, 651), ü'z deme gedf-
gene 71. tüot von deme himele 72. waren deme küninge 146. wöl-
den ire ci'rheit 82 4. gezseme wole in 952. heizen ene üngebajre 1035.
wände ene erbarmet 1119. sägete iz deme ingesinde 1151. lä'zitenemit
gemache 1158. durch däz her eme si'ne spise nam 1154. werfit ine in des
sales want 1163. des livete vile mänich riche 1311. sie sint zo deme gür-
tele 1363. swer so genäde sö'chit ane mich 1374. unde vrä'gete ene
wie her wäre 1418. B6rk§r ime öinen hof gab 1482. s6 mög wir ine
aller best gesen 1533. her wiste wole däz iz ir ernist was 1994. iz
schfnit wole sprach die kuningin 2053. Herlint sprach zo deme he'rren
2093. sus istiz aber immir ungetan 2277. unde ne stu nt ime doch nie
so leide 2468. ich bevälch sie eme ü'f daz leven sin 2530. d6 hüb
•
sich linder deme himele 2555. zo Cönstantfno deme küninge 2558. in
was zo deme störme harte lieb 2675. wir mö'zin aver 6inin kiel havin
3059. ir lieget deme du vele an daz bein 3131. nu heiz die kint zo
deme sciffe tragin 3210. unde sprach zo deme köninge h§rl!ch 3291.
her gab sie ime äls6 ringe 3733. Cönstantfne deme ri'chen 3757. in
was zo deme störme vile lief 4181. sie wserin ime üngeswichin 4369.
BEITRAOE ZUR DEUTSCHEN METRIK 267
du hflfis ime stddencliche 4774. ünde deme h^lede Grimme 4821. sie
hatten ime wöl gedienöt 4836. — Auf diese letzt^^re beohaclitung gestützt
wird man in solchen föJlen wie gewröche ane mi'nen 37. hßlfe ime
däz 196. van oder slä'n 1064. ein verörloget man 1385. in moz vile
we werden 1690, die sehr häufig sind, gar nicht doppelte Senkung
anzunehmen brauchen, sondern darin nur eine etwas weif er ausgedehnte
freiheit im gdrrauch der verscldeifung sehen.
b) indem synaloephe eintritt: wie törstis du_an disen rät gän
561. war umme söldistu_an sfner spise sin 1244. s6 heizen sie_in
göben daz selve wiph 1070. eya äime wie^ich nü virstozin bin 1458.
bfz man sie^ime ü'z der hant brach 1712. eya drme wie_ich nü geho-
nit bin 1770. so ne hatten sie^is nfht genozzen 1784. ein rfese sie_im
uz der hant nam 1678. vere (?) die he_dnme städe väut 3105.
V. Wenn man die hier aufgestellten regeln in anwendung bringt,
so erscheinen, ohne dass deshalb auch nur ein buchstabe geändert zu
werden brauchte, von den 5180 versen unseres gedachtes etwa 5000 durch-
aus nach einer festen regel gebildet. Einer so überwiegenden mehrzahl
von fällen gegeniWer wird es na>ch den grundsätzen einer verständigen
kritik nicht nur gestattet, sondern geboten sein, die übrig bleibende min-
der zahl für verderbt zu halten, und sich mit vorsieht an eine emenda-
tion zu wagen. Eine nicht geringe zahl derselben erledigt sich durch die
beobaehfung geunsser stetig widerkehrender Verderbnisse.
1) Ist in einer ganzen reihe von versen das metrum schon durch
annähme einer in der handschrifl nicht angedeuteten apocope oder
syncope des tieftonigen e hergestellt. Der aus fall des tief tonigen
e ist demnach anzunehmen in einigen formen des pronomen possessivum:
und bädeme sine härfen dar tragen 167. des ist in minis he'rren hove
vile 299. mir irlöuben mines herren bodescap 304. die wi'le sine Irfnt
äzin 2498. ünder sinen armen 2782. hü'de sine grafscaft 3547. ich
wsene dinen n6ven not bestät 4194. Sodann in einigen verbalformen:
dar mite zi'reter die ri'ter sin 155. wat recken möhte dar s6 ri'che sin
3001. diz dünkit mich ein bö'se veitstein 3133. höizet mir min h6v«t
ave sclän 3168. yerlä'zet s6 iz fme an die not gat 3412. Ferner in
einigen anderen fällen: waz wörbis umme i6n virtrivenen man 946.
Cönstantinis höf 1310. her was mir ie genaedich 2237.
2) Lassen sich mehrere überfüllte Zeilen dadurch emendieren, dass
man sie in zwei verse zerlegt: ünde wöit öuch wöl | we ez ümbe
däz wiph stä't 94. däz si örme he rrön | ümbe die mäget vö'rön 145.
do rödite ein alt vröuwe | die höz H6rlint 280. dö rietin fme die he r-
268 AMELUNO
rfen I daz h^r ir also pflsege 954. ja ho'rtich mi'nen väter | hf bevören
sprachen 494. (Zu dem ungenauen reim 493 : 494 V(jl. 2663 : 2664.
1659 : 1660 u, a.). Wenn dadurch gruppen von drei reinizeilen entste-
hen, so hat das nichts hedenhlichcs , da solche auch an anderen stellen
des gedichtes öfUr überliefert sind: 978, 1627. 2547. 3171. 3945. 4027.
4455. 4923. Bei 1894 scheint allerdings eine zeile ausgefallen zu sein.
3) Erledigen sich viele verderbte verse auf gleiche weise, wenn man
die epische einführung des redenden durch er sprach, sprach er
tilgt. Die epik der spielleute, welche für den lebendigen Vortrag vor
versammelter menge bestirnt war, bedurfte solchen Überganges in die
directe rede nicht durchaus, da eine blosse tnodulation der stimme genügte,
um jede undeutlichkeit eu verbannen. Beim schriftlichen aufzeichnen
eines solchen gedichtes war aber wol eine deutlichere bezeichnung für
das Verständnis der leser erwünscht; daher fügen die Schreiber Jiäufig
ein solches den vers überfüllendes er sprach hinzu, welches wir, auch
wenn es im autograph des dichters stände, wegzulassen berechtigt wären,
da es gleichsam nur ein Vortragszeichen für den Vorleser ist, und wir
uns dafür der anführungsstriche bedienen. Demnaxih iväre zu lesen
„swil ü'wer dänne wil scät nöraen 190. „du sält mir rä'tin B6rtlr 456.
„wer hä't irhäben disin scäl 696. „nu virnfmet tft'rin wi'gände 712.
„owf, küninc Cönstantä'n 832. „er nemäch vor Rö'ther nfht genasen 942.
„man bü'tit uns hie ünröhte 995. „nu warte wie jönir hövemän 1167.
„ich wölde g^rne, Cönstantfn 1253. „wöldit 6r nu, väter min 1537.
„ow8' waz hä'n ich dir getan 2124. „min herre mit den sinin 2687.
„got lone der, herre Dieterfch 2800. „geselle, war z6 wöUit ir däz?
3124. „nu scö'ne, köninc herö 4455. ÄJmli^h ist 818 si gelobetin der
grösseren deutlichJceit wegen vom Schreiber hinzugefügt; doch zerstört es
das versmass und des sworen sie ime eide, die liezin sie unmeine, daz
sie hietin Röthere Thideric ist grammatisch nicht anzufexlUen.
4) Die übrigen lassen sich nicht aus einem gemeinsamen gesichts-
punkte emendieren: vers 63 lies Lüpölt sprach dller erist; 118 ist herre
zu tilgen; desgleichen 130 grauen; 142 ist zu lesen daz ne verrßdtich
durch neheinen man und ebenso 964 ob siez aber verredit habetin; 165
van dem stade wolde der helit göt ; 200 gegin Cönstinöpole zo Kre chöu ;
217 ich wil di'ner schiffe mit triwen plegen; 289 nu orlö've mir mine
bodeschap; 319 her wölde dine töhter zo küninginne hä'n; 335 du no
bescö'hetis änderis nimmer den täc, und ebenso 3003 kome ö immer gein
vertriwen man; 3577 iz scinit den Beyeren immer an; 336 wände mfner
töhter nebät nihein man; 403 do sie von lande solden; 492 des änt-
wordo ime der getrü'we man; 729. 1000. 1274 ist hie zu tilgen; 752
BEITRAGE ZUR DEUTSCHEN METRIK 269
dar linder einiu rfesiu vröissäm; 799 her heiz daz lüt in gän; 897 inge-
gin ine gingen de herzogen stän; 999 entweder des mohte her lihte
untgelden oder nach analogic der unter IL 1, d. zusammengestdlten
fälle des möhter noch li'hte untgöldön ; 1058 daz wer virsageten Böthere
1069 urul 3862 ist owi zu tilgen; 1141 her t6ten over dfsge gröze not
1190 vielleicht? der küninc jach öiner no'tö, daz h^r diz nfene taetö
1215 Berter sprach zo deme herren sin; 1316. 1317 ir zoch ein gröz
heris (^aft dar hine zo Dietheriche; 1360 sie ne tragent nicht umbe die
lenden; 1575 unde mohte daz Iihte sin getan; 1602 dar in oder dar ane
lac got gesteine; 2086 wie schire sie ober den hof trat; 2101. 2102
daz du ir den änderen schö'ch g^ves, ünde sie s^lbe ges^ges; 2239 in
trüwen, sprach die kuningin; 2377 ob sie ieman so leve hette getan.
Auch 2145. 2717. 2776 gehört der dativ iemanne blos dem abschreiber
an; 2650 her h^rbergete aller vürderö'st; 2943 zo eime koninge hän
gelovet; 3396 so h^ttich einin mfchelen löuf verlorn; 3795 sie stälin sie
Röthere. Für folge^ide stellen bietet sich mir keine uHirscheinliche emen-
dation: 222 : 223. 520 : 521. 970. 1018. 1135. 1557. 2215. 2238. 3839;
sie müssen aber für verderbt gelten.
VI. Dasselbe princip des Versbaues, welches sich am Bother so
vollständig beobachten lässt, zeigt sich ganz in derselben weise bei vielen
anderen , namentlich erzählenden gedichten des zwölften Jahrhunderts, so
bei Hartman, vomgewujjen (Massmann, deutsche gedickte des XII. Jahr-
hunderts), in Lamprechts Alexander (daselbst), in dem niederrheini-
sehen Tundalus (LachnMnn, in den abhandlungen der Berliner acade-
mie 1836), in den niederrheinischen bruchstücken von Herzog
Ernst (Herzog Ernst, herausgegeben von Bartsch. Wien 1869), im
Grafen Rudolf (herausgegeben von W. Ghrimm. 2. ausg. Göttingen
1844), und in den bruchstücken eines von Karl dem Grossen und Gaije
handelnden niederrheinischen gedichtes (Lachmann a. a. o. s. 172). Viel-
leicht Hessen sich noch andere anführen. Leider aber sind mir hier am
orte nicht alle in betracht komtnenden quellen zugängli<ih.
Dass alle genannten gedichte mitteldeutsch sind, ist gewis
kein blos zufälliger umstand.
Eine vollständige analyse dieser gedichte zu geben ist überflüssig;
ich gebe im folgenden nur beispiele zu allen punkten nach dem obigen
Schema, und zwar für die selteneren erscheinungen reichlicher als für
die ganz gewönlichen. Ebenso tvie im Rother stehen in allen diesen
gedickten von selbständigen werten am häufigsten artikd und pron.
pers. in doppelter Senkung. Ob einige der im Rother beobachteten fäUe
in diesen gedichten nicht vorkommen^ dagegen solche die im Rother nicht
ZBIT8CHB. P. DEUT8CHB PHILOL. BD. lU. l8
270 AMELÜNG
0u finden sind, mll ich nicht entscheiden , da es sich hier ja nur um
die feststellung des gleichen princips handelt und das einzelne doch
imtner schwankenderscheinen 7nuss, tvo es nicht im Zusammenhang einer
durchgreifenden kritischen bearbeitung des betreffenden gedichtes darge-
stellt werden kann. So wird denn manches mal au^h die beurteilung
einzelner stellen, die ich anführe, zweifelhaft erscheinen, da ein und
derselbe vers ja wol verschiedene beurteilungen zulässt , je nachdem man
klingende verse mit vier oder mit drei hebungen liest, oder je nachdem
man dreisilbigen auftact anwenden zu müssen glaubt Im grossen gan-
zen aber lässt sich mit voller bestiuHtheit behaupten, dass in allen diesen
gedickten ganz dasselbe metrische princip walte, me im Bother. Für
die beurteilung zweifeüiafter stellest dürfte ich mich wol einigermassen
auf die im Rother gemachten beobachtungen stützen, so dass freiheiten,
die dort nicht nachweisbar waren, auch hier nicht angenommen werden
dürften , so lange irgend eifie andere auffassung zulässig erschien. Fer-
ner habe ich an dem grundsatze festgehalten, dass in einem gedickte,
welches im übrigen ztceifellose fälle von doppelter Senkung häufig auf-
weist, die annähme mehrsilbigen auftactes und schwebender beto-
nung in allen solchen fallen überflüssig sei, wo sie durch die ar^nakme
doppelter Senkung nach den oben gezeichneten regeln zu vermeiden ist.
Für die kritische hersteUung der gedichte des zwölften Jahrhunderts wird
mit hilfe dieser beobachtungen noch viel zu gewinnen sein. Eine einge-
hendere Untersuchung über den specidleren gebrauch, der in jedem die-
ser gedichte herscht, wäre durchaus notwendig. Doch lässt sich eine
solche natürlich nur im Zusammenhang mit der Übrigen kritischen behand-
lung des textes anstellen, und es toird daher die cndgiltige feststellung
der einzdheiten den künftigen herausgebern überlassen bleiben.
Bei den beleystellen aus graf Rudolf und herzog Ernst kante
natürlich nur auf das handschriftlich überlieferte, nicht auf die wenn
auch noch so wahrscheinlichen ergänzungen der herausgeber rücksidU
genommen werden. Im herzog Ernst sind vielleicht die doppelten Sen-
kungen noch häufiger, als es nach Bartschens ausgäbe ersclieint^ wenn
nämlich dessen anmerkimg zu I 2!) so zu verstehen ist , dass er überall
ohne angäbe der lesart auslautendes e mich bedürfnis getilgt Iwbe, was
jedoch nicht der fall zu sein sclieint,
Lamprechts Alexander citiere ich nach der Strassburg-Molsheinwr
handschrift; der abweichende text der Vorauer handschrift (Diemer,
deutsche gedichte des XI, und XII. Jahrhunderts. Wien 1849) geigt
übrigens die gleicJie metrische eigentümlichkeit.
Ich gebe jetzt die Übersicht mit belegstellen aus den oben genanten
gedichten, wie beim Rother, wobei jedoch die beispielc für doppelte sen-
BEITRAGE ZUB DEUTSCHEN ICETRIK 271
kung 7iach tieftoniger hebung sowie für verschleifung und synaloephe in
doppelter Senkung nicht in gesonderte ruhriken gebracht sind,
VIT, Erstens: doppelte Senkung durch praefixe, suffixe und
^zweite glieder von compositen ausgefüllt,
a) mir armen gene'dich vom gdouhen 36. älliz gesiet das. 134.
dänne sichöin das. 139. würden gehöilet das. 171. die wi'sen begiin-
den das. 347. einem iewelhemo 388. worden getro'st 503. di martere
begündistu 1849. ein wä'rer prophe'ta 2166. in wflhem gedänken Alex.
21. den sßlben gedänc das. 34. geli'chet nehöin 48. Alexander genant
113. Alexändris gebürte 127. mfi'ter bestunt 161. sfnen gedänc 223.
mit y sine gebunden 294. Philippum geleft 296. der röiden begünde
Tund. 33. der räden begdn das. 56. hfeet Archämächä 83. dirrer
pfnen gegäde 124. in grö'zem getwänge 148. inwürden geve JErws^ I 24.
niet invernära das, I 37. änderis in keine I 30. intrü'wen gesöget I 61.
in eine kapöUe 11 58. herter gescug V 20. mögten besta'n V 56. wä'ren
gecümen gr. Rud. ßl, einen geßrtin B 1. si'nen gesellen d^ 14. gre-
ven beläp cJ** 19. nimmer getan C 10. ällez virlöru D'' 26. des gre'-
ven ne sönde ich E** 20. äbbet gerlten H 6. ü'wer gemute J 19. häd-
den gerä'den Karl 115. wizzit virwä'r 293. kindere gesprä'chen 396.
mächet gewis 454.
b) des israhelischen lutes vom gdouhen 699. märterinne tü're
2257. dem mönnischen döm ist das. 2810. himelischen herscäft 3679.
he'riste man Alex. 51. göuchelSres sün 84. eiisten jare das, 178.
[unde] wie er si'nen vi'anden lä'gen sölde 241. güldinen näph 492.
irdische länt 1555. tu sinden wa ren 2192. brinninde väkele 3164. elfen-
bfeinine cräpfen 5963. lägende sint Twnd. 119. ündersten cönden 161.
des ä'vendis dö' Ernst II 33. gre'vinnen also' gr, Rud. a ** 4. a bendes
spä'te J** 1. kuniginnen wärt J** 29. scri'ende mächen Karl 428.
c) mit götelichen si'nen ougen. vom gdouhen 135. ünrehten nöh
483. w6rltlichen ere 1256. ärbeites sl 2082. sümelichen zörn 2154.
herschefte plagen Alex. 124. jüngelinge steit 172. vörneme man 200.
künicriche sölde 313. fröisliche stimme 333. zägeliche dänne 1572.
höhmutes widerstiezen 1601. scäntliche nemen 1935. mit völcwige rät
2136. bit deme pälenzgreven si'me trüte Er'nst n 44. die In den her-
bergen Ugent erslägen gr.Rud, C15. gezögentliche sie G 11. mit vrd'-
liöhem mute J**5. als werlichen als Karl 453.
d^ legellch von vom gdouhen 332. ein legelich di' er 412. in der
cristenheit aller tagelih 1025. von der crlstenheit bin ich verwäzen 1815.
der wünderlih Alexander. Alex. 1296. blö'dicheit wIrt 1524. ändirhalb
18*
272 AMELUNO
hfez er 2264. ändirhalp hündiit 5545. ir höimelich kemeraere gr. Rud.
F 11. ein nßphelin da' er üz dranc HMO.
e) unde wf er läntrecht bescheiden künde Alex. 250. ünde in
einen märstal betu'n 302. nfeman ne w^rde gr. Rud. J 20.
Zweitens: selbständige worte in doppelter Senkung.
1) artiJcel: ünde diz m6re vom gel. 116. ünde di sünne 117.
ünde di msenin 118. alle di dinc 219. alle di gewält 230. ' ällis des
väter 241. höizct des väter 277. ünde di lüfte 329. ünde di stünden
377. gab er deme tü'vele 1936. wi v6rre diu sünne Alex. 216. alle
di cündicheit 221. Alexander daz Mele kint 228. ümbe daz rös 323.
ünder des küninges 427. ünde di bro dekeit Tund, 8. ü'zer der g<5des
lere 13. sprichit des sünderis 28. nä'her den Sötten 75. Ibömen daz
selbe 80. hädden den selben 103. vrä'gede den ängel 105. üUe di
berge 138. daz ho bet des strängen 159. ällit dat ri'che Ermt I 6.
ke rden di heiede V 35. stünden di degene V 37. ümme die nö't gr.
Rud. a 4. äfter deme lande ß 5. alle die länt y 22. wfsete daz gögen-
sidele A 4. uffe die were d^ 10. üf siae trü'we daz kindeli'n F. 9.
blä'sen die trümmen F** 6. so mü'ste die wöl geborne H 23. älse die
vröwe J 11. die richte fnde die krümbe Karl 18. alle die länge nait
135. Karle deme wäl geborne 143. ümme die schulde 217. sprä'chen
die kindere 392.
pronomen personale: würde wir göte vom gd. 9. wfl ih der
rede 25. wfl ih gedingen 26. gedenchen wir leider 150. mächete ans
redebere 155. sölde wir ime 165. zo eineme lieben süne ime irkörn 194.
begünden si älliz 378. begünden sih öuh 391. di heizent si li'beräles
414. begünde unsih alle 852. daz säg ich iu ä'ne lugene Alex. 118.
wöldet ir alle 125. wi^ er sih füre nam 181. stach ime die list 223.
wä'ren ime ällirvare 286. älser vernäm 297. wände man s<51de 311.
lä'zit mich nich 337. stärke man warf 1212. wölden wir m6rken Tund. 4.
in können si nit 67. leide si über 102. wöUes mir cünden 108. ward
is gewäre 133. dü'hte si wserliche 136. in drü önde si hfne schdz 170.
durch die flamme man dlkke twanc 171. verdi'net her wale Ernst I 16.
so wä' hes bedörfte 1 18. dät he des küningis I 31. sägede ime w§'r-
liche I 42. inwöldis du dir I 49. he wflle sig dfr I 52. zwä're he mir
II 7. ig nerü'men iz ime niet II 9. der 611en he wäle II 26. W^zzel
he zu ime U 35. sägede he iemer II 56. gingen si ä'ne V 7. lüzzel
si Ire y 23. slü'gen si alle V 24. e dän si se dru z V 30. inkünclen
in änderis niet gedün V 45. slü gen si bft den swerten V 67. lüzzil
man flites da y(irgaz) gr. Rud. A 6. daz wir in geiezzen B^ 10. . l^fe-
ten sich nider d 6. nänte man Ä'gar d^ 15. nä'men sie michMen d^ 19.
BKlTBlOB ZÜB BSÜTSCRBN MBTRIK 273
wölde man ime C 4. hätten sie von den C 20. her gre v« wie Ifden
C** 19. gevöUet sie^ime wöl oder übelfe D 1. völgeten ime härte gömfe
F** 8. sägete man über al G** 11. vil dicke_her in ünmaht wider seich
GM 9. hätte^er gevällen G**20. (vgl. KM. 8. 17.).^ wfl es ime
ümber H** 11. gäp her ime da H** 12. vugete sich härte ebene J 27.
vil Ifebe sie ire dö' gedähten K 2. min vrowe ist müode , sine mäch
nicht me K 22. begünden sie sfg beröidfen Karl 12. hädde sie M6'-
rant 38. vrä'gede sie Inninclfche 79. wfl ig is mi'den 108. drd'mede
eme züo den ziden 150. reiche mir cl6idere 171. bringet mir slven
hundert 321. gä'ven sig bßide 399.
pronomen demonstrativum: daz wäzzir daz ist daz dritte
vom gd. 1030. daz Opfer daz ist bequeme 1239. dine Crfstinen wöl-
lent des nicht verzihen 1539. ime brä'hten di von Armgnje Alex, 2001.
si naeme des mfchil wunder 2649. 3057. von mi'nen sünden daz 16ider
quam 3413. so ne mäch daz nehäne wis wesen 3723. nft ne vöhte
dit üngemäch Tund, 98. war ümbe dise seien alzemäle 109. zwä're
he mir des getrü'wfe Ernst U 7. und rü'men die göte ze e'rön gr. Rud.
C 8. und hiezen die äne tuon männes wä't C 22. nu nimet dirre rode
göume F 15. nu warte wänne daz müge gesehen G 5. sägete, der
hätte mit ime getragen H** 9. wölde des göt geiü'chön J 1. Bonthär-
den den wöldich ri'tön J 3. der grS've des inme slä'fe üf spränc K^'ll.
h^rre dat düon ig g^rnfe Karl 363. lelzit dat si'n 416.
praepositionen: begönde an ime mächen vom gd» 218. götin
den manschen 657. däz er durch si'ne 661. gestochen in si'ne site
1035. den manschen von göte 1295. begünde in daz hu's 2129. ü'f
von der örden 1357. ünde ze gesflite 1636. Kriechen ze kilnige Alex. 52.
wi' er zo den riteren 243. bestfi'nt in mit grö'zer 245. stfz er ze täle
263. iz wärt vor den küninc 296. schfllit in mi'ne ören 336. br^itele
•
von gölde 391. wöldin mit ß'rin 968. hi'z si mit steinen 1083. was
mit bed^cketen 1409. göt indfi' iz bit si'ner cräft Tund. 11. stü'nden
in grö'zem getwange 148. stärk üzer mä'zen 165. gesprochen bit säli-
chen zuhton Ernst I 4. mänicheme_an sfme li'vfe V 42. tüon vor die
stät gr. Bad. C 3. den li'p vorlöm von der Crfstenen diet C 25. sänte
er nach si'nen D 10. bänt er an ane F 16. der grg've mit siner F 25.
zwene durch sfne göileit F'' 18. wider an die mänheit F*'19. gröz
wändel vor sine missetät G** 24. näm her in si'nen H** 7. begönde vor
Hebe J 12. llep äne Uit JM8. die wöl gelöbeto über äl daz länt K 12.
ein rise in den älden ziden Karl 36. Mö'rant in sfner haut 38. hö'rit
van dOn 39. Inde mit löve 43. Inde mit knäpen 44. van pellele Inde
van bäldekin 52.
1) (2e» h hindert hier also die eUsian nichi.
274 AMBLÜNG
conjunctionen: sine Unge unde si'ne wi'tt vom gel. 144. in
dem himele unde an der erden 231. nih glöube daz er gecrücegit wart
793. zo dm daz si ime Alex. 244. quä'men ouh wäle 1989. nu mer-
ket wi vile 2031. ih hoffe daz ih 2076. Herren noh fröwen 2850. ih
wä'ne daz ö'f dir erden 3194. so wöldih daz mich 3827. sprä'chen daz
da' 4237. si wä'ren als uns bedühte 5258. s6 stürbich ouh ä'ne Unge-
mach 6436. von gelerden unde öch von leigin Tund. 35. sin geist
vür zu der hellen unde säch 44. nft'ne unde virzik 53. mflche unde
höneges vol 64. läng unde smäl 127. in gebürte jog änme ri'chfe
Ernst I 53. bä'den dat ig dir I 63. die pörten ind dör V 13. gescäg
nog inwärt V 20. bewäre daz iz nicht zu nähe si gr. Rtid. B. 5. die
wile daz ich B**15. C 11. wir mü'zen doch mit in stri'tfen (J** 8. si
söhet in görne und iz ist ir liep 6 7. unsemo herren göt daz her
ie genas 6*" 20. mit ü'g inde sfnen Karl 98. si'n inde geworden 416.
of he gebu de we g^rne ig solde 455.
ad V erb: tiefer dän di helle hin nider vom gel. 114. wi lange
di sunne dar inne dage 389. ünde da mite pachtet 418. von dem
himele her nider quam 631. lob dir du da in den himel bis 1522. daz
alle tö'ne dar inne gihen Alex. 210. sölde dar an 311. di lute dar in
vertrunken 1066. böume dar äbe 1088. di wile d6 Alexandris here
1137. man möhte da scöwen wündör 1245. möhte da dögene 1285.
wände sine türsten da niwit länger stä'n 1372. der grä'be dö ^rz
gehörte 1861. wü ih her wider 2231. wir mo'sen dan von den wi'bön
2680. du vindis hie niht ze nßmen^ 4804. des wä'ren dö öilif hundert
jär Tund. 52. wände man in da zo höve niet in vemäm Ertist I 37.
de kämerö're stu nden da vüre II 49. ich waene da niht no wärt gespart
gr. Rt4d. y 21. ich waen si da höime niht onsagen C 16. hiez sie dö
süochen K 1. daz wä'ndich däz iz nu wäre irgan K** 25. we're da bi'
Karl 439.
wole. ie. niht: er ne wölde niwit länger lödich sitzen Ahx. 29.
irin willen ie so' vollen bröchtm 62. der küninc ne wölde niht böitftn
3938. er ne sölde niht starben 6ine 4860. er kante wol si'ne liste 7054.
er wiste wol däz er söld^ gr. Rtid. y 7. daz sie se nicht möchten
gewinnen cJ** 21. als id nit wä'r in is Karl 453.
auxiliare verben: Crist ne hat ünsir nit verg^zzen vom gd.
927. bö'se sint mi'ne gedänkö 1791. so däz is nie ne wart si'n gelfch
Alex. 198. an einem küninc wil ih is beginnen 440. sin bränie was
hümin vil väst 1305. daz 6r sich mir ze Eigene wil g6ben 1547. sin
höubit was ime verschallet 1 797. da di brücke was äne gehangen 2645.
daz m^re ne mac nieman tri^'b^n 4879. si s^lbe was härte lüssäm 5851.
BEITRAGE ZUB DEUTSCHEN METBIK 275
dl näht ne was nie so tünkfel 5982. gödes wunder sint mänicfält Tund. 1.
döckelächen was da' bereit gr. Rud, a** 2. die nacht newart nie sd
tünkfel A*" 9. daz man mit §'ren mach schöuwen C*'4. ein Mtte was
da bereitet J^ 11. deme gre'ven was Uit ir üngemäch K 21. dat män-
lig blfde was inde vro' Karl 77.
2) possessiv und indefinit: in dem nämen dines einbörnen
sünis voin gel. 37. ünde sin blü't 1123. sw^r ze missen sin öfifer gibet
1225. daz er wsere ein getüsternissö 1292. berü'ren dinen li'b 2171.
unde giu b mit si'nen nägelen ein grab 2312. dö h^ter einen Sälemö'nis
mü't Alex. 20. daz quit iz ist älliz ein i'telichMt 25. swi ime sine
dinc 122. nie nehein kint 140. unde wier sinen vi'ant sölde vä'n 238.
nie nihein bözzer 293. unde älser vemäm sine gelegenheit 297. unde
an der hänt einen geren 1253. der ne genas nie nehein mü'ter bärn
1703. üflfe ddz si iren willen völlebringen Tund. 121. den einen sah
si sin höubet wanden 153. dat dede eime He nrfche we Ernst I 25.
öllenclfche sin rä'tg^ve I 27. dat ig si ä'ne mine sciilde hä'n verlorn
II 2. irhü'ben einen stürm V 18. nie inkein harter V 20. nie iukein
m
stürm V 26. und waere din schade gr. Rud. D** 24. grozer eren half
in sin dögenhMt F 25. min he rre wölde dine vröwen söhen 6 4. daz
duhte in ein härte gü't gewin G** 26. dem gre'ven ein lüzzel H** 12.
d6 gewän sie ein vrö' gemü'te J 11. die greve sin n^ve K 25. he rre
min grö'z üngemäch K** 23. äl mine not K^ 27. mir hölpet min väder
Gämir Karl 313.
pronomeu relativum: ubir älliz daz göt ie hiez geworden vom
gel. 232. ein mü're di bfezer wä'rfe Alex. 1279. mit dem gölde daz ir
mir habet brä'ht 1551. nu virn^met röhte, waz ih iu säge 5739. dan
alle di borge di si_ie*gesäch Tund. 138. det tön den (?) her inme grase
vant gr. Rud. H 12.
so. vile. al. also. z6: daz ist uns z6' der sele vil gü't vom gel.
932. ^ine vil gute minne 1004. er sprach, iz wsere in getrunken vil
gu t 1007. iz is ü z6' der sele vil gü't 1022. dem issiz z6' der sele
vil gut 1743. der beginnet vil dicke trähten 1754. er beginnet vil
dicke weinen 1763. alsiz des kindes vil wöl gewöne wsere Alex. 367.
si ünderquä'men vil härte 2237. dir tu n allir tägelfchö 3062. er wä're
so sco'ne ünde so cla r 3556. di säget man däz si vil ri'che sf Tund. 85.
so dief ünde so ^islich 114. ind irhü'ben einen stürm also grinmiän
Ernst V 18. nie inkein stürm also fröislig V 26. er wiste vil grö'ze
wizze gr. Rud. D ** 8. in nichöineme strfte so herte F ^ 24. zuo 6me
were s6 zörne Karl 144.
Das der directen rede eingeschaltete sprach (siehe oben IL 2. e.)
haben diese gedickte nirgends in doppelter Senkung.
276 AMBLUNG
Nach dieser umschau wird es wol keinem zweifei mehr unterlie-
gen, dass die doppelten smiJcungen nicht auf zufälligen schreihereigen-
tilmlichkeiten beruhen, sondern für eine nach ort und zeit begrenzt her-
sehende weise des älteren deuisclien versbaiis anzusehen seien.
Von älteren gedichten lässt wol auch der mitteldeutsche Fried-
berger Kr ist (MiUlenhof und Scher er, Denkmäler s. 73 ff,) diese
weise erkennen. Die beispide von versen mit überladenem ersten fuss,
auf die der herausgeber anm, zu E^ 14 aufmerksam macht, lassen sich
sänülicli auf die von uns beobachtete regd über doppdte seyikung zurück-
ßhren: D** 6. si da den imo mänec idewfz. 9 si hi'zeu in nfder sti'gän.
E** 14 s6 6ngeslich ward iz ünder in. P' 26 da fiinden si däz südä'-
riüni. P ** 65 d6 gi'nc er in rftthe bft in ; an zwei anderen stdlen des
gedichtes, wo der herausgeber aus metrischen gründen geändert hat,
würde sich das handschriftlich überlieferte unserer regd über die dop-
pdte Senkung ganz wd fügen: D* 9 euch sprach er er w§'re gödes sün.
F * 14 den st^in gewflcet vän demo grabe. Wenn letzteres im versschluss
vielleicht bedenklich erscheifien sollte, so ist zu beachten, dass die gedickte
mit doppdten Senkungen in dieser hinsieht nirgends eine bevorzugung
gerade des versschlusses zeigen. Wird die gdtung doppdter Senkungen
für die erwähnten stellen zugestanden, so wäre wol auch in folgenden
versen die betonung eine ungezumngenere , wenn man sie mit Zulassung
doppdter Senkung lesen wollte: D** 7 si nä'men gällun unde ezzlch.
E*22 däz man imo den liTiamun gab. G* 93 er frageda obe si^iewet
hettin. G** 134 daz si alle dise näth weren. 142 vi'ngen si dö' in rft-
thö. Dodi bleibt die entscheidung über diese fragen, die doch in die
zusaminenhängende kritik des ganzen eingreifen, wol füglich dein urteil
des herausgebers anheim gestellt.
VIII. Man könnte gegen das im obigen erkannte nwtrische prin-
dp einwenden, dass es einen zu weiten spidraum lasse um überlmupi
noch für ein princip zu gelten; dass bei so ausgeddmlen freiheiten
schliesdich jedes der bisher für metrisch formlos gehaltenen gedichte die-
ser scheinbaren regd zu unterwerfen sei. Alan mirde sich aber dodi
irren. So weit ausgedehnt auch die freiheiten im vergleich gegen den
strengeren althochdeutschen und mittdhochdentsclien versbau sind, so
haben sie doch ihre festen schranken und es gibt gedichte, die sich die-
ser beschränkung nicht fügen ^ die nach wie vor für unrhythmisch gdten
müssen. So urä^ den mittddeutschen der Anno, die kaiscrchronik, das
Rolandslied des pfaffen Kuonrat, die tugefidlehre des Wernher von
Elmendorf (Haupts zeiischr. IV 284,) und das erste der von Lachmann
veröffentlichten niederrheinischefi bruchstücke (a. a, o. s, 163). Auf diese
BBITRÄOB ZUR DBÜTSCHBN MBTBIK 277
gedickte finden die oben entwickelten regeln keine anwendung. Wenn
sich auch etwa im Rolandsliede die niehrzahl der verse unseren regeln
fügen toürde, so sind doch immer noch die überfiUUen Zeilen, die sich
auf keine weise in einen dactylischen rhythmus hineinzwängen Hessen,
zu häufig, als dass man an emendätion denken dürfte. Ferner finden
sich darin verszeilen, die, auch ohne überfüllt zu sein, in ihren natür-
liehen accentverhältnissen durchaus keinen festen rhythmus zeigen. In
den oben herbeigezogenen gedickten sind dagegen solche formlose zeüen
so selten , dass man sie nur auf die schuld eines nachlässigen abschrei-
bers bringen kann. Unter den oberdeutschen gedichten des 12. Jahrhun-
derts wüste ich kein einziges zu nennen, in welchem sich versbau mit
doppelten Senkungen erkennen Hesse. Sie sind, wo sie nicht das stren-
gere princip der Otfridischen metrik befolgen, metrisch formlos, wie z.b.
die gedichte Heinrichs von Melk, denen der neueste herausgeber (Richard
Heinzd. Berlin 1867. Bei Weidmann) mit recht jeden beabsichtigten
rhythmus abspricht (seile 14). Da nun hinwider kein einziges mittel-
deutsches gedieht vor dem ende des 12. Jahrhunderts anzuführen ist,
welches die einsilbigkeit der Senkungen nach Otfridischer reget streng
festhielte, so werden wir wol den versbau mit doppelten Senkungen als
ein besonderes kennzeichen mitteldeutscher poesie ansehen können. Dass
ettva der versbau mit doppelten Senkungen den alhnäJdichen Übergang aus
jenen unrhythmischen reimwerken der älteren zeit, der sogenanten reim-
prosa, in die strengere mittelhochdeutsche metrik bildete, lässt sich kei-
nesweges dartun. Die mitteldeutsche und oberdeutsche weise rhythmischen
bau^s stehen sich selbständig gegenüber, und neben beiden zieht sich die
reimprosa seit dem ende des elften Jahrhunderts beinahe durch das ganze
zwölfte hindurch. Die form dieser unrhythmischen reimwerke kann man
daher auch wol nicht als bloss aus individuellem Unvermögen mislungene
metrische versuche ansehen, sondern als eine für sich bestehende freiere
kunstform, die von dem geschmack gewisser kreise gebilligt war, wenn
sie auch nicht in don maasse, wie Wackernagel annahm, ein ganzes
Zeitalter beherschte. Dass die reimprosa vornehmlich von geistlichen aus-
gieng, die rhythmischen dichtungen aber vornehmlich von laien, die an
dem volksgesange ihren formensinn kräftigen konnten, wird im allgemein
nen wol zutreffend sein.
Ist der bau mit doppelten Senkungen die einzige rhythmische form,
die sich an mitteldeutschen gedichten aus der mitte des zwölften
Jahrhunderts nachweisen lässt, so ist doch deutlich zu verfolgen, wie
auch hier gegen ende des Jahrhunderts der versbau nach hochdeut-
schem princip eingang findet. Schon der Pilatus liat sich von der eigent^
278 AMELUNQ
lieh mitteldeutschen weise vollständig frei gemacht; ob au^h der Aegi-
diiis, kann ich nicht entscheiden, da mirHofmanns fundgruben (1246)
nicht zur hand sind, W. Grimm sagt in der einleitung zu graf Rudolf
s. IS: „bei den dichtem des Prophilias, des Pilatus, des Aegidius, bei
Eilhart von Oberge und Heinrich von VddeJce kommen keine überlangen
Zeilen vor,*^ doch meint er wol nur die völlig formlose sübenhäufung,
wie sie sich in versen des Anno , der Kaiserchronik und des Rolandslie-
des findet, da er s. 14 auch Lamprechts Alexander die überlangen zei-
len abspricht. In den bruchstiicken von Karl und Galie zeigen sich die
doppelten Senkungen schon in der abnähme begriffen, und man wird
daher dem dichter vielleicht wol die absieht zuschreiben dürfen, mög-
liehst auf einsübigkeit der Senkungen auszugehen, wenn es ihm auch
noch nicht gelungen ist, sich von der älteren mitteldeutschen weise wirk-
lich frei zu machen. Im dreizehnten Jahrhundert hat die allgemein
her sehende regel des Versbaues mit einsilbigen Senkungen auch in die
mitteldeutschen dichtungen vollständig eingang gefunden, wol namentlich
auf den Vorgang Heinrichs von Vddeke. So im Athis und Prophüia^,
bei Herbort von Fritslar, bei Bertolt von Holle, in detn gedieht von
Marien himmelfahrt in Haupts Zeitschrift V, 515, in den von Bartsch
herausgegebenen mitteldeutschen gedichten (Bibliothek des litterarischen
Vereins in Stuttgart. Bd. LIII), imPassional, wenn sich auch nameni-
lieh im anfang häufig metrische incorrectheiten finden, die auf jene ältere
mitteldeutsche verskunst zurückdeuten.^
In späterer zeit finden urir wider verse mit doppelten Sen-
kungen im neueren deutschen volksliede. Während in den kunstmäs-
sigen dichtungen des 16, Jahrhunderts das princip der Uossen silben-
Zählung bereits zur herschaft gelangt ist, erhält sich im volksliede inso-
fern wenigstens noch das princip des mittelhochdeutschen Versbaues, als
1) Jetzt glaube ich auch die frage nach der Priorität des Münchener oder
Heidelberger textes entscheiden zu kömun. Wer an den hodideutschen vershau mit
streng ei/nsilbigen Senkungen gewönt tcar, dem musten doppelte Senkungen anstösaig
sein; umgekehrt konte der, dem die doppelten Senkungen geläufig waren, anderem-
fachheit der Senkungen, die auch dort nicht ausgeschlossen war, durdwus keinen
anstoss nehmen. Daher glaube ich in dem hairischen text eine Überarbeitung de$
rheinfränkischen sehen zu müssen. Alle Überarbeitungen älterer deutscher gedickte
in jener zeit gehen auf formelle Verfeinerung und glättung aus , und den versbau mU
doppelten Senkungen seheti wir gegen ende des Jahrhunderts im zurückweifhen begrif-
fen. Verse mit doppelten Senkungen lassen sich durch kleine ^Veränderungen leidit
auf das strengere maass zurück führen ^ und so können die ahweichungen des Mün^
chener textes wol atis dieser absieht erklärt werden. Wir müssen daher trotz des
aufgefundenen bairischen textes bei Haupts annähme stehen bleiben , dass der Sother
von einem Wieinländer in Baiern verfasst sei.
BBITRÄGB ZUB DBUTSCHBN MBTBIK 279
hier imfner ein bestirnter rhythmus festgehalten wird, der durch die
anzahl der hebmigen bestirnt ist, während die Senkungen fehlen dürfen.
Das unterscheidende ist aher, dass jetzt zwischen zwei hebungen nach
belieben eine oder mehrere Senkungen stehen dürfen. Die Verwendung
selbständiger redeteUe in auf einander folgenden Senkungen ist dabei sehr
frei und wird sich schwerlich auf feste regeln zurückfiHiren lassen. Es
lässt sich nur ganz im allgemeinen benwrken, dass redeteUe, die in der
naJtürlichen betonung des satzes eine hervorragende Stellung einnehmen,
weniger geeignet erscheinen in die Senkung zu fallen, obgleicli auch diese
anforderung oft genug verletzt mrd.
Will man sich darüber rechenscJiaft geben, wie diese methode des
Versbaues sich aus der mittelhochdeutschen historisch entunckelt hohe, so
möchte ^fnan dabei zunächst wol die almählich eingetretene dehnung aller
stamsilben in anschlag bringen. Infolge dieser dehnung halte man über-
all da, wo na^ch mittelhochdeutscher reget verschleifung eintreten konte,
sogleich mehrfaclie Senkung, d, h, aus den früher bloss graphisch mehr-
silbigen wurden dadurch wirklich mehrsilbige Senkungen, Doch glaube
ich bezweifeln zu müssen, dass sich diese erscheinungen überhaupt auf
die mittelhochdeutsche metrik zurückführen lassen. Es scheifü in dieser
entwickdung keine vollkommene historische continuität nachweisbar, viel-
mehr eine einwirkung von aussen auf den hochdeutschen versbau statt-
gefunden zu haben. Wir finden nänüich dasselbe princip, das ich eben
dem volksliede des 16, Jahrhunderts zuschrieb, ganz charakteristisch aus-
geprägt auch im niederdeutschen Tteinke de Vos (}i<irausgegeben von
Lübben, Oldenburg 1867) und von hier aus lässt es sich in niederdeut-
schen gedichten bis gegen das dreizehnte Jahrhundert rückwärts verfol-
gen. Man vergleiche die niederdeutschen stücke no. 16, 21. 23, 24, 48,
56 usw, bei Liliencron, historische Volkslieder der Deutschen, lieber all
finden unr hier den gebrauch melirfacher Senkungen, im gegensatz zur
hochdeutschen verskunst des 14, und 15. Jahrhunderts , die, wo sie noch
nicht silbenzählend ist, die werte durch sehr harte kür Zungen und zusam-
menziehungen oder durch rücksichtslose Verletzung des grammatischen
accents in das metrische Schema presst, aber doch immer die einsilbig-
keit der Senkung festzuhalten sucht. Ich glaube daher wol annehmen zu
können, dass sich das neuere Jwchdeutsche Volkslied unter dem einfluss
der niederdeutschen poesie des 14. und 15. jahrhwnderts entwickelt
habe. Diese steht aber wol in unmittelbarem historischem zusammenhange
mit jenem oben geschilderten mitteldeutschen versbau. Der versbau im
Reinke de Vos zeigt uns ganz dasselbe princip , une die mitteldeutschen
gedickte des 12. Jahrhunderts, nur dass die Verwendung selbständiger
redeteUe in doppelter Senkung weitere ausdehnvmg gewonnen hol; doch
280 AMBLUNG
finden sich darin auch seitenlange partien, die nirgends über die ßum
Rother statuierten freiheiten hinaus gehen. Leider fehlt uns aUes fmUe-
rial, um die entwickdimg der niederdeutschen verskunst im 12. und
18, Jahrhundert zu verfolgen. Es lässt sich aber aus dem obigen weil
annehmen, dass sich hier jener ältere mitteldeutsche versbau in seiner
eigentümlichkeit fort erhielt, während die mitteldeutschen gedickte des
13, Jahrhunderts in ihrem dialect der herschenden Schriftsprache weniger
fernstellend von der allgemeinen Strömung der liiteratur ergriffen umr-
den und sich der eigentlich hochdeutschen weise fügten.
Wie der versbau mit beliebig fehlenden, einfacJien oder mehrfachen
Senkungen in den siebziger jähren des vorigel^ Jahrhunderts vornehmlich
aus dem volksliede widerum eingang in die moderne verskunst fand,
hat Koberstein § 272 dargestellt.
Der im obigen vermutete historische zusammcnliang zwischen dem,
mitteldeutschen und dem niederdeutschen 'öersbau mit doppelten senkufi-
gen, wird aber dadurch über allen zweifd erhöben, dass sich der gemein^
same Ursprung beider in der altsächsischen verskunst aufweisen
lässt. Wir werden in ihm eines der hauptkennzeichen einer speeifisch
niederdeutschen verskunst im gegensatz zur hochdetdschen erblicken. Eine
eingehendere darlegung der metrischen Verhältnisse des Hdand wird das
begründen.
n.
I. Die verse des Heland gelten für ziemlich wild und regellos,
und mit den principien althochdeutscher metrik ist ihnen nicht beieu^
kommen ; eine kritische her Stellung aus diesem gesichtspunkte könnte kat^m
eine zeüe der Überlieferung unangetastet lassen. Schneller „ Über den
versbau in der aUitterierefiden poesie besonders der ÄÜsachsen^' (Abhandr
lungen der bayrischen academie 1844) ist der ansieht, dass die alUttera"
tion das einzig fest geregelte darin sei, und bezweifelt s. 216 sogar, ob
man „diese gliederungen verse nenfien oder gar sie als solcl^ darstd^
lefi" dürfe. Zwar findet er im allgemeinen ein viergliedriges rhythmi^
sches Schema her seilend, aber verzichtet durchaus darauf, das princip
darzulegen, nach welchem die einzelnen tactglieder gebaut sind. Und
doch wird man sich immer wider versucht fühlen, auch hierin einer
festeren reget nachzuspüren, denn die annähme, dass hier wirUich in
keiner weise ein festes rhythmisch -metrisches princip vorliege, hol bei
einem in so echt volksmässigem altepischem stil gehaltenen werke etwas
durchaus widerstrebendes. Gerade den ursprünglichsteti äusserungen
volkstümlicher poesie gut das rhythmische dement der rede am höchsten.
BSITRÄOE ZUR DBUT8CHEN MSTBIK 281
SO dass in manchen ereeugnissen unmittdha/rer volJcspoesie alles , was sie
als poesie kensseichnet, einzig in der rhythmisch gebundenen form liegt.
Was sonst noch hinzu komt, ihnen den Charakter eines gedicktes zu ver-
leihen, die episdi formelhafte ausdrucksweise, ist der spräche eines noch in
ziemlicher urwüchsigkeit verharrenden Volkes auch da eigen, wo es nicht zu
dichten, sondern schlicht zu reden meint. Gedichte ohne jeglichen festen
rhythmus sind daher vorwiegend in Zeiten höchstgesteigerter cultur anzu-
treffen, am allerwenigsten aber in volksmässiger poesie zu erwarten: kin-
der und volk pflegen dergleichen litteraturprodukte gar nicht als poesie
anzuerkennen. So bleibt , wenn man nicht annehmen will, dass der
ursprüngliche text des Hela0kl in der liandschriftlichen überliefertmg bis
zur unkentlichkeit corrumpiert sei, und darauf deutet doch im übri-
gen der zustand des gedichtes nicht gerade hin, nur übrig, von der
überlieferten gestalt auszugehen und in den vorliegenden tatsachen selbst
ihr eigenes gesetz zu ermitteln, ohne von vornherein zu erwarten, dass
es mit dem übereinstimme, was wir bisher an hochdeutschen gedickten
beobachtet haben. Das aber wird man von jedem derartigen versüß
t erlangen dürfen, dass er mit dem bei allen germanischen stammen gleich-
massig herschenden grundgesetz über die wortbetonung nicht nur in ein-
klang bleibe , sondern auch, dass das eigentümliche princip des Versbaues
sich als eine möglichst einfache consequenz aus jenen betonungsgesetzen
der Sprache darstelle.
Fassen unr also die allitterierenden zeüen des Hdand als rhyth-
misch gebaute verse auf, so finden unr im allgemeinen dasselbe grund-
schema, tvdches der epische vers bei allen germanischen stammen auf-
weist: zwei durch allitteration zu einer langzeile verbundene halbverse,
deren jeder vier rhythmische tacte enthält. Das erste glied jedes tades
muss durch den grammatischen accent über die folgenden hervorgehoben
sein. Bis soweit stimt alles mit dem althochdeutschen versbau überein.
Im bau des einzdnen aus hebung und Senkung bestehenden tades tritt
aber der unterschied hervor. Einer von den unterscheidenden punkten
ist eben die Zulassung doppdter Senkungen. Dass es im Hdand verse
gibt, die nicht ohne die annähme doppdter Senkungen als ein viertadi-
ges gd)ilde aufgefasst werden könnten, wie z. b. I 12^ sia uürdun gicö-
ranä te thfiL 18 s6 uuä'run thia man hetäna. 20 uuirdiga ti them
1) Ich citiere n<ich Müllenhoff t. Altdeutsche sprachprohen. Berlin 1864" und
Jcann mich avuih in der ganzen folgenden Untersuchung nur an die daselbst ausgeho-
henen stücke I. III. V. VI. VII. IX — XII halUn, da es leider noch immer an
einer vollständigen ausgäbe mangelt, die sich auf den älteren und besseren codex
Cottonianus stützt. Doch sind die angeführten stücke umfangreich genug, um an
ihnen das wesen dieser verskunst zu erläutern.
282 AMELÜNG
giuufrkie. 147 sithor ik s^a mi te brüdi gicos. 367 thär gifrän ik
thät sia thiu b^rehtun giscäpu. 437 so huat so' siu gihö'rda thia man
spr^can usw, bedürfte wegen der häufigkeit dieser erscheinung nicht erst
eines besonderen nachweises. Wol aber erfordert der umstand , dass
dabei ganz dieselben regeln gelten, die ich schon aus den mitteldeutschen
gedichten des zwölften Jahrhunderts herleiten kohlte, eine vollständige dar-
legufig des beweisenden materials. Damit ist aber das eigentümliche der
altsächsischen metrik noch nicht erschöpft. Es ist 'noch ein anderer
umstand zu erörtern, der als grundlegendes princip den ganzen aUsäch"
sischen versbau durchdringt und aus dem alle besoiideren regeln über
die metrischen Verhältnisse der einzelnen tact§Lieder herzuleiten sind. Wir
werden auf die erkentnis dieses princips durch die folgenden beoba^Ji^
tungen hingeführt.
IL Ich gehe von der er wägung solcher verse aus wie I 11 hS'lägna
gest. 39 uuäldänd gispräk. 154 Ifk gidrüsinöt. 233 uuördgimörkiön
und ähnlichen, die nur drei hehungen zu hohen scheinen, da man dod^
unmöglich die tonlosen präfixe und suffixe für hebung ohne folgende
Senkung wird gelten lassen. Au^ch wäre diese annähme gar nicht ein-
mal zur erUärung genügend, da sich sogar verse finden, die unrklich
nur aus drei silben bestehen, wie XII 63 sfttiän thä'r. 65 all uuürthün.
Um aber eine textverderbnis anzunehmen, ist diese erscheinung zu häu-
fig. Wenn man nun in diesen versen nicht eine unbegreifliche anomalie
bestehen lassen will, so wird man sie kaum anders beurteilen können,
als dass man die eine hochtonige und lange silbe für den träger zweier
auf einander folgender hebungen nimt, also iTk gidrüsinöt, h§1ägna
gest, oder, was dasselbe wäre, für eine zerdehnung inli'-fk, gS'-6^st,
wie sie im gesange überall stattJmft ist. Ohne die natürlichefi quanii^
tätsverhältnisse zu verletzen, ist das aber nur bei langen vocalen mag-
lieh, nicht bei kurzen. Unmöglich ist uuäldänd gisprä-äk, uh>1 aber ist
uuVldänd gispräk, uuordgim^rkiön statthaft, da die consonanten r und
1 nach ihrer physiologischen beschaffenheit ebenso une die langen vocale
einer beliebigen dauer fähig sind. Und wirklich zeigt sich in allen den
fällen^ wo tmr scheinbar nur drei hebungen finden^ eine hochtonige
lange silbe, die entweder einen langen vocal enthält, wie 1 11. 21.
335 helägna gest, 154 ITk gidnisinöt, 230 br'fef giunlrkeän,^ VII 33
m'öM gihuörbän, IX 1 th'uo nä'hida, XI 101 l'i^k tesämnö, XU 13 m'6r
gim^nid, 63 sittiäu th'ä'r, oder 1, r mit folgendem consonanten: 1282
1) Der natur der detUacJien diphthongen ist es tool angemessener, wenn man
sie in bri'-i'ef, thü'-ü*o als in bri-^f, thü-ö zerdehnt, denn streng phonetisch wider-'
gegeben spricht man brief^ thüo.
BEITBAOB ZUR DBÜTBCHBN METRIK 283
'all gihuörbän, 427 'all giwi'sW, Xn 5 'tfll getufflid, 66 'a'U uuürth&n,
69 'all bicÜDSÜ, 139 uu'a'ldäud gispräk, 90. 179 uu'a'ldändes g^ld,
191 g'eld gile'stid, 277. 1X35 uu'a'ldändes cräft, X 24 uutfldändie
Crist, 158 h'elmgitrö'steön, *233 uu'o'rdgim^rkiön , V 29 uuäldändes
uuVrd, V 7. 18 neri^ndi Crfst (= nerjendi), XII 72 n'erifendon Crist,
X 3 bVrn dröhtines. At4ch 1 166 und XII 56 wird man wol hesser 'erl
äfüodit, s'ä'n üpp ähled betonen^ obgleich auch ^rl ä'füodit, säu üpp
ä'hlß'd nicht schlechterdings zu verwerfen ist tvie XI 89 man adögiän
und 99 uufht ä'uu6rdiän lehren. Nur einmal findet die zerdehnung vor
nd VII 62 kTnd gidrüogi, ein anderes nial vor nn statt: I 381 lüttilna
m'a'iin. Obgleich nun die resonanten oder nasale keinesweges continuae
sind, so ist doch auch das leicht erklärlich, tvenn man sich der neigung
des altsächsischen dialectes dabei erinnert, die vocale vor n zu nasalie-
ren und in folge dessen zu dehnen. Da nun also der ausfall einer
licbung immer nur nach solchen sUben stattfindet, die ihrer naiur tuich
deJinhar sind, niemals nadi undelmbaren wie h'u'ggiän, s'fttiän, so ist
meine aniiahnui einer zerdehnung wol mehr als wahrsclieinlich.
Aber auch die auffassung, als enthielten diese verse nur drei
hebungen, wäre in einem gewissen sinne dennodi zidäs^g, wenn nmn
nur die regd in folgender weise ausdrückte:
jedet' halbvers besteht aus zwei haupthebungen , die mit zwei neben-
hebungen abwechseln; von den letzteren darf die eine fehlen, wenn
die vorangegangene haupthebung eine hochtonige silbe ist, die durch
langen (auch nasalierten) vocal oder durch 1, r + consonant gebil-
det wird.
Es widerholte sich hier also zwisclien haupt- und nebenhebung ein
ganz ähnliclies verluiUnis, wie es ztvischen hebung ufid Senkung besteht.
Dass diese auffassung mit jener dem wesen der saclie nach eigentlich
identisch, nur in der formtdierung verschieden sei, brauche ich wol nur
zu bemerken. Dass aber die beiden formuliermigen zum gründe liegende
beurteilung des Sachverhaltes die allein richtige und zulässige sei, wird
'noch durch andere erwägungen, die sich daran schliessen, bekräftigt.
Wenn nämlich die nebenhebuf^ unter umständen ganz fehlen darf,
so wird notwendig die im altgermanischen verse überall zu tage tretende
Unterscheidung von haupt- und nebenhebung hier im Altsächsischen ganz
besonders stark und deutlich hervorgehoben sein müssen. Man hätte
also zu erwarten, dass die vier hebungen des verses in ihrer aufeinan-
derfolge einen deutlich markierten Wechsel einer stärker und einer min-
der stark betonten hebung vernehmen Hessen; also } f f f f f f f
im gegensalz zum althochdeutschen verse , derßffßfmm^ zu notie-
284 AHBLÜNG
ren wäre. Soll nun aber immer die erste und dritte hebung des ver-
ses für die Jiaupthebung gelten? Dann allerdings wäre der unter-
schied zwischen haupt - und nebenhelnmg im altsächsischen versbau nicht
zum besten beobachM, da verse wie uuid dörn^ro duälm. an ländö
gihuäm durchaus nicht selten sind. Ich denke aber die allitteration
kann aUein entscheiden; sie muss immer auf die haupthebung fal-
len. Im allgemeinen unrd das auch für das angemessenste gehalten,
aber es ist doch meines unssens noch nicht als die feste reget hingestellt
worden, als die ich es auffasse. Stdlt man aber diese reget auf, so ist
die notwendige consequenz daraus die, dass niemals zwei liedstähe
unmittelbar neben einander stehen dü/rfen; es müsten immer eine aUit-
terierende und eine nicht allitterierende hebung mit einander wechseln,
ausgenominen natürlich solche verse, die überhaupt nur drei hebungen
enthalten. So dürfien denn endlich, wo zwei liedstäbe vorhanden sind,
diese nur entweder die erste und dritte, oder die zweite und vierte vers-
stelle einnehmen, nie die erste und zweite, die zweite und dritte, dritte
und vierte , erste und vierte. Mag man das jedoch nicht so selbstver-
ständlich und zwingend finden, da doch in versen wie 1 197. 313 und
anderen ähnlichem, die betonung thät uui'b uürdigiscäpo. sui'tho güod
gümö natürlicher erscheint, als that uufb uürdigiscäpo. suitho gVod
gümö, so lasse man es wenigstens als hypothese gelten^ und als solche
ist es jedenfalls zulässig. Zeigt sich in den weiteren fcl-gerungen, die
sich daraus ergeben, alles in bester Ordnung, führen diese nirgends auf
widerspräche, tragen sie sogar dazu bei, sonst uncrMärlicIhes zu erJdä"
ren, so wird man sich gegen die richtigheit meiner annähme nicM ver-
schliessen können. Nun zeigt eine wnbefangene beobachtung der tat-
Sachen, dass die beiden liedstäbe fast immer auf die erste und dritte
liebung fallen: 3. 5. 6 (liudo hämo löbön) 9. 11. 12. 15 (he lag hfmilisc
uuörd) 16. 20 (uuirdiga tf them giuufrkife) 21 (them helithon an fro hör-
tän) 22. 24 (that sea scöldi'n ähöbbeän. Zwei-, ja dreisilbiger auftact
findet auch sonst häufig statt.) 25. 26. 27. 28. 29. 31 (ddälördfrümo.
Kurze stamsilbe für hebung ohne folgende Senkung ist notwendig afum-
nehmen nidit nur im versschluss wie 6*. 17*. 111'. 136*. 167*. 2bO\
252* usw., sondern auch an anderen versstdlen: 31^ 85*. 105^ 128*.
132\ 206'. 218\ 231'. 245^ usw. Ich komme später auf diese erschei-
nung zurück). 32. 33. 36. 37. 40, 41. 42. 43. 45. 47 (ffrio bärnun
biförän) 48. 52 (firio bärnun ti frümön) 54. 55 (häbda th^m h^risclpie.
Klingender versschluss ist 25\ 38'. 41\ 56\ 121' \ 188\ 190^ 206**
usw. unvermeidlich). 60. 62. 64. 65. 66. 69. 71. 78. 85. 91. 95, 98.
99. 100 usw. Viel seltener nehmen die beiden liedstäbe die zweite und
vierte hebung ein: I 8 scrfbau b^rehtlf co an büok (scriban ist aus dem
BEITRAGE ZUB DEUTSCHEN METRIK 285
vorhergehenden verse herüber zu nehmen; es iiber füllt dort deti vers und
stellt hier die eben besprochene regd her). 23 so manag uui'sirk uuörd.
53 uufd dörnero duälm. 97 thä'r ti Jörüsalera. 102 ümbi that he'läga
hu's. 195 smtho gödcünd gümo. 199 an Ifudeö' lioht. 235 thuo näm
hfe thia büoc an band. 253 uuäs iro tbiornä githfgan. 268 th^s uui'-
don ri'kies giuuänd. 338 ällero bärnö botst {tieftonige kurze sähe als
hebung ohne folgende Senkung unrd auch sonst häußg zugelassen, I 1*.
40 ^ 63 \ 67 •\ 187 \ 269 \ 289** usw.) 404 an ßöthleembürg. 433
öbar thia bßrehtün bürg. III 11 ällero bärnö b^st. V 14 uuänn uuind
endi uuäter. 22 biet thät sia im uu^dar^s giuuin. 27 ge t^ them se'uua
so sölf. 33 that im so' thie uuind 6ndi thie uuag. VI 10 anthät müt-
sp^lles mögin. VU 19 is brüothär bärn. IX 32 ümbi Jerusalem, 37 an
thia b^rehtün bürg. X 42 jac dn thero sünnun so' sämo. 97 uuid thes
flüodes färm. XI 36 s6' niu(Urco an näht. 68 sui'tho thrfstmüod th^gan.
84 uuid thfeses uuörodfes giuufnn. 97 hie suöltid im oft. 130 fän them
bergö te bürg. XII 80 tha r is li chämo lag. Nirgends aber ist man
zu der annaJime, dass die beiden liedstäbe auf die erste und ziveite,
zweite wnd dritte, dritte uiid vierte, erste und v^ierte hebung fallen,
unbedingt genötigt. In den verhältnismässig seltenen fäUen, wo das
scheinbar geschieht^ ist entweder eine andere betonung möglich, mit zer-
detmung: I 197 that uu'fb uürdigiscäpo. 200 uuas im f'e'll fägär.
240 h'ard häramscära. 313 suitho güöd gümö (was auch der natür-
lichen betonung der Satzglieder mehr angemessen ist). V 12 'u st up
sti'gan {bei Müllenhoff üpstigan). VI 20 h'6' himiles lioht. 39 h'o h
h^banrrid. VII 54 is uuo rd uuöndiän. 72 diurli'can dr'ö'm. X 10 h'e'r
höbancüning. 44 hui't höbantünglas. 79 mina uuVrd giuua röd, XI 64
sn'e'll suördthegan. 116 h^ttändero h'ö'p. XII 55 ITf längerun hui'l;
mit mehrsilbigem auftuet: I 70 suitho unuuändä uui'ni. 124. 166 fan
thinera äldära Idis. 136 an thesero uufdün uu^röld. 349. 387 ober
thesa uui'dün uu^röld. XI 124 an thena uui'dön uuelön. XII 10 obar
them grabe gö'miän. 67 te themo gräve gängän. Oder man wird nur
einen einzigen liedstab annehmen; der andere brauet ebensowenig mit
zu zählen als irgend ein anlautender gleichklang in den Senkungen, der
sich ja wol manchmal ungesudU einstellen kann, aber doch niemals für
einen liedstab gelten darf Ich rechne dahin das gumo I 133. er 144.
gilithan 154. frägon 228. baram 232. hohen 266. selbe 293. uuar-
don 321. all 345. suang V 13. beuuo VI 14. hüs VE 8. fargaf X 26.
forth 81. bigetan XI 42. dädi 57. brast 77. biti 80. Wenn man
erwägt, wie diese fälle verhältnismässig selten sind , und wie Mufig ande-
rerseits sich in einem hcdhverse drei allitterierende worte beisammen fin-
den, von denen doch auch nur zwei für liedstäbe gelten, so hat auch
ZBITBOHH. F. DBUTSCUX PHILOL. BD. lU. 19
286 AMELUNG
diese annähme durchaus nichts tviUkürliches oder gewaltsames. Dass
übrigens diese allitterationen auch an ihrem oHe zu dem wolklang des
Verses noch das ihrige beitragen, soll gar nicht bestritten werden; nur
für li^stäbe dürfen sie nicht gelten.
So steht also meiner annähme, dass liedstab und haupfhehung
immer zusammen fallen, insofern wenigstens nichts entgegen, als auch
die beideyi liedstäbe immer durch eine hebung und zwar nur durch eine
hebung von einander getrennt sind, indem auf eine aTlitterierende hebung
immer eine nicht allitterierende folgt. Sind auf diese weise in halb-
versen mit zwei liedstäben die stellen, welche beide haupthebungen einneh-
men, durch die allitteration deutlich bezeichnet, so ist auch in halbver-
sen mit nur einem liedstäbe durch die stelle der einen haupfhehung die
der anderen zugleich gegeben. Hat jene die erste stelle, so diese die
dritte; hat jene die zweite, so diese die vierte; jene die dritte, diese die
erste ; jene die vierte , diese die zweite. Auch hier zeigt sich taider, dass
die beiden haupthebungen fast immer die erste und dritte stelle einneh-
men; seltener die zweite mid vierte; im ersten halbt^erse: 4. 13. 14. 59.
Gl. 70. 84. 88. 159. 162. 195. 222. 243. 244, 250. 257. 372. 416 M5tr.;
m ziveiten: 12. 15. 16. 18. 22. 28. 33. 43. 47. 49. 52. 54. 59. 73. 78.
128. 198. 202. 208. 210. 212. 225. 232. 248. 255. 257. 272. 279. 294.
295. 322. 376. 390. 407. 428. 432. 435 usw.
Wir können die verse danach als steigeyide und sinkende
unterscheiden, und wie mun sieht brauchen die beiden zu einer langeeile
verbundenen halbverse in diesem stucke nicht übereinzustimmen. Ein
steigender halbims kann mit einem sinkenden verbunden sein, wie z, 6.
vers 23 so manag uui'slfk uuörd | 6iidi giuuit mikil u. a.; ein sinkender
mit einem steigenden, wie vers 12 cräft fön Crfst^^ | sia uürdun gicöranä
te thfo u, a. Der acutus bezeichnet hier und im folgenden die haupt-
hebung, der gravis die nebenhebung.
Wenn tvir die tactart des altsächsischen verses als eifie vierteilige
auffassen , so darf streng genommen die haupthebung nur auf die erste
und dritte versstelle fallen. Die sinkenden verse bieten daher den eigent-
lich normalen typus dar, während die steigenden sich jener freiheit ver-
gleicheyi lassen, die vmi den musiktheoretikern als accentverrückung
bezeichnet wird, und die massig angewant zu einem kunstmittd van
überaus rmmutiger Wirkung wird,
III, Doch ich komme jetzt zu der hauptsache, die »ich ai4S dem
vorhergehenden ergibt. Wenn wirklich auf die deutliche Unterscheidung
der haupt - und nebenhebung hier in der altsäch^ischen verskunst ein so
BEITRÄGE ZUR DEUTSCHEN METRIK 287
grosses gewicht fallen soll, so müste wenigstens als regd gelten, dass
die nebenhebung grammatisch nicht stärker betont sei,
als die vorangegangene haupthebung. Die vergleichung des
vorliegenden taibestandes mit dieser notwendigen forderung diene denn
auch zur prüfung der richtigkeit meiner annähme, dass die haupthebung
als solche immer durch die allitteration bezeichnet sei. Nun lehrt die
beobachtung , dass wirklich weitaus in den meisten versen nicht nur
die vorangegangene, sondern auch die nachfolgende haupt-
hebung von natur stärker betont ist, als die nebenhebung:
mänegä uaä'rün, fästö bifölhän. uuid d^rnko duälm. an ländö gihu^m ;
allenfalls auch gleich stark: thät sia bigünnön. Ifudo bärno löbön. sia
ne müosta h^litho thän mer. öndi gifrfmid äfter thfu. Durchaus
unstatthaft wären daher folgende im althochdeutschen meist nicht anstös-
sige betonungen: I 4. 84. 244 ündar mäncünneä. 13 that sie than e van-
gMiiim. 14 an büok scn bän. 36 uündärli'cas filo. 48 sälfglfco cüman.
54 farliuuan ri'keö mestä. 71 fendi ra d bürd^. 162 stf älajüngän. 196
be'd äfter thiu. 225 thie tliär Consta f[lo mähleän. 257 bi nämen selbö.
296 is müod giuuörrid. 343 he'rasitt^ndiön. 428 thät sea tüo im shl-
bön. 432 fendi uui'do cuthdün. III 12 Johannas düot. 17 sä'n äft^r
thiu. VI 13 thän teförit erthä. 38 äldärlängan trr. VII 36 länduuisä
gidrüog. 41 thiodcüningö. 73 iippö'däs hem. IX 4 endi im biföran
stroidün. 27 örlägi^s uuörd. X 44 fendi hrisid erthä. 47 ^rthbu ^ndeön.
57 mänsterbö'no mest. 62 mötigedo'no me'st. 71 endi blädu to'giät.
74 ^ndi uuMer sco'ni. 101 bötan Lö'th e nö. XI 5 grämhügdfg mann.
8 brinnändi fän bürg. 46 fölc Jüdeonö. 77 blüod äfter sprang. 120
thfodärabe'des. XII 34 scre d förthuuärdfes. 36 gümcünni^s uufb. 42
thiu uui'b söragödun. 82 uulltiscö'ni uufb. Es kann nur betont wer-
den: ündär mäncünneä. thät sia than e vangelium. an büök scri'bän.
uündarlfcas filö. sä'liglfco cümän. farliuuan rfkeo me sta. endi rad
bürde, so äläjüngän. b'e d äfter thiu. thie thär cönsta filo mählean.
bi nämen s^lbö. is müöd giuuörrid. h'e msitt^ndion. that sea tüo im
sölbön. endi uufdö cü'thdün. Johannes düöt. s'ä'n äfter thiu. than
teförit örthä. äldarlängan tTr, länduufsa gidrüög. thiödcüninge. üp-
po'dash'em. öndi im biföran strö'idun. örlägies uuo'rd. endi hrfsid
^rthä. 'e'rthbü'fendion. mänsterböno m'est. mutige dono m'e'st. endi
blädü to'giät. endi uu^der sco ni. bötän Lö'th §'no. grämhügdig m'a nn.
brinnändi fan b'u rg {mit schwebender betonung). f'o'lc Jüdeö'no. blüöd
äfter sprang, thiödärabedes. scr'e d förthuuärdes. gümcünnies uufb.
thiu uui'b söragödun. uulitisco'ni uuTb. Dennoch führt das Verhältnis
der haupthebung zur nebenhebung, wie ja nicht anders zu erwarten,
auch einigen tvider streit zwischen wort- und versaccent mit sich, was,
19*
288 AMBLUNO
durch schtvehende hetonung ausgeglichen , den vers nodi nicht übel-
klingend macht I}ie hauptregel kunn ja durch solche ausnahmen,
wenn sie sich auf gewisse allgetYieinere gesichtspunkte redtwieren lassen,
nur bestärkt werden. Die falle, in denen schwebende betonung eiivtreten
muss, sind daher näher ins äuge zu fassen, und die grenze zu zieJhen,
innerhalb welcher solche freiJieit zidässig erscheint.
Der leichteste fall ist der, wenn eine nebenhebung gram-
matisch stärker betont ist, als die folgende, aber doch nicht
stärker, als die vora^igegangene hauptheb ung; dieser fall tritt vor-
iviegend in steigenden versen ein, und zwar fast immer nur am schluss
des Verses, wo auf die hauptliebung keitie nebenhebung mehr folgt: I 18 sö
uuä'run thia man hetäna. 94 the thä'r gitäld häbdün. 248 äl Ifud-
stämnä. 232 endi bäd gernö. 295 thüo uuarth hügi Jo'sepes. 412
^ndi filu spra Clin. V 28 sia giböd le stün. IX 15 &ndi bü' Jüdeo no. X 59
iro däg endiöt. 87 an suefrästü. XI 32 ünder thit cünni Jüdeö'no. In
sinkenden versen, wo die angegebene bedingung nicht stattfinden kann,
ist dieser fall daher äusserst selten; nur zweimal: I 245 göd älmähti.
IX 3 uu^l hüggiändes. Wie man sieht, tvird in allen diesen fällen die
helcantc regel streng eingehalten, dass der hochton eines Wortes nur dann
auf die zweite silbe verschoben werden darf^ ivenn die erste lang ist;
oder anders ausgedrückt, wobei der tiefer liegende grund deutli<iher her-
vorgehoben wird, dass der hochton eines Wortes wol auf eine eigentlich
tieftonige, al)er nicht auf eine eigentlich unbetonte silbe verschoben wer-
den darf Unstatthaft wäre daher die betonung: I 17 thüru cräftgödäs.
128. 368 endi mäht gödäs. 172 uuärd äld gümö. 352 an brfef scri-
bün. 362 an erdägön. 373 fendi bocno filö. III 18 güod uuörd angfe-
gin. VII 4 an lioht cümdn. 58 thes thiödgumön. IX 22 thia uürdgi-
scäpii. X 79 nöh giuuänd cümid. 93 ü,n fürndägön. Es muss heissen:
thürü cräfb gödas. <5ndi mäht gödas. uuard 'a'ld gümö. an brlef scri-
bün. an 'erdägön. öndi bo'cno filo. güöd uuörd angegin.. an Höht
cümän. thes thiödgümen, thia uuurdgiscäpü. noh giuuand cümid.
an f'u rndägön. Es kmnt also zu dem iyi rede stehenden fall nodi die
?veitere beschränkung hinzu, dass die nebenhebung, welche von fmtur
stärker betont ist als die folgende haupthebung, notwendig lang sein
muss. Jetzt fitidet auch die friüicr erwähnte anonudie in der betonung
gödäs löbön usw. erst ihre bcgründwng und rechtfertigung zugleich mit
einer notwendigen einschränlctmg. Wo diese betonung stattfindet j ufid
sie ist sehr häufig, da trägt doch immer die erste silbe eine haupthebung,
die zweite eine blosse nebenhebung. Es bleibt also das Verhältnis der
accentuation beider silben relativ ganz dasselbe, wie es das detUsche
BEITBÄGE ZUR DBÜT8CHBN METRIK .289
Wortbetonungsgesetz erfordert. Im hochdeutschen vershau , wo die accente
aller vier hebungen für vollkommen gleichwertig gelten, toürde dagegen
die betonung götfes , loben auf das härteste gegen das grundgesetjs, Ver-
stössen; bei Otfrit wird diese betonung auch nur durch reimnot veran-
lasst im versschluss zugelassen. Dass aber solclie worte hier bald als
haupt- und nebenhebung, bald bloss als hebung und Senkung gebraucht
werden , ist keine grössere inconsequenz , als wenn in Iwchdeutscher vers-
kunst solche worte nach belieben für hebung und Senkung, oder auch
für eine blosse liebung gelten können: der kü'nec stüont oder der kü'nec
verstüont
Der zweite härtere fall findet da statt, wo eine nebenhebung
von natur stärker betont ist als die vorangegangene haupt-
heb ung. Dieser fall tritt vorhersehend bei fremdländisclien eigennamen
ein: I 60 '^^rö'des uuäs. 198 J'ohännes quam. 444 Gäbrfel gispräk;
doch auch in melirsilbigen deutschen werten: I 39 uualdänd gispräk.
V 36 h'o humid skip. IX 35 uu aldändes craft.
Der dritte härteste fall ist der, wenn eine haupthebung
von natur schwächer nicht nur als die vorangegan-
gene sondern auch als die folgende nebenhebung betont ist:
I 188 gödcündeäs hvät. 332 uuäldändös giböd. 416 älmähtigna göd
X 26 güodli cö fargäf. XI 85 mähti'gnä göd. Wie fnan sieht kmnmt
das nur in drei- und mehrsilbigen werten vor, wo denn der solchen
werten von nalur zukommende absteigende tonfall sich dem in gleichen
abständen steigenden und sinkenden rhythmus, den der vers erfordert,
schwer fügen kann. Doch ist diese Verwendung mehrsilbiger worte, die bei
Otfrit ganz gewönlich ist, hier nur eine ausnähme, zum deutlichen beweise,
dass es hier in der regel auf eine strenge markierung der haupt -
und nebenhebung abgesehen ist, wie sie die hochdeutsche metrik nicht
kennt.
Mehrere andere fälle, in denen sonst auch widerstreit zwischen wort-
und versaccent staM finden würde, fallen weg, da ihnen allen auf einmal
geholfen ist, wenn wir annehmen, dass vor st zerdehnung eintreten könne;
und physiologisch steht dem nichts entgegen. Es sind folgende stellen:
heländero b'e st I 50. nörifendi Cr i st V 7. IX 1. äJouuäldo Cr fst X 25.
nöriendon Cr'ist XII 72. f a'st förthuuärdes X 81. bönuündun br a st XI 77,
Damit fallen auch alle beispide von zerdehnung vor rj , die ohnehin etwas
hart klingen, ganz hinweg. In den beiden letzten beispielen kommt
damit auch die aUitteralion tvider zwr geltung, wärend wir sie vorhin
unter den allitterierenden werten aufzälen musten, die nicht für einen
liedstab gelten können, weil sie nicht in der haupthebung stehen. In
290 AJfELUNG
jswei mideren fällen ist die ungrammatische hetonung zu vermeiden,
wenn m>an I 176 löfsä'lig m'an. IX 24 sli'dmüoddia m'a'n sserdehnung vor
einfachem n eintreten lässt Da wir bereits zweimal I 381 und XI 5
zerdehnung in m'a'nn angetroffen haben, da die orthographische ver-
schiedenheit in mann und man ganz zufällig und willkürlich ist, da ferner
die einzige physiologische begründung , die wir dieser tatsache geben kann-
ten, bei einfachem n gerade ebenso stichhaltig ist, wie bei n + conso-
nant, so ist dagegen nichts einzuwenden. Dann wird man aber auch
XI 89 nicht man ä'dögiän zu betonen brauchen, sondern m'a'n ädögiän.
Einem anderen vorschlage zur beseitigung noch zweier der oben ange-
fürten anomalien will ich aber sogleich vorbeugen, da dies zu einigen
nicht unwichtigen bemerkungen anlass gibt. Man könnte nänüich darauf
verfallen, in godcundeas huat und in mahtigna god auf der zweiten
silbe zerdehnung anzunehmen. Das ist aber durcJiaus untunlich. Denn
tvollte man godcundeas huät mäht' i'gna göd betonen, so wäre nicht die
^lebenhebung hinter der la'ngvocalischen , sondern hinter der kurzvoca-
lischen haupthebung ausgefallen; es kann daher eine zerdehnte silbe immer
nur für haupthebung U7id folgende nebenhebung, niemals für nebenhebung
und folgemle haupthebung stehen. Die betonuyig gödc u ndeas huät. mäh-
t'fgna göd ist aber schon darum unmöglicJi , weil dann die aUitteration
in die 'nebenhebung fallen tvürde. In beiden fällen aber wäre bloss eine
anomalic der betonung an die stelle der anderen gesetzt. Aus diesem
gründe begreift man denn die gleich zu anfang aufgestellte reget, dass
zerdehnung nur in hochtonigen, nicM auch in tieftmiigen silben
stattfinden dürfe. Eine ausnähme erleidet diese reget dennoch: zerdeh^
nung kann nämlich auch in einer tteftonigen silbe statt finden^
wenn diese das zweite glied eines nominalcompositums hil-
det, dessen erstes glicd mehrsilbig ist: üppoMash'em VII 73.
Der tiefere grund ivird weiter unten ersichtlich werden.
IV. Bringen wir alle einzelnen bisher entwickelte regeln beim
lesen der verse in amvendung, so wird bei erneuerter betradUung sich
das ganze in ausserordentlich einfache uyid strefig waltende regeln zusam-
men fassen lassen. Die haupthebung kunn, abgesehen von den oben
angeführten fällen, in doien schwebende betonu7ig eintreten muss, nur
dann auf eine tief tonige silbv fallen, wenn diese das zweite glied
e i n e s n o m i nal c o mp osit u m s bildet, dessen erstes gl ied von natur
oder durch zerdehnung mehrsilbig ist: I 31 ädalördfrumo. älomähtig
54 Ko mäuolfudiou. 58 h'e Imgitro steon. 03. 67 fön RiVmubürg. 65 ^dili-
gibürdi. 68 hfldiscälcos. 69 ölleanrüova, 82. 91. 130. 278 h^bancüninge.
97. IX 32. XI 40 XII 33. 74 Jüdeoliudiö. 104 ifibreolfudi. 151 fllean-
BBITRIGB zur DBÜT8CHBN MBTBIK 291
dä'di. 155 ö'darlfcron. 162 sö älajüngan. 233 uu o'rdgimörkioii. 250. V 4.
IX 46. XI 42. XII 91. an GälU§aländ. 257. IX 47. XI 43. XII 72 an
Näzarethbürg. 275. 325. 411. 434. VII 66 fan Wbanuuänge. 343 h'ö'n)-
sittendion. 362 an 'e rdägon. ädalcüninges. 404 an B^thleembürg. HI 36
an liudecünne. VI 24 an höbenri'kie. VII 41 thiödcüninge. 45 firiuuit-
lico. 58 thes thiödgümen. 73 üppödashem. IX 20 hriuuiglfco. 22 u'urd-
giscäpu. X 20 thüru uuölcanscöon. 47 'e rthbü'endeon. 88 an firinuu^rcon.
93 an f'urndägon. 99 ümbi Södomaländ. XI 22 be d m^tudgiscäpu.
86. 123 an hfmilnkie. 102 hobiduündun. 120 thiödärabedes. 128 an
lithoböndion. XII 75 sündilö'aan. Niemals aber kann die hauptl^bung
auf eine blosse ableitunyssilbe fallen: IX 1 nicht thüo n a hida sondern
thüö nä'hida; X 22 nicht te äd'eliänne sondern U adeliänne; XI 99
nicht uuiht äuu e rdiän sondern uuiht ä'uu6rdiän, daher kann auch XII 83
te gih'oriänne nicht richtig sein; that im muss zum ersten halbverse
gezogen werden: te gihö'riänne thät im fän iro harren sägda. Die nid-
silbigen fremdländischen eigennamen werden wie cmnposita behandelt,
daher I 61. IX 32 an Jerusalem. I 340 O'ctäviä'nes. I 88 thä> an Jöru-
sale m. I 97 thä'r ti Jörusale m.
Beachten wir nun aber, auf diese Wahrnehmungen gestiäzt , die be-
handlung und metrische Verwendung der mehrsilbigen Wörter überhaupt,
so tvird sich uns darin eine bedeutende principielle Verschiedenheit des alt-
sächsichen und althochdeutschen offenbahren. Im althochdeutschen kann
bekanntlich in m^rsilbigen Wörtern, wenn die sübe, welche den tieftmi hat,
lang ist, die nächste sübe auch noch einen accent erhalten, und ist im
zusammenhange des verses für eine hebung, jedoch, ausser im versschlusse,
nicht ohne folgende Senkung , ausreichend. Das gilt nicht nur für com-
posita wie mänagfältü u. a. sondern auch für nicht componierte Wörter
wie swi'genti. mämmünti. däwalö'nti etc. Nicht so im altsächsischen.
Hier bleibt in nicht componierten Wörtern die silbe, welche
hinter der tieftonigen steht, immer unbetont und ist zur
hebung völlig untauglich. Also niemals uuäldändJis. he'lägnä. brfnnändi.
Der grund dieser ausscMiessung ist aus dem vorangegangenen deutlich.
Der altsächsiche vers verlangt den Wechsel von haupt - und nebenhebung :
dann sind aber solche worte mit dreifachem accent unmöglich zu ver-
wenden. Denn man mag helägnä oder helägnä betonen, so ist immer
das natürliche Verhältnis der accentuation gestört. Nur wo wie im
hochdeutschen alle vier hebungen des verses für gleichwertig gelten, sind
solche Worte für drei hebungen verwendbar. Etwas anderes ist es mit
den zusammengesetzten Wörtern; diese können auch hier mehr als
zwei betonte silben haben: ^Ueänruovä. Ifudstämnä. Doch fügen atich
292 AMELimo
diese sich nur dann dem wechsd von haupt- und nebenhebung, wenn
tvie hier die erste mehrsilbig oder dehnbar ist; nicht so in g6d-
cündeäs. gümscipife. In jenen aber gilt für die erste silbe des zweiten
bestandteils ganz dasselbe, was für hochtonige silben gilt: es darf ein
tiefton folgeil, aber auch nur einer, nicht zwei; also nicht thiod-ära-
bedes, 6rth - bu endiön , he m - sittendiön , firi-uultircö, was im ahd. wöl
zulässig wäre, sondern nur thföd-ärabedes, 'e'rth-bü'öndion, h'S^m-
sittfendion, firi-uuftlfco. Wenn aber auch in dieser hinsieht der zuleite
teil eines compositums von anderen tieftonigen silben unterschieden und
den hochtonigen gleich geschätzt wird, so zeigt sich doch in aUem Hbri-
gen, dass er nichtsdestoweniger dem hochton immer noch untergeordnet
bleibt, da doch betonungen wie uiindärli'cas lilo nicht zugelassen werden.
Nennen wir diese silben also mitteltonige, so lässt sich das ganze
resultat dieser beöbachtungen in eine einfache reget zusammen fassen, ohne
dass man nötig hätte ausnahmen hin zu stellen: auf eine hoch^
tonige oder mitteltonige silbe, kann nur eine einzige tief-
tonige folgen, alle weiteren sind unbetont.
lieber die verbalcompositionen ist im allgemeinen nur zu
sagen, dass die praefixe eine nebenhebung tragen können, wenn
sie mehrsilbig sind: I 29 strfd uuiderstände. XI 47 uürthun ündarbä-
dodä etc. Von den einsilbigen sind die kurzen gi- bi- te- af- far-
immer unbetont, also nur in der Senkung zu verwenden; die langen ä-
und ant- werden auch als nebenJiebung gebraucht: erster es nur zweimal
(XI 99 uuiht ä'uuördiän. X 22 t6 ä'de'liänne), letzteres nur einmal (X 72
16'b äntlu kit.). Ob sich melleicht in den übrigen teilen des Heland auch
far- und af-, wenn sie positionslänge haben, als iiebenlieb^'ng nachweisen
lassen, entscheide ich nicht.
Die oben entwickelten regeln über die Unterscheidung tw* haupt-
und nebenhebung haben gezeigt, wie zerdehnung nicht nur in den gleich
anfangs aufgefürten stellen, die anders gar nicht lesbar wären, statt
findet. Jetzt erst können wir alle fälle, in denen zerdehnung eintritt,
übersichtlich zusammenfassen, und der regel einen praeeiseren ausdruck
geben. Zerdehnung kann also nur auf einer hochtonigen oder
mitteltonigen, nie auf einer tieftonigen silbe eintreten; und zwar
muss die silbe dehnbar sein. Für dehnbar aber müssen auf die bislier
gewonnenen beispile gestützt gelten: Erstens, silben die einen langen
vocal oder einen diphthongen enthalten; von solchen finden sich
folgende: ft: I 71. HI 17. XH 56. 63; 1: I 154. 196. 297. III 24. VI 38.
IX 24. X 44. XI 101. XII 36. 42. 55. 83. ü: V 12; d: I 11. 21. 60.
196. 237. 335. 343. 362. VII 73. X 10. 57. 62. XII 13. 34; d: I 198.
BRITRAOE ZUB DEUTSCHEN HETbIK ^ä
VI 20. 39. VII 33. 72. XI 116. uo: I 296. 313. III 12. 18. Vü 36. IX 1.
XI 77; io: V 4. 41. 58. :^ 120; le: I 230. 352. Zweitens, silben mit
nasaliertem vocal; vor n: 1176. 1X24. XI 89; nii: 1381. XI 5;
nd: VII 62. X 79. Drittens, süben die auf l oder r + consonant
auslatäen; II: 1282. 427. XI 64. XII 5. 65. 69; Ic: XI 46; Id: 139.
90. 172. 179. 191. 277. IX 35. X 24; If: V 24; Im: I 58; rd: I 233.
240. V 29. V 54. 1X^2. 27. X 79; rth: X 47; rg: XI 8; m: X 3. 93;
rl: I 196. Viertens, silben die auf st auslauten: I 50. V 7. IX 1.
X 25. 81. XI 77. XII 72. Uebersehauen wir aber die gesanimtJieit aller
fäUe, so lässt sich darin noch eine besondere einschränkung wahrnehmen:
zerdehnung tritt nämlich immer nur in sinkenden verscn ein, niemals
in steigenden. Das ist ganz erMärlich, wenn ivir uns des oben gesagten
erinnern, dass nämlich die steigenden verse eigentlich eine Verschiebung
des natürlichen versaccentes entlialten.
Jetzt lassest sich auch die regdn über das Verhältnis der haupt-
hebung zur folgenden nebenhebung in eine allgemeine Übersicht
bringen.
Die haupthebung muss immer eine von natur hochtonige oder mit-
tdtonige silbe sein; sie kann übrigens aus einer langen, aus zwei ver-
schleif baren , oder aus einer kurzen silbe bestehen.
1) Auf eine hochtonige langsilbige haupthebung kann folgen:
a, gar Jceine fiebenhebung ; dann muss die haupthebung dehnbar sein:
be'd äfter thiu. s^lf üpp äraes. härd häramscära. fast förthuuär-
des. noh giuuänd cümid.
b, eine von natur gleichfalls hochbetonte nebenhebung: Ifudo bärno
löbon. uui'sa man mid uuördun. e nig männes simo. hlü'd stemna
ähäban.
c. eine mitteltonige nebenhebung: gödsp^U that güoda. uündarlfcas
filo. ündar mdiicünnoa. ni müosta im ^rbiuuärd. nfudsämana
nämoü. te sülicon ämbahtscipie.
d. eine tief tonige nebenhebung: fästd bifölhan. uui'döst giuuäldan.
früramiäii firiho barn. le'rä Crfstes. sui'thö thiulico. mid enü
uuördo. g^rnö suftho. sufthö uuörthlico.
2) Auf eine hochtonige aus zwei silben verschUffene haupthe-
bung kami folgen:
a. eine von natur gleichfalls hochbetonte nebenhebung: firiho bärno
frümmian. ägison an them älahe. uu^rodes ät them umhe.
uuäralita äfter is uuüleon. h^rod an is gibödscepe. cüman fan
iro cnüosle. thuo hie e rist thesa uu^rold giscüop. thär gifrä'n
294 AMELUNQ
ik that sia thiu b^rehtun giscäpu. than uuäs thär en gigämalod
mann, thfe iro gäduling uuäs. gümOno sülica gämbra.
h, eine mitteltonige nehenhebung: scülun iro röginogiscäpu.
3) Auf eine hochtonige hurzsilhige haupthebung kann fdgen:
a. eine von natur gleichfalls hochhetonte nehenhebung: thät io uuäl-
dand mer. an iro jüguthedi. thät ina törohtlico. mld is rö'kfaton.
dn is e'nes craft. fk is 6ngil biura. fs ünca lud gilithan. it fs
ünc äl ti lat. uuäs im nfud mikil; bfmil endi ^rtha. huflic thän
liudscepi. tügin tbüru tröuua.
b. eine mitteltonige nebenhebung: ffrinuuerk föUie. uußderuufsa uu^
ros. thät ina törohtlfco. frümida förehtlfco. änduuard for tliem
älouuälden. müod endi m^gincräft. ni drägu ik eni drügithlng.
grüotta g^ginuuärdi.
c. eine tieftonige nebenhebung: Miligibürdi. that thü sülicä githä'ht
habes. cüningö gihuilicon. gibithf g uuörthan. mänagön ti h61-
pun. uuäruhtän löf goda. mänegä uuä'ron. früroidä f^rehtlico.
ävarön fsraheles. gfbidi uu^rthan.
d. eine von mUur unbetonte ^nebenhebung : sülfc 16'n nimat. an
theser 0 uuf dun uuöröld. allaro männo gibuilfc. thürü cräft godas.
gicörän to küninge. h^bäncüninge. gödes jüngerscepi. m^töd
gimärcod. gödes selbes, ne säcä ne sdndea. bidün ällan dag.
4) Auf eine mitteltonige haupthebung kann folgen:
a. gar keine nebenhebung; dann muss die haupthebung dehnbar sein:
üppodashem.
b. eine tieftonige nebenhebung: ädalördfriimo. firiuuftlfco. thiodära-
bedes. hemsitt^ndion. ärthbuendion. ^Ueanrüoyä. liudecünii^.
e. eine von natur unbetonte neb'enh^bung : uürdgiscäpü. §rdägöiL
fürndägön. thfodgümen.
Damit ist die der altsächsischen verskunst eigene regd über dos
verhültnis der haupt- und nebenhehmig erschöjyft. Ueber das Verhältnis
der hd)img zur Senkung ist nur weniges zu sagen. Es ist im wesent-
lichen dasselbe wie in der hochdeutschen metrik, nur da^s hier die sen-
kung sotvol hinter der hauptlicbung als hinter der nebenhebutig immer
fehlen darf, mag jene lang oder kurz sein: also aucJi bidim. fäd^r. dägö;
ui^äs imo. mid is. thät ina; lerä lestin. gdodö gödes suno; mänegä
uuä'ron. gfbidi uu^rthan; gödc^s arunti. fäder älomahtig. Das gut nicht
nur für sinkende sondern auch für steigende verse: fön Rü'mübürg
1 63. 67. allere bärnö b^tst I 338. III 11. ön männö Iloht I 372. ümbi
Södomäländ X 99.
BEITRÄGE ZUR DEUTSCHEN METRIK 295
V. Wenden toir uns nach erörterung der obigen regeln jetzt zur
betrachtung der doppelten Senkungen, so werden wir solclie häufig
auch da finden, wo wir ohne kenntnis jener gesetze anders betonen wür-
den; so umrde nhan z. b. I 47 firio bärnün biföran lesen; aber dem gesetz
der haupthebungen können wir nur genügen, wenn ivir firio bdrnun bifö-
ran mit doppelter Senkung hinter der zweiten h^bung lesen. So erhalten
wir erst durch beobachtung jener regeln das vollständige material zur
beurieilmig der vorliegenden frage. Eine geordnete Vorführung desselben
zeigt, dass die doppelte Senkung hier durchaus nach demselben
prineip gehandhaht wird, wie in den mitteldeutschen ge-
dieh ten des zwölf ten Jahrhunderts. Im einzelnen gelten hier noch stren-
gere regeln als dort.
Zu einer hebung, auf tvelche zwei Senkungen folgen sollen , reicht
in der regd nur eine von natur hochtonige silbe aus, selten
eine mitteltonige: I 133 Jd'hännes te nämän. X 57 mänsterbono
me'st X 62 mutige dono mest. XI 49 uufderuuärdes that uu^röd; nie
eine tieftonige silbe. Ein unterschied zwischen haupfhebung und
fiebenhebung bestellt in hinsieht auf die doppelte Senkung nicht; was
hinter jener, ist auch hinter dieser zulässig.
In doppelter Senkung werden hier wie in den mitteldeutschen
gedieh ten des zwölften Jahrhunderts zunächst praefixe und ablei-
tungssilben verwant; die ztveiten glieder der composita, die
dort zulässig sind, erscheinen hier jedoch ausgeschlossen, und von
den praefixen werden nur die einsilbigen gi bi te ä an far zu-
gelassen; an diese schliesst sich die negation ni, obgleich ihr encliti-
scjies oder proditisches Verhältnis nicht graphisch ausgedrückt wird.
a. I 12 sia uürdun gicörana. 47' bärnun biföran. 47^ uuä'run ägän-
gan. 64 sibbeon bildng. 135 Cristes gesi'th. 140 dadiö bigän. 143. 158.
uuördon gisprfkis. 147 te brü'di gicö's. 178 thögno ni d^da. 198 ja res
gitäl. 268 ri'kies giuuänd. 272 männes ni uuärth. 292 breoston farstiiod.
367 b^rehtun giscdpu. 383 müodor biföran. III 7 tuelifio angegin. 37 uuü-
liat äla tan. V 15 männo nige'n. VII 58 thfornun fargäb. 64 th^gnes ni
uuarth. X 12 afständan ni scäl. 15 uuöroldes giscäpu. 31 te uuaren ni
cünnun. 39 te can biföran. 43 uuörthend bifängan. 65 te uuä'ren forstän-
dan. 78 uuirdit gefüllid. 82 liudion gispricu. 92 Ifudi ni uuitun. XI 27
mid uuördon gebiet. 98 da dion ni scülun. XII 59 dä'dion gelfc. 65 6gison
tegegnes. 71 im ne andre'din.
b. I 18 Mätheus ^ndi Marcus. 20 uufrdiga ti them. 107 ältari
gieng. 203 uündrodun thes. 300 uuäldandes thüo (noch ist zum folgenden
296 AMELUNO
vers ßu ziehen), 401 Dä'vides bürg. 432 uuäldande infd iro. III 10 te
giuuirkeanne thi naii. VII 2 Jüdeono cüiiiuges. X 57 mänstörbono mS'st.
62 mötigedöno niest. 88 fä'rungo nö bifä'hfe. XI 44 nßriendo Crist-
50 stri'diga man. 53 nöriendon Crfst. 121 te uufnnianne süUc. XII 2
Jüdeono uudrth.
Von seihständigen Worten werden folgende ohne einschrän"
kung in doppelter Senkung zugelassen:
a, der bestimmte artikel: 1 18 uuä'run thia man. 20 ti ihem
giuuirkie. 103 an thena umh. 104 ümbi thana älah. 107 äfter them
dlabe. 145 qaämi that uuib. 192 san äfter thiu mäht. 312 ünder tiiem
uuörode. 330 äfter them uuördon. 350 füorun thia bödon. 437 gihö'rda
thia man. III 2 ümbi thena gddes suno. 38 6ndi thero sündiöno. V 33
6ndi thie uuag. VI 20. 23 ^ndi thia 6'dra. VII 38 äfter them' hü'se.
52 gihö'rdun thia mägat. IX 18 möhta that h§'laga. X 6 ümbi that gödes
hüs. 11 uuirdit thiu ti'd. XI 2 äfter them uuördon. 16 üppan them borge.
17 ünder thia liudi. 49 uufderuuärdes that uu^röd. XU 86 söggian th6m
fs gisithon.
h, das pronomen personale: 178 äfter is uuflleön. 90 scülda
hie ät. 121 thät hie mi an is. 122 biet hie mi an thesan. 123 thät ik
thi tböh. 146 uuarun uuit niY. 190 häbda hie uses. 201 uuä'run im
uuli'tiga. 205 thät it giböd. 263 ni förohti thü thi'nou. 286 uu6rthe
mi äfter. 301 uuölda sia im. 303 huo' hie sia thüo. 318 minneon sia an
is. 323* la't thü sea thf. 323** ünder iru Ifthion. 367 thät sia thiu böreh-
tun. 437 s6 huat s6' siu giho'rda. III 20 s6' ik iu le riu. V 22 thät sia
im uu^dares. 41 le rda sia fro. VI 8 äfter is uufUeon. VII 21 grüotta
sia för them. 25 6f thü mi thöro. 47 uui'sda siu äfter iro uuflleön. X 4
mfd is gisi'thon. 77 s6ggio ik iu. XI 14 cüssiu ina 6ndi. 85 mänode ik
thöna. 110 lediat mi fuuuera. XII 11 thät hie äständen. 20 ündar iro
bördon.
c. die praepositionen; belege finden sich für mid. ti. an.
uuid. after. undar. uppan: 15 öndi mid uußreuD. 7 6udi mid fro.
52 bärnun ti frümon. 133 Jö'hännes te näman. 150 fiiodan an üncon.
157 uuä'run an th^saro. 277 uuörthan an thösaro. 298 bäm under fru.
374 giuuörthan an thösaro. V 17 uu^kidun mid fro. VI 12 geripod an
th^son. VII 10 Jüdeon an thöna. 34 hügi after fro. 52 mannen an fro.
IX 5 öndi mid uuürtion. X 31 giuufrthid an th^saro. 34 te uuä'ren mid
fro. 40 thän hie an th^sa. 41 err an themo mä'nen. 60 füllead mid fro.
65 giuu^rthan an th^saro. 82 gile stid an thöson XI 8 thft'r sia an th^na.
30 fölku te mi'. 32 farcO'pos mid thi'nu. 51 üpp an them hölme.
95 uurethian uuid fro. 110 Ic'thes an thöson. XII 15 giuuftun im mid fro.
BEITRAOB ZUK DEUTSCHEN METRIK 297
26 bärnon te frumu. 47 befülhun an thömo. 57 ste'n fan them grabe.
65 thiu vmh uppan th^m.
d. die conjunction that: I 213 so ik uuä'niu that fna. 248 te
thfu that hie hier. 298 hie afsüof that siu häbda. 345 biet man that
äU. V 18 badun that fm. XI 12 te thiu that sia n6 farfengin. XII 69
qudt that hie fro. 71 ik uuet that gi fuuuan. 78 ik uuet that is lu.
e. die adverbien thär, thuo, than, hier; eft, 6c, gio:
I 184 hie ne möhta thuo enig uuord gisprecan. 203 bihfu it io mähti
giuuerthan s6. 302 ac bigän im thuo an is hugie thenkean. 356 thuo
giuue t im 6c mid is hiuuiskie. VII 43 siu uuölde thuo ira geba egan.
44 ge'ng thuo uuid iro muoder sprecan. X 4 sät im thär mid is gisithon.
41 that uulrthit hier err an themo mänen sein. XI 2 uuäcodun thuo
äfter them uuordon. 51 ähliepun eft üpp an them höhne. 89 iro ni
stüodi gio sülik megin samad. 100 geng im thuo ti them uundon man.
XII 11 endi söggiän than thät hie ästanden si.
f. auxiliarverben: I 118 thiu thronest is im an thanke. 239 that
uui'ti uuas thuo ägangan. VI 1 ik sölbo biun thät thär säiu. XI 66 s6
härm uuarth im an is horten.
Folgende werden nur unter besonderen bedingungen in dop-
pelter Senkung zugelassen:
a. das pronomen demonstrativum, wenn es unmittelbar vor
dem nom^n steht: XI 30 bihui cümis thü so' mid thius fölku te mf.
32 linder thit cünni Jude6no.
b. das pronomen relativum, wenn es unmittelbar hinter dem
nomen steht, auf welches es sich bezieht: VI 16 Ifudi thia lo thit Hobt
gisähun.
c. die adverbien s6 und ti, wenn sie unmittelbar vor einem
adjectiv oder adverb stehen: I 14 ^ndi s6 manag. 131 tfreas s6 fflo.
310 fehmea s6 güod. III 10 uuördo s6 s61f. 15 jüngron s6 seif. VI 6
liudeo s6 fiio. XH 8 güo bid te fflo. 61 6ndi s6 blfthi.
Verschleif ung zweier Silben in der hebung vor doppelter Sen-
kung ist in den obigen beispiden öfter enthalten, z. b,: börehtun giscäpu
u. dgL; auch elisiofi findet statt: I 64 sätta_undar thät gisithi. VII 26
than uuflliu_ik it hier te uuäron quethan.
VerschUifung zweier silben in doppelter Senkung ist hier ebenso
wie in den mitteldeu/tschen gedichten nicht nur gestattet hinter einer tief-
tonigen, wie VI 11 äccaro gihuflic, sondern auch hinter einer von natur
hochtonigen silbe, mit derselben einschränkung une dort: I 104 umbi
thana älah. 219 hügie ni gidär. 323 ündcr iru lithion. III 2 ümbi
thena gödes suno. 38 6ndi thero sündiöno. VII 47 äfter iro uuflleon.
298 AMELUKO
X 5 limbi thena uui'h. XI 14 cüssiu ina öndi. XII 20 ündar iro
• • •
bördon.
Synaloephe in doppelter senJcung findet staM: 1334 bisörogoda
sia_än is gisitha. 263 ni quam ic thi te^enigon freson herod.
Syncope ist zweimal in enigan I 25. VII 67 und einmal in thi-
non I 286 anzunehmen.
Schon im hisherigen sah ich mich ein paar mal genötigt, Meine
emendationen vorzunehmen. Auch folgende verse bedürfen der bes-
serung: I 345 ist man, XI 96 uuil zum zweiten halbverse zu ziehen;
I 141. 226. 259. III 9. V 23. IX 21. XI 13. 83. 104 ist quat hie,
I 271. 283 quath siu, X 17. XI 58 quathun sia zu streichen; XII 7. 66
hat MüUenhoff schon die nötige ausscheidung bezeich^net; I 81 ist far,
113 after tliiu, VII 31 thoh giduon ik, X 5 im oder thuo, XI 31 so,
33 te zu streichen; XII 60 weiss ich nicht zu helfen.
•
VI. Fassen wir die characteristische eigenheit des alt^
sächsischen verses im gegensatz zum hochdeutschen kurz zusam-
men y so erscheint am wichtigsten der umsta}id, dass hier die halbeeüe
aus zwei vierteiligen tacten, dort aus vier zweiteiligen bestehe.
Dass beide schliesslich auf gemeinsamer historischer tradition ruJien und
nur besondere locale gestaltungen des allen Germanen gemeinsamen epp-
sehen verses sind, ist Mar. Welche von beiden gestaltungen die relativ
ältere ursprünglichere sei , ist mir nicht zweifelhaft. Die entstehung der
vier zweiteiligen tacte aus den zwei vierteiligen lässt sich leidU und
ungezwungen aus einer Schwächung der accentuation erMären. Der
vierteilige tact f f f f verwendet drei unterschiedene stufen der betonung
für liaupthebwng nebenJiebung und senhung, der zweiteilige f f nur ewei
für hebiing und Senkung. Jener setzt daher eine kräftigere und deut--
lichere accentuation voraus. Die umwandelung der zwei vierteiligen
tacte in vier zweiteilige scheint mir aber ausserdem auch in innerem
Zusammenhang zu stehen mit dem aufgeben der allitteration. Die vier^
teilige tactart bedurfte der allitteration zur deutlicheren auszeichnung
der haupthebiingen; denn die natürlichen accentverhäUnisse der spräche
waren für sich nicht ausreichend, .dieses compliciertere Verhältnis einer
dop2)elten unterordnmig scharf und uyizyoeideutig auszudrücken. Mit
dem aufgeben der allittsratimh muste notwetulig die Unterscheidung van
haupt' und nebenhebung unsicher und schwaiikend werden, und so lösten
sich denn die beiden vierteiligen tacte in vier zweiteilige auf. Für den
ursprünglicheren cluxra^er der vierteiligen tactaH im epischen verse der
BBITRAOB ZTTB BBÜTSCHSN METBIK 299
Germanen scheinen mir auch die beiden ältesten nordischen versar-
ten zu zeugen, der fornyrdalag und liodahättr. Zwar tmrd es
in den meisten fällen zweifelhaft erscheinen, ob hier der halbvers als
zweitactige oder viertadige rhythmische periode aufzufassen sei, denn
verse wie
hliods bid ek ällar hö'Igar kindir,
m6iri ok mfnni mö'go Höimdallar;
vfldo at ek Välßdur ve 1 framtflja,
förnspiöll fi'ra, |)au er frömst um man.
lassen sich zwar wie hier ungezwungen als zweitactige perioden auffas-
sen , aber ebenso gut auch als viertactige. Für das erstere spricht jedoch
der umstand, dass auch halbverse mit bloss drei, ja zwei hebungen vor-
kommen:
d6yr fe' döyia frsendr. (Hävamäl 76. Dietr. altn. leseb.)
61dr er böztr med ^'ta sönom
ok sö'lar s^'n. (Häväm. 68) u. a.
Zur völligen entscheidung kante diese frage gebracht werden , wenn
man untersuchte, ob sich Mer ebenso wie im Altsächsischen in allen ver-
sen ein auf die grammatische betonung gegründetes und fest geregeltes
Verhältnis zwischen haupthebung und nebenhebung nachweisen lasse. Die
oben angeführte eingangsstrophe der Völu spä wäre vollständig in ein-
klang mit allen am Hei and entwickelten regeln für das Verhältnis von
haupt-- und nebenhebung. Sollte sich dabei etwa herausstellen, dass das
fefden einer nebenhebung nicht auf den fall eingeschränkt wäre, wo die
vorangegangene haupthebung ihrer natur nach dehnbar ist, so wäre das
nur ein zeichen dafür, dass hier die einmal eingeschlagene richtung noch
weiter dahin geführt habe^ die nebe^iJiebungen ganz ausser acht zu las-
sen, so dass sie unter allen umständen fehlen dürften. Die frage, ob
der epische vers der Angelsachsen als zwei- oder viertactiger anzU"
sehen sei, ist in dr. Schuberts dissertalion de Anglosaxonum arte
metrica nicht aufgeworfen worden; doch scheinen mir mderum seine
versus ternarii und binarii für ein zweitactiges grundschema zu sprechen.
Ich glaube nicht, dass man bei der blossen anerkennung des factums,
dass hier verse von drei hebungen mit solchen von vier hebungen abwech-
sein, stehen bleiben darf. Man wird sich darüber entscheiden müssen,
ob diese verse von drei hebungen tdrklich als dreitägige rhythmische
Perioden anzusehen sind, oder als zweitactige, bestehend aus zwei haupt-
hebungen und einer nebenhebung: ^ P ^ oder auch ^ f f^ Dass ein im
ganzen herschender zweiteiliger rhythmus von zeit zu zeit plötzlich durch
einen verhältnismässig selten eintretende dreiteiligen unterbrochen würde^
300 AMELtJKÖ
scheint mir aber doch eine incongrtisnz , die jedes fii/r rhythmische Ver-
hältnisse empfängliche ohr empfindlich verletzen müste. Wenn man
sich die frage überhaupt vorlegt , wird man daJier wol nickt anders hon-
nen, als sich für die zweiteüigkeit dieser verse mit drei hebungen aus-
spreclien. In welcher weise nun der ausfall einer nebenhebung normiert,
auf welche bedingungeti eingeschränkt wäre, das müste nodi untersucht
werden; es wäre aber kein einwand gegen die annähme, wenn sich dabei
herausstellte^ dass hierin eine grössere licenz herschte als im AUsäch-
sischen. So viel ich aus den von dr. Schubert beigebrachten cito-
ten vorläufig ersehe, ist fast ausnahmslos die eine der drei hebungen
ihrer natur nach dehnbar.
Nächst dem hier besprochenen unterschiede zwischen dem attsäch-
sischen und althochdeutschen verse scheint mir die tiefgreifendste eigen-
heit des ersteren in der Zulassung doppelter Senkungen zu liegen.
Um die berechtigung derartiger rhythmiscJier büdungen zu begreifen,
wird man sich an den begriff der triolen halten müssen. Ein vers wie
uulrdiga ti them giuuirkie wäre demnach folgendertnaassen zu notieren:
ifß f f • • ^ Mätheus fendi Markus: }yp P^ i ^ mid naördun
endi mid uu^rcün: • * ff f i ß. Nimt man noch hinzu, dass hier
Jdingender versschluss zugelassen wird, tvährend das althochdeidscke nur
stumpfen kent, dass also zu den im Althochdeutschen geltenden schluss-
formen ff tf \_f \ ^*^ tf tf f f ^"^^* ^^^* f f t f f T ^ T
hinzukomt, so sind die rhythmischen g^-uppierungen im aUsächsischen
verse ausserordentlich viel mannichfaltiger als dort, Folgende iibcrsicki,
bei der die anwendung von triolen nicht einmal in anschlag gebrockt ist,
wird davon eine anschauung geben:
1) ^ J ; 'all uürthüu XII 65.
2) R J# ; s'ä^n üpp ahle d XII 56.
3) h i ; # 'tfst Ü'p strgan V 12.
4) ^ imJ0 h'o hßbannki VI 39.
5) J ; ^ sfttian th'ä^r XII 63.
III
6) j # ; p 1
u 'I r
1) Dass sich in den teilen des Heland, welche ich untersucht habe , gerade für
diese combination kein beispiel bietet, ist ein zufälliger umstand.
BEITRAGE ZUR DEUTSCHEN METRIK 301
7) i #• ji helägna ge st I 11.
%) immm h äldarlängan tTr VI 38.
9) i m i 0 drölitin dfuriö I 27.
10) ?^ p i ji gfbithrg uuörthän I 80.
11) # i # j5 ^ stnd uuiderständö I 29.
12) J i J * i thfe thös mS'ster uuäs I 30.
13) i ji j5 ji * sui'thö thiutf CO I 99.
14) j5 ji # # # # so tfe giuufnnäniie I 143.
15) jj # i # # # ^ndi uuid sölban spräk I 139.
IQ) i 0 0 i0 0 müod endi m^gincräft I 156.
17) i ^ ji ifp engil th^s äluuälden I 274.
18) S ^ ji p |> i uündron thko uuördö I 141.
19) i ji ffff grüottä g^ginuuärdi I 258.
20) ? ^ ^ ^ ? f f huänd uuit häbdun äldres er I 144.
2i)i^ji# 0 0 0 thät sea tf ses uuäldändes I 186.
22) |J * i } f} \ so' mi thes uüiidur thünkit I 157.
23) * i * f f ff heläga hßbanuuärdos VI 18.
24) ^ 0 0 ^ ß ßß^ eftho huä'r thiu uuörold äldar I 45.
Rechnet man nun noch hinzu dass für jedes tactgliedy mit aus-
mihme des letzten, nach belieben auch eine triole, d. h. hebung mit zwei
folgenden Senkungen, eintreten kann, unterscheidet man ferner die aus
zwei Silben verseht i/fenen hcbungen und Senkungen, die durch ^ zu
bezeichnen tvären, so geht die masse der möglichen combinationen ins
unabsehbare.
Mit diesem reichtum innerer gliederung verglichen muss der alt-
hochdeutsche vers monoton erscheinen, denn von allen hier ange-
führten combinationen sind dort nur 9 — 12. 15. 16. 18. 20 zulässig, -
und alle weiteren combinationen , welche triclen enthalten, fallen ganz
ZBITSCHR. P. DEUTSCHE PHILOL. BD. III. 20
302 AMELUNO
weg. Steht der althoehdeutscJie vers somit an reichtum und abwechsdung
der rhythmischen (fliederung gegen den alt sächsischen zurück, so über-
trifft er ihn doch tveit an strenge und ebenmaass der metri-
schen Verhältnisse, Man tvird es vielleicht unangemessen finden,
tveym ich üherhmqit von metrischen Verhältnissen im deutschen verse
spreche, aber wenn man den deutschen vers eilten accentuierenden nent,
und ihm. die silbenmessung abspricht, so ist das doch nur in einem
gewissen bedingten sinne richtig: es kann nur heissen, da>ss die Zeit-
dauer, die einer silbe im verse zugemessen wird, sich mit der dauer,
die ihr grammatisch und etymologisch zukomt, nicht in Übereinstimmung
befinde; aber unter allen umständen wird ihr doch eine ganz bestirnte
Zeitdauer zugemessen , denn jeder rhythmus beruht ja eben auf der ste-
tigen widerkehr relativ stärker accentuierter glieder in gleichen zeitab-
ständen. Wenn wir den vers filder älomähtig tactfest recitieren, so ver-
leihen tvir jeder der beiden kurzen silhen in fader genau dicsdbe Zeitdauer
wie den beiden kurzen silben zusamme^n in alomahtig. Eine soMve abwei-
ch ung von der grammatischen Silbenquantität ist immer nur ein fwt-
behelf, und es lassen sich die grenzen bestimmen, innerhalb deren sie
zulässig ist. Diese grenzen sind im Althochdetäschen nicht dieselben,
ivie im Allsächsischen, und es ist nicht uninteressant, die bekanten
gesetze des (ütlwchdeutschen Versbaues einmal wnter diesem gesichtspunkte
zu betrachten. Da die spräche selbst zu ihren eignen zwecken, die doch
andere als lediglich musikalisch -ästhetische sind, Zeitdauer und tonstürkc
der silben bereits als mittel verivendet hat, so tritt in jeder verskunst
immer die schwierige aufgäbe ein, di<i ivorte so an einaiider zu reihen,
dass die natürlichen quantitäts- und accentverhältnisse der silben in ilirer
aufeinanderfolge einen stetigen rhythmus ergeben. In voller reifüieit kann
das äusserst selten gelingen. Es wird daher immer einiges dem zwecke
geopfert werden müssen, entweder der grammaiisdie accent oder die
grammatische Silbenquantität. Jede verskunst neigt sidi vorwiegend ent-
tveder dem- einen oder dem anderen mittel zu; die deutsche etitschicden
dem letzteren. Es ist ihr die haiqdsaclie, dass die gramm<itiscJien accente
mit den metrischen accenten, welche immer auf dem erstefi fuctglicdc
ruhen, zusammenfallen, und sie muss diesem zwecke meist die ^latilrliche
Silbenquantität opfern. Die antike metrik hat den entgegengesetzten tvcg
eingescMagen, Dass die natürliche silbenquantität auch im deutschen
verse nicht ganz si7inlos und tvillkürlich verkehrt tverden dürfe, ist detn-
nach selbstverständlich. Die althochdeutsche verskunst ist darin
strenger als die altsächsische.
Es gilt in ihr als erste regel, dass eine siUßc, die einen gangen
tact auszufüllen lutt, notwendig Inng sein muss:
BEITRÄGE ZUK DEUTSCHEN METRIK 803
s^lp SO bälphäntes b^in. si'naz körn r^inö't.
Lj r Cj* r LT r r r
Bilden zwei silben zusammen einen tact, so ist zwar iibertviegend
der fall, dass beide gleiche dauer hohen, aber während es in einem
tacte zwei lange silben, sind es im anderen zwei kurze:
jöh sd filu slöhtäz. mit r^gulü bithuüngän.
U CT
Aber auch das ist niclit selten, dass innerhalb eines tactes die
eine sübe kurz, die andere lang ist:
sih s^lbon missihäbeti.
Bilden drei silben zusammen einen tact, so müssen, da derselbe
immer zweiteilig ist, zwei von ihnen zusammen dieselbe Zeitdauer erhal-
ten, une die dritte aUein. Hierbei giU im allgemeinen die regel, dass
die beiden silben ^ welche zusammen nur ein tactglied bilden , kurz seien:
tbaz sülaba m ni uu^nkit. in tb^mo firstäntnisse.
Allenfalls kann auch die erste kurz, die zweite lang sein, aber
niemals umgekehrt:
Ib sägen tbir tbdz ni hflob thib. tbie b^tötun bfar in b^rgön.
Die dritte silbe aber, die für sich allein das andere tactglied bil-
det , muss notwendig lang sein , wenn sie das erste tactglied bildet. Bil-
det sie das zweite tactglied, so darf sie auch kurz seinf
uuir füarun tbänana n6'ti\ job filo giuuäralfcbö.
p P p f
Bilden vier silben zusammen einen tact, so kommen je zwei auf
ein tactglied; in der regel sind dann alle vier kurz:
in mänagemo dgalMze.
f P P P
Doch dürfte auch hier dieser sie silbe eines tactgliedes kurz, die
zweite lang sein; ich finde eben kein passendes bcisjnel dafür; ein fin-
giertes tväre:
in nu^licbemo dgalMze.
^£n'
Das Altsächsische ist noch freier in der Silbenmessung.
Denn bei einer so complicierten tactart, wie die vierteilige, ist es natür-
20*
304 AMELUNO
lieh viel schtvieriger, der grammatischen Silbenquantität gerecht jsu wer-
den. Zwar die erste regel, dass wo eine einzige silbe den ganzen vier-
teilidcn tact aussufüllen habe, diese notwendig dehnbar sein müsse:
he'lägna g'est
ru r
ist analog der im Althochdeutschen gelte'nden. Da aber hier weiter für
jede tacthälfte dasselbe gilt, was im ÄWiochdeutsehen für den ganzen
tact, so widerholen sich auch aUe die freiheiten, die für das Verhältnis
der beiden tacthcUften zu einander gelten , nochmals in der weiteren teil-
gliederung jeder tacthälfte. Dadurch werden die metrischen incongruen-
zen derart gehäuft, dass, während schon im ÄltJioelideutschen zwei kurze
Silben entweder für einen ganzen tact fflu oder auch für einen halben
sillaba stehen können, sie hier sogar dreierlei verschiedene metrische gel-
IM
tung erhalten: 1) bfdün ällan däg
(^ u r
2) gibithrg uuertliän
3) firiho bärno frümmiän
üir L/ r r
Eine noch weiter gehende metrische- incongruenz tritt aber hinzu
durch die doppelten Senkungen, Fassen wir eine hebu/ng mit zwei
folgenden Senkungen metrisch als triole auf, so könrhen hier molosse,
anfibacchii und cretici ganz die gleiche metrische geltung erJudten:
sä'ii äfter thiu mäht gödes.
v^ firio bärnuQ biföräii.
— ^^ — scölda liie ät thein uufhe.
V
Wie mnn sieht mrd die grammutische silbenquantität hier wie im
Althochdeutschen verhältnismässig am strengsten beobachtet in der ober-
sten gliederung des ganzen verses. Je mehr wir zu den weiteren teil-
gliederuwßm herabsteigen^ desto mehr häufen sich die metrischen incan-
gruetize^i. Und so ist der althochlcuische vers im vorteil, da er in der
inneren gliederung des tactes nicht so weit geht, wie der alisächsische.
BEITKIOB ZUK deutschen METRIK 305
Was er dadurch an mannichfaltigkeit einbüsst, das gewint er an
ebenniaass.
Eine andere folge des verschiedenen grundprincips der althoch-
deutschen und altsächsischen verskunst fällt dagegen underum zu
gunste^i des letzteren aus: ich fneine den einklang zwischen wort-
accent und versaccent. Wenn es für den vershau aller Germanen
characteristisch ist, den natürlichen wortaccent im verse zu voller gel-
tung zu bringen, so doch vor allem für den vershau der alten Sachsen.
Da hier dreierlei wnterschiedene tonstärke für haupthehung, nehenhehung
und Senkung verwendet und gegen einander wol abgewogen werden muss,
so ist die altsächsische verskunst weit empfindlicher gegen jede Verletzung
des grammatischen accentes als die althochdeutsche. Da hier schon jede
Vieldeutigkeit in den accentverhältnissen zwischen haupt- und neben-
hehung als Störung empfunden wird, die erst durch schwebende betonung
ausgeglichen werden muss, so kann um so weniger in dem Verhältnis
von hebung und Senkung eine anomalie geduldet werden. Die haupt-
hehung soll sich zur nehenhehung verhalten wie die nehenhehung zur Sen-
kung; wenn nun schon in dem einen dieser beiden Verhältnisse manch-
maJ> Unsicherheit eintritt , so darf das nicht zugleich auch in dem ande-
ren der fall sein, wenn Glicht das ganze gebilde allen sicheren halt ver-
lieren soll. Daher ist schwebende betonung zmschen hebung und Sen-
kung hier äusserst selten, nur I 96 Zächariäs bisöhän. VII 6 Jüdeönö
mid gömön. XI 8 briunandi fan b'tfrg. 132 drü voiidi te dälfe. XII 18
Jüdeönö fargängän. Wie man sieht nur in der leichtesten form, die
überhaupt im deutschen vorkamt.
Hiemit schlicsse ich meine betrachttmgen. Wie man aus einer
mehrheit nahe vertvanter, aber doch deutlich geschiedener dialecte durch
vergleichung ihren gemeinsamen urtypus reconstruiert , so Hesse sich wol
durch eine vergleic/iung der besonderen gestaltungen , die der epische vers
bei den verschiedenen stammen der Germanen angenommen hat, ein bild
von der ursprünglichsten gestalt dieses verses bei dem gemeingermani-
schen urstamme entwerfen. Der nächste schritt dazu ist die möglichst
sorgfältige erforschung der uns zugänglichen localen gestaltungen.
DORPAT. ARTHUR *AMELÜNG.
LIES: 2(50, 30 ere 261, 3 inmäch 261, 14 warte 262, 5 we 262, 8 1072
267, 87 wo' 267, 38 daz 268, 15 überfallende 270, 12 durfte 271, 33 wider-
stiezen 273, 6 siejre 287, 37 brinnandi 292, 8 firi - uuitli co 294, 7 imca
296, 16 uuideruuärdes * 298, 18 besteht 300, 28 ähle d
306
ZU REINKE VOS.
V. 1062. Do sprank Hinze int deme htise. Dies dUm doeei.
Dazu habe ich bemerkt: „Ist wol ein druckfehler, es wäre sonst
eine ganz ungewöhnliche zusammenziehung von in to" Dies halte ich
jetzt für keinen druckfehler mehr, indem ich bis jetzt drei stellen gefun-
den habe , in denen ebenso das in to in int zusammengezogen ist. Bothos
Chron. fol. 212\ We de nicht enwech Jconde honten, de sprangk int
der Ftiser unte vordrangk. J. Grimms Weist. 3, 30. Dar twe naber
bey einander want und des einen velt vor des anderen have hengeit und
des nmnnes hamer dem andern schaden doit, so mag hei stiegen op
den tun und keren dat angesichte int deme Imve. Daselbst 3, 45. He
sali den payll so verne int der Buyr slagen, als hey myt der gemelten
slage langen kan, Dass dies int aber eine contraction aus into ist , geht
hervor aus einer stelle bei Detmar, bd. 1 s. 302. He was der heidene
leidesman uppe de cristenen inte creme lande unde weder ut; aus dem
into ward ein inte, dann ein int.
V. 925. um^ne minen willen men en dot efte lät.
Diese formel ohne beigefügtes object findet sich vielfach in Urkun-
den, z. b. Cassel, Samlung ungedruckter Urkunden (Bremen 1768) s. 34.
Urk. V. 1455. welke privilegia wi bestedigen, vorbedende gestrenglikcn
allen unnsen amptluden, vogeden und ghenieinliken allen den ghenen,
dede unib unscti willen doen unde taten tvillen unde schütten etc.;
daselbst s. 252. Urk. v. 1406. de Bremer scholen uns Wurster vorbid^
den mule vordeghedingen vor alle de ghenne, de umme eren willen den
unde lathen willen. Cassel, Breraensia (2 bde. Bremen 1766). Bd. 1,
s. 492. Urk. v. 1409. vor my unde myncn sone unde vor alle, de
umtne myncn willen doen unde taten willct unde mit rechte doen unde
taten schullet. Vgl. noch daselbst 1, 281. 281). 294. Luneborger
urkundenbuch 15. abth. (herausg. v. Hodenberg 1859) s. 175. Urk. v. 1416.
dat unj vnde alle de vmme vnsen willen don unde taten unUen eic.
Dithmarsische urkundenb. (herausg. v. Michelsen 1834). Heft in den
tiden vnse ohem van Sassen en schaden bybracht, dar hebben $e billiken
vmme to schuMigcnde de van syner vnde der synen weghen darto ant^
worden scholen vnde nicht nnse vorcvaren edder ims, went he mid den
synen in den tiden vmme vnser vorcvaren unde der vnsen willen wocÄ
doen edder taten wolde. Detm. 2, 255. Urk. v. 1462. Unde dar ane
scholen de van Luncborch noch dejen'^ien, de umme eren unUen don edder
taten willen unde schollen, sc nicht hynderen.
OLDENBURG, MÄRZ 1869. A. LOBBEN.
307
DER HANDSCHRIFTLICHE TEXT DES LUDWIGSLIEDES
NACH NEUER ABSCHRIFT DES HERRN DR. W. ARNDT.
Im ersten bände dieser Zeitschrift s. 247 hatte ich bei besprechung
von Pischons Leitfaden zur Geschichte der deutschen Litteratur die rieh-
tigkeit der form jdh in der 56. zeile des Lud^vigsliedes bezweifelt. Dar-
nach ö. 473 flg. hatte ich diesen zweifei des näheren begründet und hatte
gezeigt, dass die form ^'aÄ zuerst 1830 in den Hoflftnannschen Fundgru-
ben als conjectur aufgetaucht, und wahrscheinlich von da aus 1837 als
vermeintlich auch durch dife handschrift selbst bestätigte lesart in den
urkundlichen text der ersten ausgäbe der Elnonensia gelangt sei. Die
conjectur jah aber hatte ich für eine von Hoffmann ausgegangene gehal-
ten, weil sie ohne nennung ihres Urhebers in einem Hoffmannschen werke
veröffentlicht und überdies von Willems in der ersten ausgäbe der Elnonen-
sia s. 12 ausdrücklich als eine von Hoffmann aufgestellte bezeichnet wor-
den war. Bald darauf schrieb mir W. Wackernagel: „Der aufsatz über
den Ludwigsieich hat mich sehr gefreut, und ich stimme Ihrer klaren,
scharfen erörterung stück für stück bei Ich meines teils kehre nun
wider zu Lachmanns gab zurück. Nicht ohne ein sündenbekentnis: das
iah der Fundgr. 1, 345, wie beinah all die „berichtigungen" dort, auch
die übrigen zum Ludwigsleiche , rührt von mir her. Thanc jehan ist
also falsch, thanc geban selber zwar sonst nirgends zu belegen, aber
dennoch sicher richtig: es wird schon durch das gegenüber liegende
thanc haben (Graff V, 167. Mhd. wb. 1, 353) gefordert, und Walther
sagt wenigstens habedanc geben 47, 6 Das plötzliche präsens sihit
könte allenfalls ein späterer dichter, wie der des Athis, auf sein gewis-
sen nehmen, ein althochdeutscher allerdings nicht. Was meinen Sie zu
einer änderung, die ich mir schon vor längerer zeit an den rand des
lesebuchs geschrieben, sah i^?" Ich setze diese zeilen her, weil sie
widerum Wackernagels offenen und edlen character, sein lediglich auf
erforschung der Wahrheit gerichtetes streben bekunden. Weit entfernt
von kleinlicher empfindlichkeit verletzter eitelkeit, bekent er sich viel-
mehr unaufgefordert sofort freiwillig als Urheber der verunglückten con-
jectur, und nimt sie gern und sogar freudig zurück, sobald ihre unhalt-
barkeit dargetan worden ist. Das ist das verfahren, wie es bekennern
und pflegern der Wissenschaft ziemt, und der Wissenschaft selber zum
segen gereicht
Um eine zuverlässige neue abschrift des Ludwigsliedes zu erlan-
gen, wante ich mich an den uns leider so früh entrissenen dr. Julius
Brakelmann in Paris. In folge seiner Vermittlung hatte herr dr. Wil-
308 J' ZACHER
heim Arndt die gute, sich dieser aufgäbe zu unterziehen; und
einen besseren gewährsmann hätte ich mir nicht wünschen können, als
diesen in langjähriger tätigkeit für die Monumenta Germaniae historica
ausgebildeten und erprobten handschriftenkenner.
Die aus der abtei S. Amand stammende handschiift des Ludwigs-
liedes liegt seit 1791 in der bibliothek zu Valenciennes / wo Hoff-
mann von Faller sieben sich im jähre 1837 das grosse verdienst
erwarb, sie wider zu entdecken, nachdem sie über hundert jähre gänz-
lich verschollen gewesen war. Verzeichnet und beschrieben sind die
handschriften von Valenciennes im Catalogue descriptif et raisonne des
manuscrits de la hiUiotheque de Valencimnes par J. Mangeart^
hibliothecaire ete. A Paris 1860. Die des Ludwigsliedes ist dort auf-
geführt und besprochen auf s. 124 — 126 unter nr. 143 (B. 5. 15). Sie
ist in noch behaartes leJer mit rotem maroquinvorstoss gebunden, und
besteht aus 143 quartblättern dicken pergamentes, welche mit dem grif-
fel gezogene linien , und auf jeder seite in schriftzügen des neunten Jahr-
hunderts 24 langzeilen zeigen.
Nach voraufgegaugenen zehn distichen des pabstes Gregor begin-
nen auf der rückseite des ersten blattes „libri octo Gre-garii Nasa^^cfii
episcopi" (mit der randschrift: „ Gregor ius Nasazetius per Ruffinum
tranlatus") und reichen bis auf das 140. blatt. Dann folgen auf den
letzten vier blättern fünf kleine stücke, und zwar:
1) fd. 140 verso — 141 recto, von einer zweiten gleichzeitigen band,
ein kleines lateinisches gedieht, beginnend: Dns eelirex dt cotidi-
tor. Maris & terrefomes & auetor, Omne iussU creatura su&-
1) Valenciennes avait, dan» son enceiutc on non loin de ses murs» diverses
abba3'es dont les livres sont veniis en 1701 lui fornier a j»en de frais une biblioth^uo,
nioins riclio pent-ctrc que Celles de Lille, de Donai et de Canibrai, mais tres-digne
encore de Tattention des liommes Icttres. — 11 y avoit dans les collections de livres
provenant des comnmnautes religieuscs ou conlisqaos sur les euiigros , de qaoi foniicr
une bibliotlieque non moins considerable que celles des villes voisines; mais il |uirait
que les artilleurs charges de la defense de la place eurent perniission de s'en servir
pour faire des gargousses. „Dien scul sait le nömbre d'ouvrages precieux qui fureut
alors lances contre Tarmee combinee qui investissait cettc ville," dit M. lo inairc
dans une lettre du IG juillet 1830. — La bibliotheque aciuellc de ValencicnncB iio
renferme gucre qu'environ 13,(K)0 voluiues. — Les manuscrits qui eurichissent la
bibliotheque publique de Valenciennes sont au nombrc de Ö05; ils provicnnent de
plusieurs sources. Les plus ancicns, les plus curieux, les plns considerablos boub Ic
rapport de Texccution , de la matiöre et des autenrs , tirent leur originc de la celebre
et antique abbaye de Saint -Amand sur la Scarpe. — Aujourd'hui encore [25 decem-
bre 1859], comme cn 1840 et en 1850, cos manuscrits sont confondus avecles inipri-
mes. Mangeart f catalogue des manuscrits de la bibl. de Valenciennes. FfxrislSßO.
Fr^face.
LÜBWIGSLIED 309
cmisona. Obßeruare legem pacis arnionia. usw. abgedruckt bei
Mangeart s. 124.
2) fd, 141 recto, von einer dritten gleichzeitigen band in fortlau-
fenden Zeilen ohne absetzung der verse geschrieben, ein lateini-
sches gedieht auf die heilige Eulalia, beginnend: Cantka uirgi-
nis eulalie, Concine* suauissona cithara, gedruckt mit abgesetz-
ten versen in den Elnonensia.
3) fol, 141 verso, von einer vierten gleichzeitigen band in langver-
sen geschrieben , ein französisches gedieht auf die heilige Eulalia,
beginnend : Buona pulcella fut eidalia. Bei auret corpf hellczour
aninui, gedruckt mit abgesetzten kurzen versen in den Elno-
nensia.
4) fol, 141 verso — 143 recto, von derselben vierten band ebenfalls
in lang versen geschrieben, das deutsche Ludwigslied, in lang-
versen gedruckt in den Elnonensia. Facsimile der ersten laug-
zeile des französischen Eulalia - und der ersten langzeile des deut-
schen Ludwigsliedes in den Elnonensia.
5) fol. 143 rectOy von einer fünften gleichzeitigen hand, fünfzehn
lateinische distichen, beginnend (nicht, wie HofiFmann angibt Lis,
sondern) Vis fidci tanta est qtuie genuine prodit amoris Ut fadat
gratum niente ctMle deo, gedruckt bei Mangeart s. 125.
Endlich folgt hinter diesen distichen, am Schlüsse des gan-
zen bandes, die Unterschrift: Liber sancti Aniandi.
In abgesetzten lang versen also ist das Ludwigslied geschrieben,
nicht aber sind die Strophen abgesetzt. Die beiden kurzen verse, in
welche jeder langvers zerfällt, werden jedesmal durch einen punkt und
einen kleinen freigelassenen räum auseinandergehalten. An den enden der
langverse stehen keine punkte. Die versanßlnge, sowol zu anfange als
in der mitte der langzeile, sind durch initialen ausgezeichnet. Innerhalb
der zeile begint v. 10 jung mit einem grossen initialen I, dessen gestalt
von der eines 1 nicht zu unterscheiden ist. In v. 28 vor urankon zeigt
sich eine kleine rasur, und ebenso erscheint in v. 33 gib(o)d zwischen
b und d eine rasur statt des vocales. In v. 45 gereda sind die buch-
staben red nur unsicher zu lesen ^ und das c in shancta v. 53 sieht einem
e zum vei*wechseln ähnlich, ausserdem fehlt in dem letzten werte des-
selben verses 53 fian(ton) die letzte silbe. Vor den schlusssilben des
57. verses — salig sind etwa drei buchstaben unlesbar geworden.
Das letzte blatt, 143, ist oben am inneren rande verletzt. Es ist
ein schmales Stückchen abgerissen, wodurch die 57. und 58. zeile zu
anfange etwa je 2 buchstaben verloren haben. Auch die erste zeile dieses
blattes , V. 56 , könte ebendadurch zu anfange ebensoviel buchstaben ver-
310 J. ZACHER
loren haben ; doch begint sie mit einem initialen I, was, obschon allerdings
nicht mit völliger Sicherheit, doch auf einen versanfang schliessen lässt.
Das erste wort, welches die handschrift auf blatt 143 recto, in vers 56,
darbietet, ist nach dr. Arndts Versicherung unzweifelhaft zu lesen loh.
Diese Versicherung dr. Arndts stimt genau überein mit der kürzlich von
Holtzmann in seiner Altdeutschen grammatik (Leipzig 1870) s. XIII ver-
öffentlichten angäbe, dass nach einer in seinem besitze befindlichen
genauen abschrift „ weder ^We noch gab zu lesen ist, sondern Joä." Übri-
gens darf ich nach einer mir vorliegenden notiz vermuten, dasß das ini-
tiale I dieses loh ein wenig oben nach rechts und unten nach links
abgebogen oder ausgeschweift sei, so dass sich aus dieser gestalt dessel-
ben wol begreifen liesse, wie es in der Mabillonschen abschrift in S ver-
lesen werden konte. Begreiflich bleibt auch die möglichkeit einer Ver-
wechslung von h mit b, wenn man im facsimile der Elnonensia das b
von hdlezour mit dem h von hhuluig vergleicht. Dagegen unterschei-
den sich in demselben facsimile die o von den zwei gestalten des a (von
a und a) so klar und bestimt, dass man nicht absieht, wie das o des
loh der handschrift in das a des Sab der Mabillonschen abschrift verlesen
werden konte.
Durch das doppelte zeugnis der Arndtschen und der in Holtzmanns
besitz befindlich gewesenen abschrift wird also tatsächlich und zweifellos
bewiesen, dass die form^aA nur durch conjectur in die 56. zeile gelangt
ist, und in der handschrift selbst keine bestätigung findet, und wird
zugleich bewiesen, wie sehr Lachmann recht hatte, wenn er auch nach
dem erscheinen der Elnonensia fortfuhr sich ungläubig und ablehnend
gegen dieses jah, trotz seiner angeblichen auffindung in der handschrift,
zu verhalten. Freilich wird damit zugleich auch Lachmanns emendation
gab hinfallig, aber getadelt zu werden verdient sie deshalb doch nicht;
im gegenteil ist und bleibt sie die beste, welche aus dem damals vor-
liegenden material gezogen werden konte, da mau nicht berechtigt war
anzunehmen, dtoss ein so vorzüglicher handschriftenkenner wie Mabillon
alle drei buchstaben, aus denen das wort besteht, verlesen haben sollte,
oder dass bei dem nochmaligen abschreiben für Schilter alle drei buch-
staben der Mabillonschen abschrift falsqli gelesen und widergegeben wor-
den wären.
Vergleicht man nun die ganze Arndtsche abschrift mit dem HoflF-
mannschen drucke in beiden ausgaben der Elnonensia, so zeigt sich,
dass Hoffmann, wie es auch von einem so geübten handschriften-
leser und herausgeber nicht anders zu erwarten war, die freilich
auch deutlich geschriebene handschrift im allgemeinen recht gut und
richtig gelesen und widergegeben hat. Nur an sehr wenigen stel-
LUDWI08LISD 311
len weichen die beiden lesungen wirklich von einander ab. Es liest
nämlich
z. 6 Hofifmann stual Arndt stuol
38 Uuüi her Uuil her
56 Iah loh
57 Kuning uu. ,. Kunige ui. . ,
Was nun noch an anstössigen und bedenklichen stellen übrig bleibt,
wie z. b. die ungewöhnliche accusativische construction z. 40 ih gdonön
itno^, neben der üblichen genitivischen z. 2 ih wei^ her inios lonöt, die
unübliche genitivische construction z. 21 thoh erbarrnedes got, oder z. 45
das präsens sihit, föUt also der handschrift selbst, und nicht der abschrift
zur last, und ein so sorgsamer kritiker und erklärer, wie Lachmann war,
der seinen zuhöreru möglichst nützlich werden wollte, verabsäumte denn
auch nicht, sie auf solche stellen aufmerksam zu machen, und ihnen das
zur richtigen auffassung derselben erforderliche an die band zu geben.
Es folgt nun die abschrift des herm dr. Arndt in genauem abdrucke.
Die abweichungen der ersten (1837) und zweiten (1845) ausgäbe der
Elnonensia (E 1 und 2) habe ich unter dem texte angemerkt. Die zahl-
reichen falschen Wortabteilungen der handschrift sind hier nach der
Arndtschen abschrifb genau beibehalten und widergegeben worden, im
abdrucke der Elnonensia dagegen sind sie überall stillschweigend ver-
bessert , was eben nur im allgemeinen bemerkt zu werden brauchte, ohne
dass eine besondere anmerkung für jeden einzelnen fall erforderlich wäre.
f. 141 ^«"«•
RITHMUS TEUTONICÜS DE PIAE MEMOBIAE HLÜDÜICO REGE
FILIO HLÜDÜICI AEQÜE' REGIS.
Einan kuning uueiz ih. Heiz sit her hluduig
Ther gemo gode thionot. Ih uueiz her imos lonot
Kind uuarth her faterlos. Thes uuarth imo sar buoz
Holoda inan truhtin. Magaczogo uuarth hersin
5 Gab her imo dugidi. Fronisc githigini
Stuol hier in urankon. So bruche her es lange
Thaz gi deilder thanne, Sar mit Karlemanne
f. 142 "*^'**-
Bruoder sinemo. Thia czala uuunniono
So thaz uuarth al gendiot Koron uuolda sin god
10 Ob her arbeidi. So lung tholon mahti
1) AEQ; E 1. H.
6 Stual £ 1. 2.
312 J. ZACUER
Lietz her heidine man. Obar seo lidan
Thiot urancono. Manon sun diono
Sume sar uerlorane. Vuurdun sumer korane
Haranskara tholota. Ther er misse lebeta
15 Ther ther thanne thiob uuas. Inder thanana ginas
Nam sina uaston. Sidh uuarth her guot man
Sum uuas luginari, Sum skachari
Sum foUoses. Inder gi buozta sih thes
Kuning uuas er uirrit. Tliaz richi al girrit
20 Uuas er bolgan krist. Leidhor thes ingaldiz
Thoh er barmedes got. üuuisser alla thia not
Hiez her hluduigan. Tharot sar ritan
Hluduig kuning min. Hilph minan liutin
Heigun sa northman. Harte bi duuuugan
25 Thanne sprah hluduig. Herro so duon ih
Dot ni rette mir iz. al thaz thu gibiudist
Tho nam her godes urlub. Huob her gundfanon uf
Reit her thara in urankon. Ingagan north mannen
Gode than codun. The sin beidodun
30 Quadhun al fromin. So lange beiden uuirthin
Thanne sprah luto. Hluduig ther guoto
f. 142 ^<5"«-
Tröstet hin gi sellion. Mine not stallen
Hera santa mih god. loh mir selbe gib:d
Ob hin rat thuhti. Thaz ih hier ge uuhti
35 Mih selben ni sparoti. ün cih hin gineriti
Nu uuillih thaz mir uolgon. Alle godes holden
Gi skerit ist thiu hier uuist. So lango so uuili krist
üuil her unsa hina uarth. Thero habet her giuualt
So uuer so hier in ellian. Gi duot godes uuillion
40 Quimit he gi sund uz. Ili gi lonon imoz
Bilibit her thar inne. Sinemo kunnie
Tho nam her skild indi sper. Ellian licho reit her
Uuolder uuar er rahehon. Sina uuidar sahchon
Tho niuuas iz buro lang. Fand her thia northman
45 Gode lob sageda. Her sihit thes her gereda
28 vor urankon kleine rasur in der hs.
33 Ztüischen b und d rasur in der Jhs. gibod E 1. 2.
38 Uuili E 1. 2.
45 red in gereda ist zweifelhaft zu lesen.
LÜDWIGSLIED 313
Ther kuning reit kuono. Sang lioth frano
loh alle saman sungun. Kyrrie leison
Sang uuas gi sungan. Uuig uuas bigunnan
Bluot skein in uuangon. Spilodun ther urankon
50 Thar uaht thegeno gelih. Nichein soso hluduig
Snel in di kuoni. Thaz uuas inio gekunni
Suman thuruh skluogher. Suman thuruh stah her
Her skancta cehanton. Sinan fian
Bitteres lides. So uue hin hio thes libes
55 Gilobot si thiu godes kraft. Hluduig uuarth sigi haft
f. 143 '««^'o-
loh allen heiligon thanc. Sin uuarth ther sigi kamf
uolar abur hluduig. Eunige ui[ Jsalig
garo so ser hio uuas. So uuar soses thurft uuas
Gi halde inan truhtin. Bi sinan ergrehtin.
HALLE. J. ZACHER.
49 Spilod unther £ 1.
53 c in skancta zweifelhaft, iiantou E 1. 2.
55 uuarth ther ßgihaft E 2.
56 lab E 1. 2.
57 kuning uu E 1. Kuning uu £ 2.
ÜBER DIE HEIMAT UND DAS ALTER EINES
NORDISCHEN SAGENKREISES.
Bei meinem letzten aufenthalte in Kopenhagen machte mich der
bekante isländische gelehrte Gisli Brynjülfsson aufmerksam auf einen von
ihm in einer sitzung der königlichen gesellschaft für nordische altertums-
kunde am 19. april 1870 gehaltenen vertrag und bat mich, ein inDags-
telegrafen, in der nummer vom 25. april 1870 enthaltenes referat über
denselben dem inhalte nach hier zu veröffentlichen. Ich tue dies , jedoch
mit der ausdrücklichen bemerkuug, dass in einem so kurzen referat
natürlich eine ausführliche begründung der aufgestellten behauptung nicht
gegeben werden kann , eine begiündung , wie sie herr Brynjülfsson in
seinem langen vortrage mit der ihm eigenen gründlichkeit und genauig-
keit geliefert hat.
314 KÖLBING
Es handelte sich in der erwähnten Sitzung um eine im altnordischen
museum in Kopenliagen aufbewahrte kirchentur von Valthjöfstad im öst-
lichen teil von Island. Die in zwei felder geteilte tür enthält auf bei-
den eine in holz sehr kunstfertig eingeschnittene darstellung von der
bekanteu und in verschiedenen Variationen widerkehrenden sage von einem
ritter, der einen löwen aus den klauen eines drachen befreit, indem er
letzteren tötet. Der löwe begleitet ihn dann aus daukbarkeit auf seinen
weiteren zügen und unterstützt ihn in seinen kämpfen.^ Der vortragende,
kapitain Blom , nahm in Übereinstimmung mit herrn docent S. Grundtvig
an, dass die darstellung auf dieser türe sich der hauptsache nach gründe
auf die alte sage von dem kämpfe Dietrichs von Bern mit dem drachen.
Er kam zu dem resultat, dass die türe etwa aus der zeit zwischen 1100
und 1130 stamme.
Dagegen bemerkte nun herr Brynjülfsson, dass, da es sich mit
historischer Sicherheit nachweisen lasse, dass die kirche in Valthjöfstad
c. 1186 — 90 neu aufgebaut worden sei, als der häuptling Sigmundr
Ormsson dort wohnte, doch entschieden die Wahrscheinlichkeit dafür
spreche, dass auch die tür aus derselben zeit stamme, um so mehr, da
kein grund sei, anzunehmen, dass jede Veränderung in der form der
europäischen kriegswafFen (auf welche sich Blom bei der Zeitbestimmung
vor allem gestützt hatte) sogleich auch in Island adoptiert worden sei,
namentlich wenn es sich um die darstellung einer alten sage handele.
Das entscheidende und merkwürdige aber ist, dass man gleich von der
besiedeluug Islands an angeben kann, welche häuptlinge — stets von
derselben familie — in Valthjöfstad gewohnt haben; und indem herr
Brynjülfsson diese namen aufzählte, machte er darauf aufmerksam, dass
dieselben so nah verbunden und beschwägert gewesen seien mit dem
geschlechte des bischofs Gizurr und der Haukdaelir im Süden der insel —
einem geschlechte, dem wir die besten nachrichten über die bedeuten-
den geschichtlichen Vorgänge im norden verdanken — dass die alte kir-
chentur nun anlass dazu gebe, einem nicht unwichtigen, aber bisher
wenig beachteten litterarhistorischen factum weiter nachzugehen. Der
vortragende wies nun nach, dass es eine ganze reihe alter isländischer,
1) In bczug auf parallelen aus romanischen litteraturen verweise ich auf Hol-
land: Li romans dou Chevalier aulyon. Hannover 1862 p. 133 fgg. und "auf desselben
gelehrten werk über Crcstien von Troies. Tübingen 1854 p. IGl fgg. In nordischen
sagas finden wir denselben zug ausser in der später noch zu berührenden YiUgälms
saga BJods in der Konrade saga keisarasouar er for til Ormalands (ed. G. pördar-
son , Kaupm. 1859 p. 25 fgg.) , ferner in der Hektors saga (A. M. perg. 152 fol.) and
in der Sigurdar saga I)ögla (ebenda».). E. E.
EIN NORDISCHER BAOENKREIS 315
aber wenig bekanter erzähluDgen gebe, von denen nicht wenige uns in
pergamenthandschriften aufbewahrt seien, und dass die darstellung auf
der türe genau stimme mit der erzählung in einer derselben, der Vil-
hjjllms Saga Sjöds. In dieser saga * wird nämlich erzählt , wie einem
prinzen Vilhjälmr, dem söhne des königs Kikardr von England, sein
begleiter, ein löwe, den er aus den klauen eines drachen befreit hat, in
einer Schlacht getötet wird. Vilhjälmr lässt das edle tier in einen stei-
nernen sarg legen und mit goldenen buchstaben darauf schreiben, wer
darin begraben liege. Aus der haut des löwen lässt er sich einen raan-
tel machen und das herz gibt er einem feigen manne, namens Sjöd, zu
essen, wodurch dieser für die Zukunft löwenmut bekomt. Den drachen-
kampf Dietrichs von Bern hätten nur die herbeiziehen können , die keine
andere sage ähnlicher art kenten und überhaupt keine klare Vorstellung
von der sagengeschichte in ihrer gesamtheit besässen. Die erwähnte
reihe von sagas angehend, bemerkte Brynjülfsson, dass sie alte, sagen-
hafte berichte von den stamvätern der grossen sächsischen kaiser (Hein-
richs des Voglers und derOttonen) und fränkischen kaiser enthielten. Da
es nun bekant sei, dass sowol bischof Gizurr wie sein vater Isleifr im
elften Jahrhundert in Herford in Westfalen studiert haben, in der nähe
von Wittekinds alter residenz, so könne es nun als erwiesen angesehen
werden, dass jene sagen ursprünglich von diesen nach Island gebracht
worden seien, da, wie man sehe, ihre verwanten ein so grosses gewicht
auf dieselben legten, dass sie danach das schnitzwerk auf der kirchen-
tür von Valthjöfstad anbringen liessen. Die besprochenen sagas bekämen
hierdurch eine ganz andere bedeutung als bisher, indem es sich nun
zeige, dass sie — im allgemeinen sehr gut und sagamässig erzählt —
direkt stammen aus dem Zeitalter der sächsischen kaiser, das selbst noch
bedeutend gewesen sei und darum auch die sagen in einer achteren und
ursprünglicheren form bewahrt haben möge, als dies in einer späteren
zeit der fall gewesen sei, wo dichtungen, wie das Nibelungenlied , Wolf-
dietrich und ähnliche verfasst. worden seien. Die deutschen litterarhisto-
riker täten eigentlich unrecht, wenn sie auf die hohenstaufische zeit so
viel gewicht legten mit ihrer sogenanten höfischen poesie. Denn diese
sei durchaus nicht bedeutend: es sei dies nur eine zeit des herabsinkens
und der Verderbnis der ursprünglichen stoflfe, in welcher schon, in folge
des alle mannheit und tapferkeit untergrabenden einflusses der hierarchie,
der schlechte geschmack für charakterlose legenden und abgeschmackten
minnegesang herschte , und die fähigkeit , wirklich grosse Charaktere auf-
zufassen und zu schildern, sich nicht mehr vorfand.
1) Volständig erhalten u. a. in A. M. perg. 548 , 4**.
316 A. V. KELLER, CONSOMANTENANGLEICHUNQ
So weit herr Brynjülfsson. Mögen wir mit seiner ansieht über
die erste blütenperiode unserer deutschen poesie im mittelalter Qbereiü-
stimmen oder nicht , jedenfalls ist das , was er über den mehrfach erwähn-
ten „Sagenkreis" berichtet, sehr beachtenswert, um so mehr, da derselbe
bis jetzt in Deutschland so gut wie gänzlich unbekant ist. Eine nähere
beleuchtung desselben, vor allem natürlich eine kurze analyse der hier-
hergehörigen sagas , die man leider mit wenigen ausnahmen bis jetzt nur
nach den geschriebenen quellen kennen lernen kann, ebenso wie eine
angäbe der momente , die uns berechtigen , diesen sagas in ihrer gesamt-
heit die bezeichnung eines „Sagenkreises" zu geben, behalte ich mir selbst
für eine andere gelegenheit vor.
DRESDEN. EUGEN KÖLBING.
DIE CONFLUENZ DER CONSÜNANTEN UND DIE
SÜDDEUTSCUEN PHILOLOGEN.
In der Zeitschrift für deutsche philologie von Höpfner und Zacher
2, 251 fg. hat Hildebrand eine erscheinung des süddeutschen conso-
nantismus besprochen, welche schon darum, weil sie auch zuweilen in
die Schriftsprache eindringt, beachtung verdient; es ist die angleichung
auslautender dentalen an folgende consonanten, z. b. schwäbisch wih-
her statt wittwer, neuhochdeutsch empfehlen statt enffehlen. Diese erschei-
nung beschrankt sich aber nicht auf auslautende dentalen; im schwäbi-
schen tverrtiuj statt tverUag tritt ähnliches bei der gutturalis ein. Die
feine , mit reicher exemplification ausgestattete ausführung dieser beobach-
tung verdient die vollste anerkennung. Wenn aber 2, 255 gesagt wird:
„Man ist sich gegenwärtig in Süddeutschland dieses sprachgesetxes
nicht bewust. Das darf oder nmss ich annehmen, so lange nicht etwa
ein süddeutscher philologe gegründeten einspruch erhebt," so fühle ich
mich verpflichtet, zu widersprechen, und glaube, diesen einspruch durch
Verweisung auf Moriz Kapps Versuch einer physiologie der spräche (Stutt-
gart bei Cotta 183G) 1, 131 bis 131 begründen zu können. Das genante
buch, das einst Schmellers lebhafte teilnähme erweckt und ihn zu ein-
gehenden und anerkennenden anzeigen desselben veranlasst hat, ist über-
haupt heutzutage über gebühr vergessen.
TÜHINOKN. A. V. KEFXER.
317
A L T V I L.
Staatsrath dr. Leverkus hatte es übernommen den artikel altvil
für das niederdeutsche Wörterbuch auszuarbeiten. Da ihm aber derselbe
unter der band an ausdehnung gewann und für das Wörterbuch zu
gioss wurde, war es seine absieht ihn besonders in einer Zeitschrift zu
veröflfentlichen. Seine krankheit und sein darauf im november 1870
erfolgter tod Hessen ihn den artikel nicht vollenden. Wenn ich jetzt
aus seinen hinterlassenen papieren das fragment zum abdrucke bringe,
so bitte ich es mit den umständen zu entschuldigen, wenn der artikel
nicht die einheit, geschlossenheit und bündigkeit hat, die ihm mein ver-
storbener freund sicherlich gegeben hätte, wenn ihm ein längeres leben
vergönnt gewesen wäre. a. lübben.
Ai^Tvn. (altwil). Dies viel erörterte seltene wort erscheint nur
pluralisch cUtvüe und zwar zuerst im Sachsenspiegel I, 4 an einer gereim-
ten stelle, deren anfang nach Homeyers ausgäbe lautet: Uppe cUtvile
unde uppe dwerge ne erstirß weder len noch erve, noch uppe kropdkint
Für dwerge wird man hier, wie das reim wort anzeigt, ursprünglich wol
dtverve gesagt haben; vergl. Brem. wb. I, 281. s. v. dwarf. Es sind
insbesondere bucklichte und andere schief gewachsene Menschen (dwerch
= transversus) darunter zu verstehen und nicht etwa bloss winzig kleine
(dwerch = nanus). Nach der kleinen gestalt ohne irgend ein bestirntes
maass würde keine entscheidung über die erbunfähigkeit eines menschen
möglich gewesen sein, und auch ebenso wenig nach dem unrichtigen
wuchs. Indessen erhellt aus dem zusammenhange klar, dass niemand
erben soll, der wegen dauernder Schwachheit oder gebrechlichkeit nicht
selber sich zu helfen im stände, sondern lebenslang auf die pflege der
seinigen angewiesen ist. Dieser rechtsgrundsatz , einfach und bestirnt
genug für die anwendung, beruht auf dem erfordernis der wehrtüchtig-
keit jedes erben, und weist also zurück in sehr alte zeiten. Er hat sich
am längsten erhalten im lehnrecht, obwol schon von dem feudisten
(U. F. 36) seine giltigkeit bestritten wird. In dem Originaltexte des
Sachsenspiegels hat aber jener reimspruch gefehlt und ist von späterer
band (gegen ende des 13. Jahrhunderts) offenbar nur deswegen eingescho-
ben, um einige den Inhalt wesentlich ändernde bemerkungen daran zu
reihen. Denn es wird hinzugesetzt, dass, wer ohne band oder ohne
fuss, oder stumm oder blind geboren sei, nach lehnrecht allerdings
nicht erbe, wol aber nach landrecht. Ein gleiches ist von den dwergen
SSIT8CHB. F. DBUT80HB PHILOLOOIK. BD. UI. 21 ^
318 LÜBBEN
aujffallender weise nicht bemerkt. Dagegen wird neben den drei bezeich-
neten kategorieen der erbunfaliigen eine vierte (früher nicht allgemein
anerkante) noch hervorgehoben, die der aussätzigen oder mesdseken,
welche weder Im noch erve empfangen.
Qanz diesen bemerkungen entsprechend heisst es dann im Bicht-
steige lehnrechts bei Homeyer IL 520: sint [= sint de] Uinden stum-
men lamen niaselsuchtigen altvile unde dwerge nicht lenerven en situ
Hier vertreten die blinden and stummen und lahmen die kategorie der
kropele, welche nicht besonders genant werden, und unter ihneu stehen
die lahmen den handelos oder votdos gebornen menschen des Sachsen-
spiegels I, 4 gleich.
Unklar bleibt uns demnach allein die kategorie der aUvile, so lange
wir die eigentliche bedeutung des wortes nicht mit Sicherheit verstehen.
Zwar ist die ganze stelle des Sachsenspiegels ausführlich auch in den
Goslarer Statuten, bei Göschen s. 10, zu gründe gelegt, und wortgetreu
noch im Berliner stadtbuche, bei Fidicm s. 10, widergegeben, aber diese
rechtsbücher gewähren zur aufkläning über die aUvile (so lesen beide)
gar nichts. Dass das überhaupt in keinen anderen mittelniederdeutschen
quellen vorkommende wort schon im mittelaltcr hie und da nicht ver-
' standen worden ist, zeigen die verschiedenen lesarten bei Homeyer:
(neben (dtvile^ aliimle) cdiveile, alt weile, alwile, antvüe, altifile, aldefilf
denen manche andere noch hinzugehen. Sogar alczuvil lesen mehrere
handschrifben des 15. Jahrhunderts, in demselben sinne wie eine rand-
bemerkung der handschrift nr. 434 altuvoie (vole ist eine mittelnieder-
deutsche nebenform fiir vele), und diese angeblichen „allzuviele" werden
von einigen glossatoren erfinderisch gedeutet als menschen, welchen all-
zuviel angeboren ist, nämlich zers und futt oder heider kunne tnechie.
Wirklich hat man, einer so ungeheuerlichen deutung folgend, bis-
her die altvile meist für hermapliroditen gehalten. Als ob nur die her-
leitung „ganz unwahrscheinlich/' aber der sinn des wortes richtig ange-
geben wäre, versucht es Grimm R. A. 409 fgg., eine herloitung vom
althochdeutschen tvideUo = hermajihroditus zu begründen. Später hat
er sich jedoch in der Geschichte der deutschen spräche 947 den glossa-
toren wieder genähert, und vil = muUns als zweiten teil der Zusam-
mensetzung angesehen, weil er ein althochdeutsches alta -» membrum
gefunden zu haben meint, „ein sonst unerhörtes worf Auch ihm sind
also die altviU menschen, die „mehr als ein glied^' haben und MfiUer
im Mittelhochdeutschen wörterb. III, 814 ist bereit, ihnen ebenfalls „ein
glied zu viel" beizulegen, „wenn alt glied bedeutet." Es hätte wol in
betracht kommen dürfen , dass eu viei mittelniederdeutsch nie anders als
to vde oder auch to {tu) vole heisst Aber darüber kann man hinw^-
ALTVIL 819
seheu bei dem wunderlichen zuschnitt, welchen das woi*t ohnehin erfah-
ren haben müste, nach dieser dentung Qrinims und Müllers nicht min-
der als nach jener der glossatoren. Gewis hat ihm Homeyer einen viel
geringeren zwang angetan, um den begriff zwitter hineinzubringen , wel-
chen er zum voraus „ annimt. '^ Sachsensp. bd. IT , s. 560. Mit recht
geht er davon aus, dass ttrU als der zweite teil der Zusammensetzung
betrachtet werden darf, da der buchstabe v an solcher stelle sehr häu-
fig in handschriften des 13: und 14. Jahrhunderts für w verwant wird,
und erkent als den ersten teil cd » omnino. Schlimm ist es indessen
schon, dass er auf diese weise den vorausgesetzten begriff zwitter in
dem alleinigen werte ttoil finden muss und al in der Zusammensetzung
nicht blos überflüssig wird, sondern geradezu sinlos erscheint. Schlim-
mer freilich noch, dass ein mittelniederdeutsches Substantiv ttoil « her-
maphroditus nirgends nachzuweisen und als „ eines der zahlreichen deri-
vata von zwei'* nur ein mittelniederdeutsches Substantiv ttoil (mittelhoch-
deutsch czweyly das ist zwü^ Diefenb. nov. gl. s. 313 und gloss. 483) =^
ramus bekant ist Weil jeder neue schössling am stamme oder ast eine
zweiung oder Spaltung und also Verdoppelung darstellt , so bedeutet mit-
telniederdeutsch twiUen (mittelhochdeutsch gunlhen) spalten, verdoppeln.
Auch wird ein stamm oder ast mittelniederdeutsch twiUet (en twiUede
böm) genant, wenn er in gabelform gewachsen ist (Vgl. ene twillede
beke; dat twillede stucke landes, in oldenburgischen Urkunden vom jähre
1523 und 1479.) Endlich kann sogar alles , was gabelförmig auseinan-
dergeht, nach dem voc. theotonicalis durch das mittelniederdeutsche
adjectiv ttvde bezeichnet werden. Aber deswegen sind wir doch nicht
berechtigt, auf ein mittelniederdeutsches adjectiv twil „mit dem sinne
zweigliedrig" zu schliessen, wie Homeyer es verlangt, um den sinn
zweigeschlechtig zu erhalten.
Seine herleitung des wertes cdtvil oder altwil, so scharfsinnig sie
ist, wird granmoatisch dadurch hinfällig, dass dieses wort auch in mit-
telhochdeutschen quellen vorkomt, und zwar ebenso wie mittelniederdeutsch
mit t gebildet, nicht mit e. Die mittelhochdeutsche Übersetzung vom
Richtsteig lehnrechts bei Homeyer H, 520 liest an der oben citierten
stelle buchstäblich aUuile, und man darf nicht sagen, dass der Über-
setzer den sinn des wertes in der mittelniederdeutschen Urschrift etwa
nicht verstanden habe. Denn dasselbe findet sich am ende des 12. Jahr-
hunderts schon als beiname eines bairischen adeligen Marquart Altvil
in M. B. Vn, 450, Marchwart Altfil in M. B. H, 344 und VII, 428,
und femer begegnet es auch mit der adjectivendung -isch etliche male
bei Pischart; siehe Grimms wörterb. I, 275 s. v. altwilisch. Ein derivat
von ^,zwei" lässt sich also keinesweges in diesem werte finden. Über-
21*
320 LÜBB£N
haupt aber muss man es aufgeben , in ihm den sinn zu suchen , welchen
die glossatoren des Sachsenspiegels herausgeklügelt haben. Es Z¥ringen
dazu nicht bloss sprachliche gründe.
Der Zwitter ist als eine misgeburt , in welcher mann und weib ver-
einigt sein sollen, aus der griechischen fabel zwar genugsam bekanti
jedoch in der Wirklichkeit ein so seltenes wunder, dass unser alteitum
nicht einmal eine bezeichnung dafür gehabt zu haben scheint Denn das
deutsche wort „zwitter^* bezeichnet ursprünglich nicht einen hermaphro-
diten , sondern einen mischling aus zwei verschiedenen arten oder unglei-
chen ständen, einen bastard. Auch althochdeutsch undeUo bezeichnet
nicht ein wesen, welches beider kunne mechtc zugleich besitzt, sondern
umgekehrt ein solches, das von beiderlei gemachten weder das eine,
noch das andere hat, nämlich einen verschnittenen. Die Schlettstädter
glosse bei Haupt, zeitschr. Y, 357 sagt ausdrücklich: widdy gut iesticu*
los non habet. Es gilt in übertragener bedeutuug dieses wort fßr jeden
unmännlichen wicht oder weibischen mann (moUis, effemin(Uu8, s. Graff I,
653 und 777), und ausserdem ebenso wie alt- und mittelhochdeutsch
zwitarn fQr alle halbschlächtigen geschöpfe, welclie durch ihre abstam-
mung in der mitte zwischen zweien arten stehen, also keiner von bei-
den ganz angehören; s. Haupt a. a. o 3G7. s. v. hibrida und Schmellerl,
396 (zuitham, hibris). Das eine wie das andere woi*t hat in solchem
sinne auch angewendet werden können auf das griechische phantom, wel-
ches nach der fabel bei Ovid. Met. lY, 379 in seiner Zusammensetzung
keines von beiden geschlechtem und gleichwol von beiden jedes — naf-
trumque et utrtimque — zur erscheinung bringt. Aber erst im späteren
mittelalter und nur in vocabularien wird mittelhochdeutsch etaeiam,
zwidorn, switor zur Übersetzung von hermapf^roditus gebraucht, und
wol nicht ohne den einfluss des klassischen altertums ist seitdem dieser
ursprünglich dem werte ganz fremde begriff allmählich der herschende
geworden. Heutzutage werden daher auch ältere quellen, in welchen
von Zwittern die rede, ist, leicht unrichtig aufgefasst, und selbst
Grimm R. A. 410 hat übersehen, dass in der von ihm citierten quelle
des 16. Jahrhunderts die ztcift^ne nichts als bastarde sind.
Über hermaphroditen handelt keines unserer alten rechtsbflcher
irgendwo. Dass aber diese höchst seltenen (von der plastik der Grie-
chen phantastisch veredelten) misgeburten in der gereimten rechtsparS-
mie des Sachsensp. 1,4 als eine der drei kategorien von erbunfthigen
und zwar an erster stelle sollten aufgeführt worden sein , ist um so weni-
ger denkbar, weil alsdann eine sehr zahh*eiche kategorie vergessen sein
würde , welche gerade ihrer Wichtigkeit wegen vor jeder anderen genant
werden muste, die der geistesschwachen. Eine bestätigung dafür, dass
ALTYIL 321
in dem reimspruch unter den einer dauernden pflege bedürftigen und
eben deswegen erbunf&higen menschen an erster stelle die irrsinnigen
oder unklugen gemeint und bezeichnet worden seien , gewähren uns die
Übersetzungen. In der von Hattema zu Leeuwarden 1834 und 1835 her-
ausgegebenen Jurisprudentia Frisica, einem Sammelwerk aus dem 15. Jahr-
hundert, ist II, 222 der ganze artikel des Sachsenspiegels übersetzt, des-
sen anfang hier in friesischer mundart lautete : Op derten lyaed (törichte,
d. h. verrückte leute) ende dtoirgen enmey neen leen ner neen erwa
bystera (besterben). Auch die Haager handschrift nr. 292 von 1451 über-
trägt aUvüCj welches also dem holländischen abschreiber kein geläufiges
wort muss gewesen sein, durch dämmen luden. Insbesondere sind aber
die lateinischen Übersetzungen des Sachsenspiegels zu beachten , deren es
nach Homeyer wenigstens drei verschiedene gibt. Weil die für aUvüe
und für dwerge von ihnen gebrauchten ausdrücke gewöhnlich nicht strenge
genug auseinander gehalten werden , so stellen wir für jede dieser bei-
den kategorien der erbunföhigen die dreifachen lateUiischen bezeichnun-
gen so neben einander, wie sie sich ergeben aus Homeyers Deutschen
rechtsb. s. 14 und seiner dritten ausgäbe des Sachsenspiegels s. 160.
Die von ihm verglichenen handschriften verwenden, was wol hervorge-
hoben werden darf, das wort hermaphroditus überhaupt nicht. Sie
gebrauchen vielmehr an erster stelle die ausdrücke Ls. n^unias oder
Lz. vtmus (denn nanos ist hier ohne zweifei uanos zu lesen, während
die lesart Lb. gnauos aus ignauos, vgl. Diefenbach Nov. gl. 209 ignavas,
did, und Qloss. 285 geck, thum^ unweysz; 2 Voc. Wolfenb. ignavus^
unwettich; Yoc. Loccumensis: ignarus, vnwetende vd est stultus; ignauus,
idetn, vnweytende; ignauia, ignorantia, entstanden sein mag) oder Lv.
fatuus. Irrtümlich wird also homunciones, d. i. dwerge von Grimm
B. A. 410 und sogar von Homeyer selbst, dritte ausgäbe s. 395, auf
altvile bezogen. In folge davon , und zugleich wegen der falschen lesart
nanos fQr uanos ist von dem letzteren auch das wort nq>tunius irrig
verstanden worden , Deutsche rechtsb. a. a. o. Der altvil hat nicht ein
„ zwerghaftes ^' wesen, wol aber ist sein wesen nach niederdeutschem
Sprachgebrauch dmsch, woför mit. neptunius (Diefenbach Gloss. 378
neptunus, necker) treffend gesagt werden kann. Denn der fatuus oder
vanus und ignavus ist nach dem glauben alter zeiten durch berührung
der dve geistesschwach, d. h. dvisch geworden. (VgL Kosegarten nd.
wörterb. 226 und Schambach, 56.) Die Übersetzungen alle, nicht bloss
die lateinischen, fordern demnach übereinstimmend eine solche deutung
des reimspruchs im Sachsensp. I^ 4, wie sie etwa die goldene bulle kai-
sers Karl lY. von 1356 durch ihre bestimmung über die fahigkeit zur
regierungserbfolge gibt, c. XXV. §3: IVimogenüus ßim succedat in
322 LÜBBEN
eis (principatibtis) , nisi forsitan mmite captus, fatuus seu aUerius famosi
ac notabUis defedus existeret, propter quem non deberet seu posset hamir-
nibus prüidpari.
Es wird nunmehr darauf ankommen, ob ein den übersetzufigen
entsprechender begriff in dem werte altvü auch etymologisch darzulegen
ist Haupt , welcher in seiner Zeitschrift VI , 400 zuerst auf den beina-
men des bairischen adeligen Marquart Altvil oder Altfil aufiuerkaam
gemacht hat, erachtet es durch die letztere Schreibart als erwiesen , dass
aU =^ vetus der erste teil der Zusammensetzung sei, ohne jedoch für vü
eine erklärung zu finden. Indem er aus den lateinischen Übersetzungen
des Sachsenspiegels irrig homuncio als mit altvil gleichbedeutend heran-
zieht, erinnert er an das „greisenhafte aussehen der zwerge, die in den
sagen und märchen immer alt erscheinen/* Es ist freilich nicht einzu-
sehen, wodurch alsdann die altpUe und die dwerge des reimspruchs von
einander sich unterscheiden sollten. Sachsse versucht indessen in der
Zeitschrift für deutsches recht XIY. 6 fgg. den gedanken Haupts weiter
zu entwickeln , und findet in altvil auf drei verschiedenen wegen , deren
einer den andern an kühnheit übertrifft, inmier die bedeutung „wechsel-
balg.** An der meinung, dass eine Zusammensetzung mit aU vorliege,
hält auch Höfer fest, welcher dem werte kürzlich eine besondere Schrift
gewidmet hat: Altvile im Sachsenspiegel, Halle, 1870.^ Es scheint ihm
die lateinische bezeichnung neptunius, weil er sie gerade so wieHomeyer
versteht, wirklich die bedeutung wechselbalg zu ergeben. Nur sieht er
darin ein misverständnis von selten des Übersetzers, und erklärt allein die
von einem andern Übersetzer gewählte lateinische bezeichnung fatuus ffir
die richtige. Er behauptet mit recht, es könne der reimspruch an erster
stelle nur „geistige krüppel" verstanden haben im gegensatze zu den
mit körperlichem fehl behafteten. Überraschend aber ist seine wori-
erklärung, welche diesen sinn ergeben soll. Denn er gelangt zu der Über-
zeugung, dass das wort aUvUe nicht mehr und nicht weniger als „ftlt-
feile, alte feile** besage und eigentlich eine schelte müsse gewesen sein,
wiewol er s. 26 sich selbst nicht verhehlt, dass das „unglaublich aus-
sieht.'' Ernsthaft einer solchen etymologie zu widersprechen erscheint
unmöglich, und nur die bemerkung sei gestattet, dass aUvile keine sin-
gularform ist. Das bestreben dieses wort von aU herzuleiten , f&hrt offen-
bar zur Verzweiflung über den zweiten teil der Zusammensetzung. Wir
halten dagegen die von Homeyer vorgeschlagene trennung der beiden
bestandteile (in al und twil) für die richtige. Sicher würde dem berfihm-
1) Dazu als ergänzender nnd bestätigender nachtrag : „ AUf}%U im Saehsenspie*
gel'' in Germania, herausg. von K.Bartsch. Wien 1870. 15, 417 — 419. Red.
ALTYIL 823
ten herausgeber des Sachsenspiegels auch die nahe liegende deutong nicht
entgangen sein, wenn ihm die anlautende tenuis in twil nicht verführt
hätte, darin ein derivatum von „zwei" zu suchen. Denn gewöhnlich
hat allerdings der mittelniederdeutschen form für althochdeutsch ttvelan
und mittelhochdeutsch twdn ein anlautendes d, ganz der regel gemäss,
gebührt Allein diese regelmässige mittelniederdeutsche form dwden
oder dwalen ist doch nicht die einzige.
OLDENBÜBG 1870. LEVERKUS.
Bis soweit reicht das manuscript meines verstorbenen freundes.
Nach den anliegenden notizen und nach den besprechungen, die ich so
häufig wegen dieses wertes mit ihm gehabt habe , möge es mir gestattet
sein, folgendes hinzuzufügen.
Nach dem gesetze der lautverschiebung muss das gotische wort
dvcds mit seinen ableitungen und Zusammensetzungen, dvcUavaurdei,
dvalitha, dvalmon bei dem übertritt ins Hochdeutsche mit t anlauten,
nicht mit 0; im Niederdeutschen dagegen, das mit dem Gotischen auf
derselben lautstufe der consonanten steht, muss das d bleiben. Danach
kann also aUvü, vorausgesetzt dass es von der ivurzel dwdan herkomt,
im Hochdeutschen nur cd-tunl geheissen haben; ist (ütvü dagegen eine
composition mit tvai (zwei), so muss es hochdeutsch in cd-zuM über-
gehen. Nur in dem falle wäre für die erstere ableitung ein zw statt
tw statthaft , wenn man annehmen wollte , dass der Ursprung des wertes
schon AnQh in eine solche Verdunkelung geraten sei, dass man dasselbe
als ein ursprünglich mit tw statt mit dw anlautendes angesehen und
dann dem gesetze gemäss in zw verwandelt habe. Der älteren zeit aber,
der dwdan doch kein ungebräuchliches wort war, eine solche Unwissen-
heit beizulegen , ist mislich. Etwas anderes ist es in der neueren zeit
des Hochdeutschen , der das wort twden allmählich ganz abhanden gekom-
men ist, abgesehen davon, dass im Neuhochdeutschen jedes dw oder ^tc;
in zw übergeht. Daher ist es nicht auffallend, wenn wir bei Schmel-
1er IV, 304 die bairische form gezwölen (= betäubt , verwirrt , irre redend)
finden. Indes ist zu bemerken, dass die consonantengruppe tv, tw (dv,
dw) sich nicht streng an die regel gebunden hat, sondern dw und tw
promiscue gebraucht worden sind. Siehe Grimm, Gr. 1, 419 und Mit-
telhochd. Wörterbuch unter tw. So wechseln dmngen und twingen, dwa-
Ken und twagen. Auch im Niederdeutschen sind dw und tw nicht immer
auseinander gehalten, sondern manchmal mit einander vertauscht wor-
den. So heisst es in den Bremer Statuten (von 1303), ed. Oelrichs
s. 33 : Wdde se oc ere claghe vurswigen over twere nacht; s. 61 : So we
oc anderen mes let uppe tl^ strate bringen ^ the sal ene weck bringhen
324 LÜBBEN
laten umme (he thwernachftj. Ebenso findet sich ttüertMcM im L&bedcer
recht ed. Hach (s. 328) in der handschrift D. , während die übliche form
dwernacM ist. Ferner: Unde twinget den duud to aUer stunt, Theo-
phil. .1, y. 416 (von Hoffniann); Nu twing gy uns mit juwer UdkheU,
das. 578; van twangettes (=» dwandes) wegene, Bothos Ghron. foL 88.
Namentlich findet sich in der halberstädtischen niederdeutschen bibel-
übersetzung von 1522 — also in der Harzgegend , wohin auch der Sach-
senspiegel zu setzen ist — häufig dw und tw ohne unterschied neben
einander gebraucht, z. b. twenge (angustia) Hieb 36, 15; ein hantvat
to twtigene, 2. Mos. 30, 18; twagevat, 2. Mos. 31j d; he dwoch, 2. Mos.
40, 8; tuH)ch, 2. Sam. 11, 2; twelinge (error), Jes. 26, 3, se twdeden
in der wütenisse, Jes. 16, 8; dagegen: Ein iewdik, de dar dwdet nan
dem wege der lere, Sprichw. Sal. 21^ 16 und so häufiger. Auch gibt
das Brem. wörterb. 1, 280 und 5, 135 an, dass statt dwaien im Han-
noverschen twcden gesagt werde. Es kann daher aus dem anlaute tw
kein gegengrund hergenonunen werden , dass altvil nicht von dvoden her-
zuleiten seL
Dieses verbum, althochdeutsch ttmUm, twaiian, twelian, angelsäch-
sisch dvelian, altfr. (dwda) dwHa, mittelhochdeutsch twden, niederdeutsch
dwelen, dwaien (dolen, doelen, dalen, dailen)y^ gotisch dvalmon (daraus
talmen), bedeutet wol ursprünglich: sich im kreise herumdrehen, sich
herumwirbeln, eircumagi, volvi, verti. Diese bedeutung ist freilich
nicht mehr unmittelbar, zu erweisen , sie ist aber aus einigen spuren
ersichtlich. Es zeigt sich z. b. in dwadinge, dwadinghe int water, vor*
texj Eilian Dufflseus; in dol, das einen kreisel (kuseT) bedeutet; dop, toi,
troperiUus, trochus, Teuthon; dol, top, turbo, trochus, volübUe buxum
bei Kil. s. v. ^^ der hinzusetzt: a to^)pefi, circumverti, sicut dol sit»
toi a dolen i, e. ah errando sive vagando, dum scutiea agitatur. Daher
toUen, ludere trocho; in dolle, scalmus, lignum teres, eui struppis oKi-
gantur remi, der runde (gedrechselte) ruderpflock. Eil.; doUf, kaul-
kopf; cottus gobiOj der fisch mit dem dicken kugelförmigen köpfe, siehe
unten dolf; dole, holländisch dod, die Scheibe, nach der geschossen wird;
dol-, dulwitt, der weisse punkt in der Scheibe; dole in dukdallon oder
dükdollen Stürenb. s. 42 , die mit seitenstreben versehenen pfähle in den
häfen. Überhaupt scheint dd, dole alles das zu bezeichnen, was durch
1) Das niederdeutsche dwelen wird übrigens sowol stark als schwach coiga*
giert: dwöl, dwolen und dwelede; gedwolen und gedweU. Yn dUen deuen äyngen
diooell dat hovet der kercken, MOnst. ehr. 1, 136; vele, de dwolen das. 144; he
dwelede van der kantnisse der warheit Brief d. Cirillus (Mscr.) s. 105 ; De mens^en
hd)ben gedtoolen^in desser wostenye Brief d. Eusebius (Mscr.) s. 10; idt fryn ejjfn
ßcKap , dat gedweU heft das. s. 42.
YVSViL 325
eine drehung entstanden ist oder entstanden gedacht werden kann, also
rund , sei es scheibenrund oder kugelrund, erscheint S. Grimms wörterb.
2, 1227. Vgl. dcllfusz, klumpfuss; doUschmkel; döUeisen, ein länglich-
rund spitz zulaufendes Werkzeug zum f<eln der wasche; dölsch und
dölschichi geschwollen. Siehe diese Wörter in Grimms Wörterbuch. —
Ferner in tollen, Z. b. Overst ist . . dcU gy goddes willen tho lernen
ackUos Uiven^ so urirt ito ock die verslant seines unUens alle tu ver-
deckt sin, und moten, wo die Uinden hei tage thun, gaen tasten unde
toUen, Münsi Chr. 2, 302, wo es doch nicht insanire, ddira/re heissen
kann, sondern, ¥rie aus dem beigesetzten tasten und aus der sache selbst
hervorgeht, herumfühlen, sich drehen und wenden nach art der blinden,
bezeichnen muss. Ebenso ist yielleicht in der Magdeburger Schöppen-
chronik , ed. Janicke s. 207 : In demsulven jare (1349) begunnen ichtes-
welke megede unde vruwen in dem lande to iMsitze to duilen unde to
dangen und jubüeren vor unser leven vruwen hdde das duUen von einem
herumspringen , tanzen zu verstehen , obwol es hier auch natürlich toll,
unsinnig sein und sich so geberden heissen kann. Auch in der allitte-
rierenden Verbindung „toben und tollen ,^^ das wir namentlich vom wil-
den spiel der kinder gebrauchen, klingt noch die alte bedeutung durch,
indem wir dabei weniger an den lerm, als an die raschen, wirbelnden
bewegungen denken, in denen die kinder sich herumjagen. Auch das
althochdeutsche dawalön bei Otfried III, 2^ 7: Quad, er io bi noti lagi
(der filius reguli) dautuUonti, joh uuari in fheru sukti mit groeeru
unmahti, was mit „dahinsterben" (Wackernagel im Gl.) erklärt wird,
ist vielleicht nichts anderes als das dwcdön, das zucken, das palpitare
der sterbenden {pcdpitat et positas aspergit sanguine mensas, Ovid. Met.
5, 40), wenn es anders nicht in übertragener bedeutung „irre reden,
phantasieren," wie es die im todeskampfe liegenden zu tun pflegen,
gebraucht ist.^ Vergleiche auch dauein, dauddn » dcden im Brem.
wörterb. 5 , 346 und Grimms wörterb. 2 , 646. Auch ist wol hierher zu
ziehen das mittelhochdeutsche getwel. Din ufi^en arm getwd. Ls. 3,
Ö74, deine runden (gleichsam gedrechselten) arme , vgl. Farziv. 258, 28.
•
1) Maassgebenden anhält för die beurteilnng des Otfriedischen «/ral leyoficvov
damuüänti gewährt der wortlant der benutzten quelle. In der erzählnng yon dem
haaptmann zu Eapemaam ist Otfried nicht, wie die Verfasser des Tatian und des
Heliand , dem berichte des Matthaens (cap. 8) , sondern dem des Johannes gefolgt.
Dort aber heisst es in der entsprechenden stelle (4, 47): et rogabat eum, ut descen-
deret et sanaret fUmm ejus; incipiebat enim mori. Hiemach ist dawalön als
abgeleitetes verbom zu steUen neben got *divan, prset. dau, sterben, af-dau^an,
abquälen, abmatten, ahd. totojan, Uman (vgl. Muspilli v. 1) sterben, vor welchem
letzteren Grimm schon 1822 (Gramm. I>, 142) ein älteres *daw«n vermutete, was
326 LÜBBBN
Jane wart nie drtehsd so snel, der si (die brüste) gedrtßt hete hae.
Bedenkt man ferner, dass dw, tw mit qu, w wechselt, so möchte wol
auch qudan (torqttere) und quillen, wcUen (buMire und nauseare s. Die-
fenbach s. y.) wdle (unda, fons und die cylinderf5rmige walze, occiüm^
lum, een weile, daermen die grote dut&n niede hrect Diefenb. nov. gloBS.
s. y. so wie die drehwelle am bi-unnen), das adjectiy wd, rund, und
andere hieher gehörige Wörter unter diese wurzel dwdo/n zu bringen sein,
und die im Mittelhochdeutschen wörterb. 3, 470 und 672 gemutmaasste
y erlerne wurzel wü, wal möchte yielleicht in dwdan widergefunden sein.^
Aus dem „sich drehen ^^ entwickelt sich naturgemäss der b^riff
des sich herumtreibens , sich auf derselben stelle bewegens, des sich aaf-
haltens (ygl. das lat versari) und dwde^i komt fast dem waMn gleich.
Wenn in den Loccumer biblischen erzählungen (mscr.) der erzvater
Jacob sagt: Drittich iar wnde hundert hdube ik gedwden in desser toerlt
(foL 25*"), so ist das dwden ganz gleich dem wallon im Hildebrauds-
liede, wo Hildebrand sagt: Ih walldta stmiard eftti wintro sdhstic. VgL
auch dde, fenmia vagabunda. Grimms wörterb. s. y. Dieser begriff ent-
wickelt sich nun in den yerschiedenen mundarten nach yerschiedenen sel-
ten hin. Im Englischen to dwdl hat der begriff des sich aufhaltens die
ausgeprägteste gestalt erhalten, so dass jede andere bedeutung gegen
die des „ wohnens " zurückgetreten ist. Im Altsächsischen — soweit wir
wenigstens kentnis dayon haben ^ nur einmal findet sich duehnt, errant
(Gl. Lips. bei M. Heyne , kleinere altnd. denkm. s. 45) , — herscht der
begriff des nicht yom flecke kommens — denn der sich herumdrehende
bewegt sich freilich genug, komt aber trotzdem nicht yorwärts, sondern
kehrt immer zu dem anfangspunkte wider zurück — des zögems, sän-
mens so wie transitiy (dwdian) des aufhaltens, hinderns, henrniens vor.
Habda thuo farmerrid (y ersäumt) thia moragan stunda, thcs dagwerkes
fordwolan, Heliand 3467; Ihan sJcal Judeono filu, theses rikeas 8uni,
berobode weräan bedudida (so der cod. cott., bedelida cod. monac.)
sultkorö diuräö (ehren) 2140; wid fiundo nit, wiä demero dtvalm (hin-
derung) 53. Ebenso im Althochdeutschen s. Graff V, 548 ff., und im
Mittelhochdeutschen, siehe Mittelhochd. wörterb. unter twde^i. Im Nie-
derdeutscheu, das uns hier besonders angeht, hat die wurzel nach der
Seite sprossen getrieben, dass duxüen dwelen yorzugsweise „in der irre
seitdem bestätigt worden ist durch das ga-tauuen, tnortem (pati) des fragmentes de
voeatione gentium, Fragm. theot. cd. 2* Viennae 1841. s. 15 (22). MüUenhoff und
Schercr, denkmäler deutscher pocsic u. prosa s. 164 (3, 8). Über die etymologie von
divan und &vi^(fxeiv vgl. Ourtius, grundzüge d. griecli. etym. 2.a. Leipzig 1866.
s. 479. Z.
1) Vgl. Curtius a. a. o. nr. 527 s. 822. Z.
AJJKYJL 327
umhergehen, umherirren^' bedeutet, bystren, dtoden, dwaleuj dcien,
dcUen^ wütlopen, Teuthon. und Eil., so wie die Yocabularien unter
errare, aberrare, deviare, vagari usw. „dwcUjen (in Stade) allenthalben
herum laufen , ohne sich daran zu kehren , ob der weg gebahnt oder tief
und kotig ist. Darum nent man daselbst ein kind, das durch dreck
und pfutzen läuft , een dretMwalger," Brem. wörterb. 5 , 359. Hierher
gehört: dtodlecJU, irrlicht, Kichey Id.; dwelwech, devium, Yoc. Engelh.;
dolhof, labyrinthus, Kil.; dwdgarfdejn , Stürenb. s. 43. Im übertrage-
nen sinne wird es gern, ausser in der bedeutung von aufruhr, yerwir-
ruDg, wirrsal (De van Bostock teeren gekamen in eyne dwalerie unde
afsetten oren rat, Bothos chron. fol. 280) von der abirrung von dem
wege der Wahrheit, vom rechten glauben » ketzerei gebraucht, wie auch
althochdeutsch gcUwola , hsresis^ Graff Y, 652. Dwedre van der her-
sten gelaveti, hereticus; stUke dwdyng heit heresis, Teuthon.; mesters der
dtoeUingej Dialog. Greg, (mscr.) fol. 246; de gruwsame dwdlonge, ver-
doempte secte unde lere der wedderdoep, Munst. chron. 2, 217; Dar (im
glauben) wart Hus unrecM inne vunden unde dwdhaftich. Lüb. chron.
2, 487.
Auf geistige tätigkeit bezogen heisst dwden mit seinen gedanken
herumirren, irrsinnig und wirrsinnig, verdummt, betäubt sein, und
bezeichnet jede art von geistesstörung von der stumpfsinnigkeit an bis
zur raserei. Setzte man, wie es im Mittelhochd. wdrterb. (3, 159^)
geschehen ist, nach den althochdeutschen glossen bei Graff Y, 548 tor-
pere, starr sein, als grundbedeutung an, so könte nie daraus die sinn-
liche bedeutung des herumirrens hervorgehen, noch würden sich alle
unterschiede des irrsinns darunter begreifen lassen, denn ein toller
mensch, furiosus, furibundus ist doch nicht ein hämo torpidus, wol
aber sind beide dwelende. Die althochdeutschen glossen, die nach glos-
senart nur eine bestimte stelle ins äuge fassen, geben nur die eine
Seite des dwdens an , die besinnungslosigkeit , betäubung , lethargie ; denn
auch diese gehört zur „tobsucht''; vgl. Diefenb. s. v. letargia, licargia,
tobende sucht . . . teer sy hat^ der ist iemerieicJi mit cztigetan ougen also
ob er slafe; . . den tobensuchtigen , dy do di äugen czu tun, alsi slaffen.
Die im Mittelhochdeutschen Wörterbuch unter erttvü angeführten stellen
(die ertrunken und erttvälen . . si erstickten und erttoälen) sind deshalb
meiner meinung nach richtiger zu übersetzen: sie ertranken (erstickten)
imd verloren die besinnung. Es fragt sich aber, ob nicht vielleicht
beide stellen besser unter erquü = sterbe anzusetzen sind.
In den resten der gotischen spräche ist diese Wortfamilie nur noch
in dieser abgeleiteten oder übertragenen bedeutung zu finden und zwar
sowol im sinne von raserei ftavia (unhtdthon habaith jah dwalmoth,
828 LÜBBEN
fialverai, Job. 10, 20) als von Stupidität und dummheit juoi^/a (thata
vaurd gcdgins thaini fralusnandam dvalitha (jiioqia) ist, l.Gor. 1, 18).
Im Alt- und Mittelhochdeutschen sind die verbalen formen in dieser
bedeutung nicht gebräuchlich; nur das Substantiv twalm (qualm, dclm)
findet sich so, das aber nicht mit Grimm, wörterb. 2, 1776 als „drack
auf das gehirn'' zu deuten, sondern vielmehr mit „taumel, wirbel,
Schwindel, betäubung, vertigo '^ zu erklären ist VgL Graff V, 552:
twalm, lethargus, somnus, excessus (d. i. exaTaaig, sowol geistesver-
zückung^ als tiefe Ohnmacht), j)avor, und Diefenb. s. v. abducUo: quando
quis pro nimio dolore äbalienaturj twalm; extasis, excessfAS mentis, pro-'
prie beswyfnet. cod. Luneb. v. j. 1488 (mscr.). Im Niederdeutschen ist
das wort in dieser bedeutung sowol in verbal- als nominalformen viel-
fach verbreitet: hystereyi, dwelen (dwalen), hasen, desipere^ Teuthon.;
dw allen, vcuj/ari, mente captum se praebere. He dwaUt so wat herum-
fner her, Manzel, Bützow. ruhest. 3, 33; dwalen, sich im urteilen
betrügen, unvernünftig handeln, törichte Sachen vorbringen, verdwaiet
snakken, unvernünftiges, albernes geschwätz vorbringen. Brem. wörterb.
1, 280; „Daher braucht man in einigen gegenden Englands du^aüle für
die verrückung des Verstandes im fieber, das irrereden der kinder,"
das. 5, 359. BedwooU, verwirrt, verirret, Strodtm. osnabr. id. s. 22;
een verdwden herl, einer der nicht richtig im köpfe ist; das. b. 46;
talmen, {dalmen, Grimms Wörterbuch unter dahlen), manisare, Voc
Engelh.; Doren, wan de begynnen to schympen, so talmen de hoven
gana gerne, Koker 1304; vgl. Brem. wörterb. 5, 15; Stürenb. s. v.
Strodtm. gibt dem werte talmen s. 241 auch die bedeutung: heftig bit-
ten, betteln. He steiht un talmet un thronet assen beedler. Dies ist
unrichtig; schon das Brem. Wörterbuch bemerkt, dass diese bedeutung
in Bremen unbekannt sei. Wol aber heisst es (wie twden) zaudern , wie
auch Strodtm. selbst als zweite bedeutung ansetzt: an eine sache nicht
wollen, au&chub suchen. In dem angeführten beispiele heisst es auch
nichts anderes als „zaudern, nicht weg wollen,** wie es die art unver-
schämter, zudringlicher bottler ist, die ihren weg nicht rasch ans der
tür finden können, sondern stehen bleiben und von neuem ihre bitten
erheben, dalen, dallen, kindisch reden, Grimms wörterb. s. v. und
Fronunann, mundarten 2, 41.
Für den zweck gegenwärtiger Untersuchung sind uns besonders die
nominalformen von Wichtigkeit, deren es eine ganze menge gibt An
der spitze steht das gotische dvals, stupidus; eyn dwal, quidam fatuus,
Oldenb. chronikens. II , 513 (mscr.); dwal er, narr, dummkopf, klotz,
Stieler 354; dwal-ieht, ein dwalichter mensch, das.; dwal-lich,
He iss gantz dwaUich, item duHÜsch, Manzel 3, 33; dwäl-sk^ dumm^
ÄLTVtL 329
albern, Richey, Idiot; dwäl-ke, eine alberne irauensperson , Brem.
wörterb. 1, 281; dwallies, ddirus, Chytrcteus nomend. sax.; dwel,
dul vd dwd, ignarus. Voc. Lamberti Swarten a. 1419 (mscr.); dwel-sch,
dat dwelsche tvif, mulier fantastica, Münst. ehr. 1 , 154; dwälsk, när-
risch, albern, Strodtm. s. 45; dwel-ich, erronews, Voc. Wolfenb. (mscr.).
Dies adjectiv steckt vielleicht in dem althochdeutschen mamtduüiger
(und manothwüino) , lutuUicus, mondsüchtiger, der durch den vermeint-
lichen einiluss des mondes dwdich, dtmUich, irrig im köpfe geworden
ist, GraflFI, 829; dwil-sk, schwindlig, Brem. wörterb. 1, 284; dwilsk
in de kapp, wirr, z. b. im fieber, schwindlig, Stürenb. s. 44; twilsch,
twelich, twalsch^ bei Schambach, im sinne von „widerspenstig," eigentlich
wol wirrköpfig.' — doli oder dull, dumvd dul, [hjebes, grossus, Voc.
Engelh. Dahin gehören die Zusammensetzungen mit doli: ddl-apfd,
doU'bime, doll-kirsche {atropa hdladonnd), doll-kor^ Qolium temu-
lentum, taumellolch, auch twalch, dulch genant, Brem. wörterb. 5, 135),
doU-wurz (aconitum), doli -trank, doll-wasser u. a., alles Schwindel,
taumel, betäubung erregendes bezeichnend, dulms, dolms,' stupidus,
stolidus. Grimm, wörterb. 2, 1509; dolm-trank, Grimm, wörterb. 2, 1232;
mittelhochdeutsch twalnUrank, walmwurz (d. i. dwcdm-, ddmumre) loUum,
Diefenb. s. v.; talmiger, fatuus, Diefenb.s.v.; talmhaftich, langsam, zau-
derhaftig; talmke, „ein faules, plauderhaftiges weih, das nichts beschicket,"
Brem. wörterb. 5, 16; dalmerig, bei Schambach; ferner da22mann^ ham-
pelmann, nugigertdus, ludio; dälposse, tändelndes geschwätz. Grimm
s.v. — dölp, dölpel, niederdeutsch dolf, delf (ygl.tolf, turbo, kreisel,
Graif 5, 423), kolbe, knüttel und der grossköpfige fisch, capiio, quabbe. —
„Eyn ddf dicitur homo adidtus piger, Morhof, unterr. p. 35. ita: VetC"
ribus dalivus , sttdtus. Dies wort kennen auch die bauern in Mecklenburg,
wenn sie einen dummen menschen einen delff nennen." Manzel 15, 29;
Tis ein rechten dolfken, ein abgeschmackter mensch. Strodtm. s. 45. —
dil, tu. Hier ist zu erinnern an die namen „Wilhelm Teil": were ich
1) Diese form mit dem vcrstarkeDden a^ gibt {al-twilsk), al- tunlisch ... seit-
zame liechistöckf nemlich neun wolmäszige, wie sag ich wolmäszige? ja, wolfuderige
altwilische flaschen , das fuder nach der alten Bastatter . . masz zu rechnen. Fischart,
Gargantua 1594, 82^ (bei Grimm s. v.). . . nach rechter altwilischer canzeliischer teu-
tischer schriftartlichkeit, das. Es scheint in beiden fallen in dem sinne von ,, alt-
fränkisch^ altvaterisch, jetzt abgekommen^ altmodisch'* za stehen, nnd Fischart mag
es auch vielleicht so verstanden wissen wollen, es bedeutet aber wol ursprünglich:
ganz verrückt, seltsam. Denn an eine entlehnung^ resp. Verunstaltung des nieder-
deutschen olwelsk, altmodisch, der alten weit angehörend (Brem. wörterb. 3, 264)
oler-wetsk; bei Stürenb. s. 168: „older todsk (richtiger older weldsk**) ist doch wol
nicht im ernste zu denken. Eine ähnliche Verstärkung mit fü steckt Tielleicht in
älwatisch, albern, Brenv. wörterb. 5, 324, das vermutlich für al-dwatsk steht.
390 LüBnor, altvil
witzig, so hiesse ich anders dan der TdH. Etterlin, Schweiz, cfaron.,
und darnach Schiller: War' ich besonnen, hiess ich nicht der Teil.
Till Eulenspiegel; Tilkappe » narrenkappe, name eines bfirgers m Han-
nover im jähre 1297, Grotef. urkb. d. stadt Hannover I, nr. 64; DU"
mann, Tilmann, „ein alberner, törichter mensch, ein gancL^ Grimiii,
wörterb. s. v. Du stast wie ein Motz, ölgötz^ Tilmann. Sebast. Frank,
Sprich w. dilledelle, alberner, läppischer mensch, davon: diUendeUen
bei Luther: albern reden. Auch die pflanze diu (Anelhum gravedens L,),
duUdille, tollkraut, hyoscyamus niger, Nenmich 2, 196, mi^ wegen
ihres starken, narkotischen geruchs daher ihren namen ffihren. Aach
der Schierling, besonders der gartenschierling und der gefleckte Schier-
ling, heisst düUkrut, düUwurteL StQrenb. s. 40. — dildap, diOedap,
diltap, tiltap, iners, ignavus, et stultus, stupidus, von Grimm 2, 1151
so erklärt: „Ein diltap ist ein roher und ungeschlachter mensch, der
auf der flur springt und tobt.*' Das wort hat aber gewis nichts mit
„diele** (niederdeutsch dde) und „tappen, dappen'* zu tun, noch nach
dem Mittelhochdeutschen wörterb. 3, 14 mit tape, pfote, sondern diUap
wird wol dasselbe sein wie diltop (der Wechsel zwischen a und o ist
gleich wie in doUmunn und dailntann, tolpatsch und talpatsch) ^ das
Grimm an derselben stelle für einen „kleinen kreisel erklärt, den die
kinder auf der diele, auf einem brett oder tisch herumdrehen und tan-
zen lassen.** Wenn auch hier, wie es scheint, Grimm du mit „diele'*
zusammenbringt, so dürfte das wol ein irrtum sein, diltap ist eine art
tautologischer Zusammensetzung, ein kreisel, der sich herumdreht, ein
drehkreisel. Ganz ähnlich ist die Zusammensetzung tirreUop bei Stflren-
berg: (tirrdn, sich drehen, top, kreisel), „kleiner kreisel ohne aushOh-
lung und öfiiiung, oft bloss aus einem fiefga^tjeden (funflöcherigen) hnoof}
(s. g. twernf reter , zwimfresser) bestehend.** Dem entspricht ganz eine
andere niederdeutsche bezeichnung dudddop, Brem. wörterb. 1, 264;
dtulen-dop, Chytraous col. 808, denn dop bezeichnet ja ebenfalls einen
kreisel. Wie dies dudddop einen einfältigen menschen, einen tropf bedeu-
tet, so wird auch diltap einen menschen bezeichnen, dem sich alles im
köpfe im kreise dreht und wirbelt , der irr und wirr in seinen gedanken,
und darum ein ineptus, insulsus, eine Schlafmütze ist, der, entgegen
dem hastekop, welcher sich überstürzt, immer wie in betäubung, im
schlafe ist, und niemals, oder doch nur sehr langsam sich besinnen und
sein denken zum richtigen stehen bringen kan. #
So wird auch altwü {altvil), um das resultat dieser Untersuchung
zusanmienzufassen , einen bezeichnen , der dauernd und für immer — denn
das liegt in der zufügung von at — irrsinnig und deshalb erbunfahig ist
OLDENBUKÜ, DEC^EMBER 1870. A. LOBBEN.
ROOHHOLZ, OBBTINBM 331
Die vorstehende reichhaltige und anregende erörtemng hat mich
veranlasst , den herrn professor £. L. Rochholz in Aarau um eine abhand-
Inng über die auf die cretinen bezüglichen Volksüberlieferungen zu ersu-
chen. Obschon durch ein körperliches leiden bedrängt, ist er doch so
gütig gewesen, meiner bitte alsbald in einer weise zu entsprechen, wie
es nur derjenige vermag, der über eine so seltene fülle des reichtums
gebietet, wofar ich ihm zum grösten danke verbunden bin. Ich lasse
seine abhandlung hier unmittelbar folgen. Weiter aber habe ich selbst,
in folge dieser erhaltenen anregung , die schwierige frage einer eingehen-
den Untersuchung unterzogen, und bin dadurch zu ergebnissen geführt
worden, welche von den verschiedenen bis jetzt aufgestellten erklärun-
gen mehr oder minder erheblich abweichen. Sobald es geschehen kann
beabsichtige ich diese Untersuchung zu veröffentlichen und der prüfung
der kenner vorzulegen. J. zacher.
MUNDARTLICHE NAMEN DES CRETINISMUS.
Die in den oberdeutschen mundarten allgemein giltigen benennun-
gen des absoluten, angebornen blödsinnes sind cretin und fex. Beide
namen gehören dem rhäto- romanischen Sprachgebiete an, hier hat der
cretinismus zugleich seinen hauptsitz. Das wort cretin ist ursprünglich
einheimisch gewesen im schweizerischen Unterwallis und dem angrenzen-
den Hochsavoyen, galt dorten als eine ableitung vom romanischen ere-
tira {creaiwra) und war wol eine blosse verglimpfungs- und bemitlei-
dungsformel, die etwa unserem „armer tropfe* entspricht. Das wort fex
nimt ein grösseres Sprachgebiet ein und veranlasst eine umständlichere
auseinandersetzung. Seine heimat sind die romanischen und rhätischen
Hochalpen der Schweiz, Tirols, Steiermarks und Kärnthens; aus dem
idiom dieser landstriche ist das wort zuerst von der medizinischen ter-
minologie recipiert worden, wie aus dem titel der akademischen schriffc
des Salzburger arztes dr. Maffei erhellt: Dissertatio de Fexismo^ specie
Cretinismi. Landshut 1819. Während dies wort nun schon längst ein
genus commune geworden ist, wird es im Salzburger Unter -Innthal noch
nach beiden geschlechtern unterschieden: der Fecks, die Feghin: das
blödsinnige weib. Die beiden Sprachforscher Schmeller (Baier. wörterb.
1, 510) und J. Grimm (Gramm. 3, 338) haben sich dahin entschieden,
dass fex eine entwicklung aus fem. fegkin sei^ wie fuchs aus föhin, lapps
aus lappin. Der Berner dichter Albrecht von Haller hat diesem mund-
artlichen feminin eine hochdeutsche form zu geben gesucht, und bringt
dasselbß zugleich mit dem feenwesen in Verbindung, welches im roma-
nischen Volksglauben als veranlasser des cretinenzustandes gilt. Haller
S32 R0CHH0L2
hat nämlich in den Göttinger gelehrten anzeigen einen bericht über
Leasings Laokoon geliefert und sich bei dieser gelegenheit Ober die poe-
tischen gemälde verbreitet; in diesem zusammenhange gibt er dann fol-
gendes beispiel: „und von dieser art ist die perle [thauperle], die von
einer fexe (elfe) an das ohr einer jeden Schlüsselblume angehängt wird."
(Lessings leben und werke von Danzel und Guhrauer. Bd. 2. Abt. 2.
Hinter s. 372 folgend: beilagen zum 3. bis 5. buche, s. 1.). Jeder leser
sieht, dass mit diesem feminin nicht mehr die blödsinnige, sondern die
zauberische nymphe gemeint ist, die dem romanischen Sprachgebiete
ausschliesslich angehörende fee. Aus eben diesem gebiete wird Haller
seine auffallende wortform entlehnt haben ^ sie ist ihm durch das patois
des Waatlandes und des ans Unterwallis angrenzenden Freiburgerlandes
vermittelt zugekommen, in diesen damals noch unter Bern stehenden
landesteilen hatte er seineu öfteren aufenthalt genommen, später seine
amtliche Stellung gefunden. Hier hat bis heute der feenglaube aus-
gedauert in zahlreichen lokalsagen, welche in Vuillemin's schrift „Can-
ton Waat" und in Heinr. Runges monographie „Die feen in der Schweiz"
gesammelt stehen. Das Waatländer und Genfer patois benent die fee
noch nach altfranzösischer form Fäye (lat. fatua), und dieselbe namens-
form setzt sich auf dem angrenzenden rhätischen gebiete fort: fa^er
heissen dem Glarner alle waldgespenster , dem Graubündner alle erd-
männchen und waldzwerge. Von den feen lässt der Volksglaube der
Waat und Savoyens genau dieselben holden und unholden Wirkungen
ausgehen, welche die deutsche mythologie den höhlenzwergen und hans-
elben zuschreibt; der noch tiefer stehende glaube der Savoyer schaafliir-
ten sieht nicht bloss in den feen, sondern auch in den idiotischen kin-
dern, deren zustand eben durch die feen veranlasst ist, beidei*seits schntz-
geister des hauses. Man nimt weissstrahlende au, aber auch mohrisch -
schwarze; diese letzteren schädigen menschen und tier, schlagen mit
krankheit, rauben gesunde Säuglinge und schieben dafür ihre verkrüppel-
ten unter. Ein solcher wechselbalg haust z. b. in dem eine stunde von
Lausanne entfernten walde Le Mont und ist unter dem namen Le Plio-
rant bekant, der heuler und kreischer. Aargauer sagen 1, s. 345. Hie-
mit ist nun freilich noch nicht nachgewiesen^ dass und wie romanisch
Faye, mittelhochdeutsch Feie, zu Feghin und Feks geföhrt habe, jedoch
die hierüber aufklärung bietende tatsache steht bereits fest, dass der
lebenden Volkssprache Fee und veic (zum tode reif) als synonyma gelten.
In der bergisch - rheinischen mundart hat feig sein die mittelhochdeut-
sche Wortbedeutung: dem tode verfallen sein^ und drückt den rettungfs-
losen zustand eines menschen aus, welchem „durch die erscheinung einer
fee'' ein vorfrühes ende angekündigt ist; von einem solchen sagt man:
CRBTINBN 333
feig beste ^ ach mich rodt: todt bist du lebend schon, ach, mich schau-
dert! Frommann, die deutschen mundarten 3, 46. Dieses hier von der
fee ausgehende feigsein gleicht genau der altnordischen heerfessel , jenem
von der valkyrie HerQötr verhängten zustande plötzlicher geistesverwir-
rung und gliederlähmung , welche den krieger unfähig macht, dem tode
der Schlacht zu entrinnen. Und genau so, wie in der nordischen sage
solcherlei magisches geschlagensein auf den einfluss der feindseligen val-
kyrie zurückgeführt wird (Konr. Maurer hat in Wolflfs zeitschr. f. myth.
II, 341 hiefur den nachweis aus den 1847 zu Kopenhagen erschienenen
Islendinga Sögur gegeben), und wie derselbe zustand im Bergischen
von einer zur unzeit erscheinenden fee ausgeht, ebenso schreibt der
Volksglaube in Wallis, Savoyen und Tirol erlahmung und Stupor der
begegnung einer mohrischen fee oder eines wilden fräuleins zu, und übt,
um den schaden abzuwehren, verschiedenerlei brauche. Kinder und
erwachsene , welche zum ersten male auf die Zernetzer alpe (Tirol) gehen,
heben dort erst steine auf, spucken sie an, werfen sie zu andern auf
einen bestimten platz, welcher zu den wilden fräulein heisst, und spre-
chen: „Ich opfere, ich opfere den wilden fräulein!" ohne sich grosser
gefahr auszusetzen, darf man dies nicht imterlassen. Zingerle, Tirol.
Sitten, no. 956.
Von hier weg begint eine aufzählung der uns bekant gewordenen
landschaftlichen Sonderbenennungen des cretinenzustandes ; ausgeschlossen
bleiben dabei alle ausserdeutschen (die Pazzi in Piemont; die Capot,
Caffo und Cagot in den Nordpyrenäen), und ungenant die hierüber bereits
in Schmellers Wörterbuch enthaltenen namen. Unsere quellen sind über-
all gewissenhaft beigesetzt.
Bairischer Spessart. Über den hier endemischen cretinismus,
welcher aus dem einen Spessartdorfe Membris die meisten der auf den
Jahrmärkten zur schau gestellten zwerge liefert, handeln: Kudolf Virchow,
Die not im Spessart, Würzburg 1852. — v. Hermann, Beiträge zur
Statistik des königreichs Bayern. — Bavaria, Landes- und Volkskunde
des königreichs Bayern, bd. IV, abtl. 2, 212. Die mundartlichen benen-
nungen sind die allgemeinen: fecks, tolpd, wechselbalg, wechselbuUe.
Nur dieser letztere name ist insofern von belang, als er zeigt, wie weit
die niederdeutsche wortform nach Oberdeutschland heraufreicht, nämlich
bis in den Obermainkreis und ostwärts in die Oberpfalz ; von da südwärts
begint die wortform butz: ein verlarvt erscheinender hauskobold und ein
zwergigtes kind; butzelkuh, der tannenzapfen ; schweizerisch btulerli, ein
im Wachstum ungewöhnlich verhindertes kind; buderwinzig , zwergen-
klein. Stalder 1 , 238.
SBITSCHR. F. DEUTSCHE PHILOLOOIR. BD. UI. 22
334 BOCHHOLZ
W^ürtemberg. Die einzelnameii , die hier ohne beigesetzte quelle
folgen, stehen bei: dr. Maffei, der cretinismus in den Norischen alpen;
und dr. Rösch, neue Untersuchungen über den cretinismus. Beides:
Erlangen 1844.
Fach, feck: fresser, breiwanst. Schmidt, Schwab, wörterb, 175. —
Dackel, fem. einföltige person, ibid. 118. — Däledapp., ibid. 126, —
Dippel, dippdbeinig, blödsinnig, ibid. 125. — Dilledäile, traUe, traUe^
watsch (plumpe langsamkeit). — Kralle (grollen bezeichnet das geräa-
sche im Schlünde beim hastigen genusse fetter speisen: Schmid, ibid.
241). — Lappe, lalle, tropf, tender (dänisch: sinnbetäubt), Aombel (glie-
derlahm; hampeln, gebeugt einhergehen; Birlinger, Schwab. - Augsbur-
gisches wörterb. 218). — Dante -maute, es vergleicht sich dem tiroL
stuta-muta; Birlinger, wörterbüchl. zum volkstümlichen aus Schwa-
ben. 1863. s. 65.
Salzburger Alpen. Quelle: Jos. und Karl Wenzel: Über den
cretinismus. Wien 1802, s. 24.
DrutscJiel: aufgedunsener. Gack: linkischer. Teppek: täppischer.
Kärnthen. Quelle: dr. Maflfei's bereits citierte schritt.
Fax und fax, der irrsinnige; faxenmacher: spassmacher, possen-
reisser. Frommann, mundarten 2, 341. — Dost, fem. dostd; in Press-
burg TcLost: der blödsinnige, (Frommann, mundarten 6, 130), ableitong
von duseln, halbschlafen; daher Schweiz.: döscti, traurig, niedergeschla-
gen. Stalder 1 , 291. — Dogger; vgl. Schweiz. Doggeli, alp, incubus. —
Armes härscherle: armes Schmerzenskind, steht zu haischen, hilfe fordern.
Steiermark zählt nach einer in den vierziger jähren aufgenom-
menen Volkszählung 6000 cretinen des höheren grades. Guggenbühl, die
cretinen-heilanstalt Abendberg, Bern 1853, s. 46. Quelle: dr. Maf-
fei's citierte schritt.
Depp, der tapps. Dost, dostel, drutschel, lümmd, tclpd; troddd:
unsicheren ganges; doch fragt sich hiebei, ob nicht das die kinder im
schlafe tretende gespenst die Trut hier namengebend ist. „Gegen die
nacht 'trotten^ trutten, kreidet man den frottenfuss (pentagranun) an die
kinderwiegen , trotten heisst noch izt so viel als pressen, drucken.^
M. Ernst ürban Keller, Würtemb. Superintendent: Gegen den aberglau-
ben. Stuttgart 1786, 159. „Dahero noch heutiges tages die schreiner
solche drutenfüss an die wiegen und kindsbettlädlein zu machen pflegen,
zum zeichen alles glucks und heils.^' Chorion , Teutscher Sprach Ehren-
krantz. Strassburg 1644, s. 59.
Deutsche und welsche Schweiz. Allgemeine quelle : dr. prof.
Hermann Demme , rector der hochschule zu Bern : Über endemischen cre-
tinismus. Akadem. rede, gehalten am 14. nov. 1840. (Bern bei Fischer).
CEBTINBN 335
Kanton Zürich. Die amtliche benennung der Idioten war hier
im vorigen Jahrhundert : thorenbuben, vulgo letjsköpfe; sie ist verwant
der ausdrucksweise des Schwabenspiegels , welcher zu den unzurechnungs-
fähigen jene toren stellt, die nüt witze hant,
Kanton Glarus. Tschörgen, der schief und schlarfend gehende;
vgl. tscharggen, Stalder 1, 318.
Kanton Bern. Tschatäi, tschätielj tscholi: straubhaar, Struwel-
peter, vei-wilderter einfaltspinsel. — Tschaüte, tschäudi, tschäudeli,
feminina, einfältige Weibspersonen. Stalder 1, 318. — Tsckante; müs-
sig umherstreunen ist tirolisch tschandern; Frommann, mundarten 4,
452. — Tschalf, tschalpi, träger, tölpelhaft unachtsamer mensch. Stal-
der 1, 316. Schmidt, Idioticon Bernense in Frommanns mundarten 4,
18. 19. — Tschumi, träll, tschör ^ Schmidt, 1. c. für tschör vgl. Glar-
nerisch ischörgen. Im Kärnthner Lesachtale ist tschörper der cretin,
tschörperte ein mitleidsname. Frommann, mimdarten 6, 204.
Kanton Wallis. Die erhebungen, welche Napoleon 1811 im
kanten Wallis, damals döpartement du Simplen, über die Ursachen des
dort herschenden cretinismus machen liess, wiesen das Vorhandensein
von 3000 Cretinen nach; die akten hierüber befinden sich in den Pari-
ser archiven. Guggenbühl, die cretinen - heilanstalt Abendberg , 1853. —
Namen: tschengg, tschingge, schiefgang; tirolisch tschinggelen , brum-
mend umhergehen; tschinggele, ein unansehnlich Mnd. Frommann, mund-
arten 6, 201. — Tscholi, fem. tschdina, s. tschauli, strobelkopf. —
TschejeUe, tschegeUa; tirol. tscheggen, grätschen, d. i. schieg = schief,
mit krumbeinen schreiten. Frommann , mundarten 4 , 453. — Tschaag,
tölpelhafter, zweckloser umherstreuner. Stalder 1, 316. — Triffd, vgl.
nachfolgend aargauisch tribel. — Tarrar, von taren, im sprechen und
tun überaus langsam. — Nollen, dick- und schwollkopf; namen der
obersten breiten bergkuppe des Titlis; vgl. aargauisch nell. — Goich,
gauch, bankert: suln tvir gouche ziehen? (Nib. Lachmann 810.) „Der
erste glückwunsch der wehmutter an die Walliser Wöchnerin lautet: Gott
sei gelobt, das kind wird kein gauch werden!" Jos. Simler, Valesiae
descriptio. Tiguri 1574. — Im welschen Unterwallis heisst der idiot
allgemein marron, der unausgebackene teigklumpen im brode, dasselbe
was die schweizerische schelte dotsch besagt.
Kanton Aargau. 6föZ, jeder fex; gölig, albern. GlöcMigöl, der
mit der kinden-assel sich hörbar machende bettelnde stumme ; der rölldi -
feerli, der rollebutz, ein schellennarr. Frommann, mundarten 6, 458.
Aberglaubenssatz : eitern sollen nicht selbst klappern für ihre kinder kau-
fen, sondern von andern ihnen schenken lassen, sonst lernen sie schwer
reden. Das buch vom aberglauben, misbrauch und falschem wahn. Ober-
22*
336 ROCHHOLZ
deutschland (Weissenburg in Baiern) 1790, s. 217. — Löl, löli, laffe
und lalli: mit dem merkzeichen der heraushängenden zunge. Compo-
sita gaiöU, galö/fd. — Talpi, talpach: der mit den ffissen als mit
tatzen auftretende; dallpatsch, der mit dem dollfusse, dem klumpfasse
behaftete. — Troll, traUe, tr allpatsch , trallewatsch: der gelenklos
plumpe. Schmid, Schwab, wörterb. 135. — Ton, töni, tönerinn, von
tönen, langweilig reden; eintönig ist eigensinnig (Stalder 1, 258),
tonlos ist abgeschmackt: Schmid, Schwab, wörterb. 133. — Tribd,
der murrkopf; eigentlich das gemengsei zum schweinefdtter, mithin die
trebern. Hiezu wallisisch triff el. — Algrind, grosskopf , dickschädel. —
Dubd, idiote; eigentlich der verschnittene bullochse; dubdgrind, der
setzkopf mit boshafter Stetigkeit, also ochsenkopf. — Doggd, erwach-
sener dummian; doggeli, das torenkind, zugleich der kinderdrückende
alp ; vgl. kärnthisch dogger, — Poppd, adj. dumm. Stalder 1 , 204. —
tarer, taderer, Stotterer; wallisisch tarrar. — Nol, nolgg, im kanten Uri
nell. Hierüber schreibt Ant. Henne in seiner ausgäbe der Elingenberger
Chronik, pag. 45: ^^Ndl, noll bezeichnet bei uns einen cretin, wie mß
in der gaunersprache ; daher das nölldMrlein in Luzem, gleichwie die
taUespforte zu Utrecht : das tor beim toUhause." Berggipfel ist althoch-
deutsch hnol, schweizerisch naolen und ^zollen, der knöpf althochdeutsch
hnd; daher bezeichnen vorerwähnte namen den verschrobenen dickkopf,
nielenkopf ist schelte für hohlkbpf.
Verglimpfungsnamen des cretinenzustandes sind armes geschöpßi
(vgl. crdira), arme unschuldige, geistli^ betrübte. Der letztere name
wird sogar auf die den krankheitszustand angeblich veranlassenden elbe
übertragen: „Wenn sich ein kind des morgens nicht wäscht, so kom-
men die betrübten und zerreissen es." Zingerle, tiroler sitten nr. 21.
Das unerklärbare wird einer rohen bevölkerung identisch mit dem über-
irdischen; um Sitten in Wallis hält man die zur äusserlichen gebets-
fiinction dressierten blödsinnigen für heilige (von einem solchen cretin zu
Seedorf in üri, der das vaterunser zum zweck des strassenbettels erlernt
hatte , erzählt mit widerwärtigem gerührttun dr. Guggenbühl (der Abend-
berg, s. 11), und in andern alpentälern sehen die eitern in ihren idio-
tischen kindern sogar schutzgeister des hauses. J. B. Friedreich, ana-
lekten zur natur- und heilkunde. Würzburg 1831, s. 31. — Daher
kann es nicht befremden, sondern ist um so mehr ein zeugnis für die
uralte herkömlichkeit dieser eben besprochenen Volksmeinungen, wenn
der hausgeist, der serbling und der idiote gemeinsam sich in dieselben
namen teilen: alb, dwe, dbst; drut, trott&nkopf, trottd; hampdnuinn
und tatermann; trull und troll; Id, loll und lalle; butte, bütz und piÜB;
$chratt, schrätzlein, schief iz. Der Niederdeutsche sagt von dem beses-
OBETINEN 337
senen, der hat die elwen, dar sin die dwen ane (Kuhn, Westfälische
sag. 2, 19); der Oberdeutsche in dem gleichen sinne: den hat das tog-
gdi geritten, das schräUdi gedrückt, das strägdi geholt.^
Nirgend rechnet die bevölkerung, wenn sie vom entstehen dieses
unter ihr herschenden Übels erzählt, dasselbe unter die übrigen plagen
der neuzeit, denn sichtbar nimt mit der örtlich zunehmenden kultur der
örtliche cretinismus ab; dagegen stimt alle sage, legende und ortskunde
in den verschiedenartigsten landschaften darin überein , dass der in ihnen
endemische cretinismus schon zu Urzeiten hier in derselben weise vor-
handen gewesen sei. Es gehört mit zur Untersuchung des alters der
deutschen tölpelnamen, dass wir hier solche volkstraditionen mehrfach
anführen und dabei vom anekdotenhaften bis zum kirchengeschichtlichen
aufsteigen. Von den leuten im Frickthaler dorfe Kaisten, einer unge-
mischt katholischen gemeinde , in welcher satthals und kröpf stationär
sind, sagt der nachbarspott , sie seien die allerstärksten , weil bei ihnen
die waden unmittelbar unter dem kinn anzufangen scheinen. Die Kaist-
ner stellen das übel selbst nicht in abrede, schieben aber den grund
desselben auf die misgestalt der alten altai'bilder in ihrer vormaligen
kirche, an denen die weiber sich versehen hätten. Es herscht mithin
hier der schaden schon seit der alten kirche, unter dieser aber ist bei
den in rede stehenden katholiken nicht etwa eine vorprotestantische
gemeint, sondern geradezu die heidnische. Dies ergeben folgende legen-
den. Die bewohner von Trinmiis in Graubünden erzählen nach dem
berichte ihres frühesten Chronisten Ulrich Campell, sie hätten den heili-
gen Lucius, als er im zweiten Jahrhundert bei ihnen predigte, verhöhnt
und dafür habe er ihnen den bleibenden kröpf an den hals gewünscht.
Seitdem die bauern von elsassisch Ammersweiher den heiligen Deodat,
der sich im jähre 680 bei ihnen angesiedelt hatte, aus seinem besitztum
vertrieben, bringen ihre weiber nur kropfige kinder zur weit; sie bege-
ben sich daher kurz vor der niederkunft jenseits des dorfbaches, d. h.
ausserhalb jener Deodat'schen besitzgrenze, und gebären hier makellose
kinder. Kettberg, kirchengesch. 1, 525. Die kirche selbst hatte sich
1) Einige namen dieser heidengeister nent der Tiroler Vintler in seinem spruch-
gedichte: Blume der tagend, verfasst im jähre 1411:
* vnd eicleich glauben,
der alpe minne dii leute,
80 sag tauch maniger,
er hob den elben gesechen,
ettleich die jehen,
das schrattl sei ein chleines; chind
vnd sei ein verzweivelter geist.
338 ROCHHOLZ
schon in Mhester zeit mit cretinen zu befassen gehabt; für zwölfe die-
ser gattung besteht eine „alte Stiftung" im kloster Admont, Gnggen-
bühl 1. c. s. 2. Zu ähnlichen resultaten gelangten auch die von &rzten
und geschichtsforschern im vorigen Jahrhundert begonnenen Untersuchun-
gen; den cretinismus in den Pyrenäen leitete Eamond de Carbonoi^res
(Reisen durch die höchsten spanischen und französischen Pyrenäen. Strass-
burg 1780.) von den Überbleibseln des untergegangenen Alanenstammes
ab, die durch herabwürdigung zu cretinen entarteten (dr. Demme, aka-
demische rede 1. c. 36). Ähnlich urteilte der domherr Gall über die
cretinen in Val d' Aosta , sie seien entstanden seit der invasion der Lan-
gobarden im sechsten Jahrhundert, denn diese hätten die römischen Was-
serleitungen und andere culturwerke zerstört und damit die verkrüppe-
lung der Eingeborenen vorbereitet. Nicht diese behauptungen wollen
wir betonen, sondern darum werden sie hier angeführt, weil sie in der
berechnung des alters übereinstimmen, das sie für das übel anzusetzen
suchen; letzteres aber wird in Wahrheit noch um ein bedeutendes Älter
durch das allbekante märchen , wonach man den wechselbalg sich dadurch
vom halse schafft, dass man eierschalen scheinbar als speise für ihn sie-
det und ihn dabei zum selbstgeständnisse über seine herkunft nötigt. Die
gleichmässigkeit , mit welcher der altbaierische bauer (Bavaria 3, 307)
und der keltische Irländer (Grimm, irische elfenmärchen no. 6 und 7)
diese selbe mythe bis jetzt forterzählt hat , setzt in erstaunen und erweist,
dass sie schon von frühester zeit an in Europa verbreitet gewesen ist
Grimm , myth. 437. Denselben nachweis werden wir am Schlüsse dieser
mitteilung auch sprachgeschichtlich liefern, zuvor aber noch über die
Stellung berichten, welche dem cretin im bürgerlichen rechte einge-
räumt ist.
Vorhandene Urkunden des klosterarchivs Muri (jetzt im Aargauer
Staatsarchiv) erweisen, dass im 17. Jahrhundert die schweizerischen land-
vögte in den damaligen gemeinen herschaften ehebündnisse zwischen blöd-
sinnigen genehmigten, freilich unter besonderer sportel-erhebung. Man
hat hierunter nicht vollständige „gäuche" zu denken, denn eben zwi-
schen solchen sind eine physische, mithin auch politische Unmöglichkeit.
Jedoch eine wolhabende bauerntochter wii'd trotz ihres cretinösen zustan-
des wol heutigen tages noch einen freier unter ihrer ländlichen nachbar-
schaft finden können, und auch der betreifende gemeinderat, in dessen
entscheiden der geldpunkt vorwiegt, wird seine Zustimmung erteilen,
überzeugt, dass der blödsinn der einen ehehälfte durch den bausverstand
der andern compensiert wird. Da überdies solcherlei eben entweder kin-
derlos bleiben oder fehlgeburten und lebensunfähige liefern — nach dem
Volksglauben muss ein wechselbalg nach 7 jähren sterben — , so befürch-
CRBTINBN 8d9
tet auch die gemeinde nicht , einen weitern Zuwachs an cretinen zu bekom-
men. Wahr ist es, dass durch diese gefügigkeit der gemeindebehörden
mancher orten ein neuer volksaberglauben über die allgemeine Unschäd-
lichkeit der cretinenehen gepflanzt , ja sogar von ärzten befürwortet wor-
den ist So ist z. b. dr. Guggenbühl (Abendberg 1. c. s. 60) der für einen
fachmann unverantwortlichen meinung, der cretinismus der mutter sei
ohne allen belang füi* den geisteszustand des von ihr zu gebärenden kin-
des, denn des kindes anläge gehe vom vater aus, die mutter gebe nur
den boden her. Dies unterstützt Guggenbühl mit einer tatsache aus Ober-
wallis vom jähre 1853, woselbst „^e völlig sprach- und verstandlose ^^
Katharina Willna von Leuk mit einem kräftigen bauern aus dem nach-
bardorfe Varren verehelicht ist und ihm mehrere ganz* gesunde , sogar
„intelligente" kinder geboren haben soll. In einem lande, in welchem
noch im jähre 1834 ein misgestalteter halbcretin katholischer dorfpfarrer
gewesen ist, braucht man das eben erwähnte ehebündnis nicht im min-
desten zu bezweifeln, wol aber das behauptete glückliche ergebnis des-
selben. Der wolbegründete wünsch aller einsichtsvollen ist auch hier
gegen solcherlei eben, aber bisher scheitert er noch an dem gleissne-
rischen einspruche der bauemdemokratie , dass damit zugleich die per-
sönliche freiheit aller gefährdet würde, und man beschwichtigt die geg-
ner durch hinweis auf das den gefahren vorbeugende gesetz. Letzteres
stellt den in die ehe tretenden männlichen cretinen unter seinen ursprüng-
lichen vogt zurück; das eheweib, ob gesunden oder schwachen geistes,
war nach den statutarrechten der deutschen Schweiz ohnedies halb-
unzurechnungsföhig und lebenslänglich unter vogtschaft gestellt gewesen,
eine teilweise gleichstellung hat erst seit neuester zeit begonnen. Somit
sind alle cretinen, gleich andern geistesschwachen, vor dem gesetze zwar
erbfähige, aber nur durch ihren vogt mittelbar verfügungsberechtigte
personen, und eben dadurch wird nun die frage nahe gelegt, ob jener
name der altvile im Sachsenspiegel, welche dorten unter dasselbe rechts-
verhältnis gestellt sind, nicht gleichfalls eine altdeutsche bezeichnung
des cretinismus gewesen ist. Die bezügliche stelle 1 , 4 lautet: uppe
altvile unde uppe tverge ne irstirft weder Un noch erve ; körpergebrechen,
besagt sie, schliesst von der erbfähigkeit aus; doch unmittelbar ist bei-
gefügt: Wird ein kind geboren stumm, oder handlos, oder fusslos, oder
blind, das ist wol erbe zu landrecht, aber nicht zu lehenrecht.
Schon J. Grimm, rechtsaltert. 40 hat die lesung al^lvüe veran-
lasst, indem er damit auf Dänisch tve-tulle (zweigeschlechtig) hinweist
und dieses zu althochdeutsch tmdülo, herniaphroditus stellt. Es bleibt
somit der wortstamm tiHl und tu, begleitet mit dem verstärkenden cd,
ganz, und damit ständen wir vor den beiden mythischen Schalksnarren
340 ROCHHOLZ
Teil und Till, die unter der maske des blödsinns ihre groben streiche
ungestraft zu verüben suchen. Unter den hiebei nur zu reichlich sich
darbietenden belegen sei liier in kürze das nächstverwante angegeben.
In Etterlins chronik sagt Teil: were ich witzig, so Messe ich
anders dann der Teil. Der herausgeber J. J. Spreng (Basel 1752) bemerkt
hiezu: „Auf seinen narrennamen sich stützend, habe TeU Verrücktheit
vorgeschützt; Gessler habe jedoch diesen simulierten blödsinn erkant und
eben darum den falschen narren ungewöhnlich scharf bestrafen wollen
dadurch, dass er ihn verurteilte, auf das eigne kind zu schiessen. Denn
tälly oder wie einige noch sagen, teile, heisst nach dem buchstaben ein
einfältiger, von talen, einfaltig und kindisch tun." — So Spreng. Ähn-
lich urteilt sein Zeitgenosse, der geschieh tsforscher Zurlauben aus Zug.
Dieser hat in seiner handschriftlichen Stemmatographia Helvet. bd. 21
den entwurf hinterlassen zu seiner dann um vieles verkürzten druckschrift
Guillaume Teil. Paris 1767, und erklärt darin: Teil etoit oriffinaire-
ment un sohriqiiet; on appeUoit ainsi en Ällemayid un homme
balourd, peu sense, le fol, Vimjfrudent, Wir veranschaulichen diese
behauptung nun durch beispiele. dalon, fallen, lallend und läppisch
reden , führt zu talisch und fälsch , verrückt, talen ist mit althochdeutsch
tivalon, betäubt, schlaflF sein, zu verbinden, mittelhochdeutsch ttcalm,
baierisch dehn. Weinhold, Schles. wörterb. 1855, s. 96. „Eh ich nicht
weiss, warum wir Schlesier eselsfresser sind, geb ich mich nicht zufrie-
den und sollt' ich tadsch darüber werden." Holteis roman: die esels-
fresser I, heft 2, s. 196. Der faUsack ist schlesisch der alberne, zugleich
eine aus senmielteig gebackne mansfigur ; der dallmann ein hampelmann.
Eine den dummkopf bezeichnende Breslauer spottformel lautet: der tiMll-
taU hat hölzel feil. Unter dem namen doli und Uli schleppte man im
hochstifte Eichstädt bis auf unsere zeit zur fastnacht einen Strohmann
durch die gassen , gab ihm alle ungereimten streiche der einwohner schuld
und liess ihn dafür nach der gefilUten sentenz verbrennen. Bavaria III,
1, 297. Talpi, tölpel, f ollpatsch , daletvafscJi , dalap^ dalk führen zu
dal fern, dalJcen, dolken, didkezen, falschen, folfen, und zu den weiteren
ablautenden verbalfoimen : tillen, tillazen, dilleddlen. „TiUem-iallem,
häusel bauen," fängt ein kinderreim an; Holtei, die eselsfresser 11, heft 2,
217. 225. Der diljye ist bei Sebast. Franck, der dillhelm ebenso bei
Schmeller (wörterb. 1 , 364) der tölpel , der vernagelte dickkopf. Der
diUdappenjäger, elbcnlröfsch und frilpcnfrifsch (Schmid, Schwab, wör-
terb. 162) ist jener Aprilnarr, der sich gegen eine erdichtete gefahr als
nachtwache auf die feldmarke hinaus stellen lässt. Oberdeutsche schrift-
steiler des 16. und 17. Jahrhunderts gebrauchen den namen diUmann
als sinbild der albernheit. du stast wie ein Tdotz^ olgöfz, tilman, lücl^
CEBTINBN 341
ter. Seb. Franck , sprichw. — „ Der nydhart vnd Jier Dillenian \ Hau
mit den puren vil gefangen an;^^ Lenz, reimchronik vom Schwabenkiieg
1499, ausgäbe von Diessbach 153 ^ — DHU ist masculine, dilderi femi-
nine schelte (Schweiz), und so hatte schon Bodmer in Füsslis Schweiz,
museum 1790, 49 die triftige bemerkung geäussert, teil sei dem namen
nach eins mit tül, es gelte in Zürich die phrase: von heiTn Tilmans
kappe reden, viel worte um nichts; es ist von herrn Tümanns wegen ^
unnützer weise (Sebast Brant) ; dem tilmann hats geglückt = das blinde
huhn mit dem weizenkorn (Agricola). Diesen beispielen gegenüber bleibt
W. Wackernagels (in Pfeiffers Germania V, 340) gemachte behauptung
ein falscher überfluss, der Lübecker name tili sei eine aus Sant Jlg
gebildete attractionsform ; dem steht schon die bisher als älteste nach-
gewiesene ausgäbe des Eulenspiegel vom jähre 1519 entgegen und die-
jenige von 1539, welche sich auf eine angebliche von 1483 zurückbezieht;
immer schon ist das Volksbuch Du Ulenspiegel betitelt Doch es ist
gar nicht mehr nötig, diesen namen nach der kleinen spanne zeit "von
ein paar bücherauflagen zu berechnen , wenn der namensvetter Teil schon
seit allen Zeiträumen in den europäischen sprachen und zwar in der eben
besprochenen Wortbedeutung besteht. Für die keltische fonn dal == stu-
pidus verzeichnet Diefenbach, Celtica 1, 152 folgende belege. Aus
Festus: Dalivum supinum ait esse Äui/rdius ; Adius stultum; Osco'
rum quoque lingua significat ins an um. In der Kymrischen spräche
ist ddf, einfacher dd: stulborn, a stupid fellow. Im Bas -Breton ist
dalif (dessen umlautsform das eben citierte kymrische delf ist) nicht
bloss mente captus, sondern auch posthumus; die bretonische phrase
eunn dalif keaz eo bedeutet: un pauvre posthunie. In den Serbischen
heldenliedem (Übers, von W. Gerhard, Leipzig 1828. n, 294) ist tale
jener mythische dümmling, welcher blindlings dreinzuschlagen pflegt und
seiner tapferkeit wegen noch jetzt bei den bosnischen Türken in liedem
besungen ist. Der finnisch -ehstnische toll war ein riese, wohnhaft auf
den inseln Ösel und Eunö im Eigaschen meerbusen , sein grab wird dor-
ten bei Töllist und noch einmal bei Tirimets gezeigt. Hier wollte er
wider auferstehen, wenn man ihn gegen einen andringenden landesfeind
berufe; allein da man ihn einmal fälschlich hervorgelockt hat, wird er
nicht wider hervortreten. Eusswurm, Eibofolke (1855) §§ 183. 393.
Kruse, Ehstnische Urgeschichte. Moskau 1846, 187. — Teile, episeo-
pus de Coira (Chur in Graubünden), unterzeichnet die beschlüsse des
im jähre 765 unter Pippin zu Attigny in der Champagne gehaltenen kir-
chenconventes (Pertz, Leges I, 30) und stirbt am 24. septbr. 784 zu
Chur. Sein durchaus undeutscher Stammbaum steht angeführt in Eett-
bergs Mrchengeschichte 2, 136. Ist somit der name Teil der oskischen,
342 GRADL
keltischen, finnischen, slavischen und rhätoromanischen spräche eigen
gewesen, warum denn wol nicht auch der deutschen? Der älteste, den
ich bisher in deutschen Urkunden gefunden habe, gehört Oberdeatsch-
land an und steht im Codex Trad. S. Galli no. 10 (Neuer abdmck: 6):
TaUo ist in den jähren 741 und 742 als zeuge genant in einer von Beata,
der tochter Rachinberts und gemahlin Landolds, an das kloster Lützelaa
ausgestellten vergabungsurkunde.
AARAU, OSTERN 1871. ERNST LUDWIG ROCHHOLZ.
ZUM VOOALISMUS DER DEUTSCHEN DIALEOTE.
DER AU -LAUT.
Der diphthong au ist die zweite Steigerung des u und findet sich als
solche in altgermanischeu dialecten, wie im gotischen, im altnorwegisch -
isländischen (und gotländischen) und im althochdeutschen (altalemanni-
schen, -bajoarischeu und -fränkischen). Doch begint in den späteren Zei-
ten des althochdeutschen schon in denkmälern die verdumpfung ou her-
vorzubrechen, die anfangs nur neben au auftritt, dann aber (im 10. Jahr-
hundert) allgemein wird. So haben z. b. das vocab. s. Galli, Kero, gL
ker., gl. hrab., gl. Jun. A, Isidor u. a. nur au; im Hildebrandsliede ste-
hen au und ou; entschiedenes ou zeigen Tatian, Notker, Otfrid.
Vor gewissen diphthongen (s. u.) verengerte (assimilierte) sich ou
im ahd. zu ö; in mehreren neuen dialecten entspricht aber wider (ein
secundäres?) au diesem ö.
Die wirklich secundären ati- laute entstehen meist unter einfloss
von nachstehenden sonanten (liquiden , nasalen oder Spiranten) und zwar
ist zur characterisierung dieser Wirkung zu bemerken, dass andere dia-
lecte in denselben consonanzfäUen ein i aufzeigen, wo in den unten
angeführten u sich aus dem sonanten evolviert (herausbildet) oder den-
selben vertritt. Wahrscheinlich fühlte man bloss die halbvocalische nator
heraus und wählte, je nach dem sonstigen helleren oder dumpferen cha-
racter der mundart, zwischen i und u.
Eine teilung des ati- lautes findet statt in: au, au (Hi), aü (a^).
Zu unterscheiden von au sind: ao, od und au, äo.
au steht für a, und zwar:
a. ohne weitere oder wenigstens ausschliessliche oder aber sicht-
bare consonanzbedingung nur in wenigen f&Uen und da mei-
stens zugleich mit au &ir ä, so dass für die organische kflrze
manchmal zunächst unorganische Verlängerung und dann zusam-
menfallen mit ä anzunehmen wäre. Beispiele:
DER AU -LAUT 343
1) älL alemannisch (Grieshabers pred. 1, 83): aurem ai*m»
Berenhaurt Bernhard, gauh gab, uf haute, geschaufen, gaudeti, geschaud-
gut , baut , stauten , rochfauss , s. Weinholds alem. gramm. (gr. d. mund-
arten 1) s. 52.
2) alt. bajo arisch (voc. 34/15 Graz. f. 5 rw. 26): lavndein,
luiupffy s. Weinholds bair. gr. (gr. d. mundarten 2), s. 76.
3) siebenbärgisch, z. b. Hanebach bei Hermannstadt: erzauUe
erzählte, schlaun schlagen, saut sähet, daug tag, sprau^h, daut dass;
Zeiden: schauren scharren; Bosenan: sauch sah; Mediasch: daut dass
(hier auch besonders vor nasalen, s. 35); Nösnerland: lauchlvig. (Schul-
ler, ged. in siebenb.-sächs. mundart und Firenmich, Germ, völkerst. 3,
635. 636).
4) seh lesisch: M;awnm warum, daurim, grauh, lauger; s. Weinh.
dial. 61.
5) rheinisch (Aachen, Eupen): hau* hau'eti hatte, hatten.
6) niedersächsisch; Zetel in Oldenburg: auher, fauken oft,
wauter wasser, plaustern, lauden, mauken, häufen der hafen, kösthaur
kostbar, lauken das laken (Pirm. 3, 13 — 15); Flatower und Deutsch-
kroner kreis z. b. Zempelburg : tausaun^e, gaue gar, brauv, graud, spau-
den spaten, vaudfe vater, wauie, mauken (Firm. 1, 118 — 120); Deutsch-
krono: schauden, stauts statt, waute, daug (Firm. 3, 501).
7) westfälisch (Osnabrücker und Tecklenburger gegend): tosäu-
men, auber, traun der trän, traunen tränen, stau^ staat, pracht, usw.
(Firm. 1 , 239 — 252 und 1 , 283 fgg.)
8) vi ä misch (französ. Flandern, Katsberg): te gaure zusammen
(engl, to-gether), vaure vater, slaun schlagen (Firm. 3, 697); (Brabant):
hau' hatte.
b. nachfolgendes g verändert den a-laut häufig; auf grund sei-
ner verwantschaft mit w (vgl. engl, w für 3, altnorw. g für w,
usw.) löst es sich entweder in u auf oder evolviert diesen laut
aus sich; bleibt dann wider als g stehen oder wird modifiziert
(zu j)'
[)) thüringisch (Erfurt): nauel nagel, krausen kragen, ntaueti,
getrauen, wau'n, auch: saut sähet (= sagt) (Firm. 2, 179 — 187). Ver-
einzelt findet es sich auch noch in der Magdeburger börde , z. b. niauen
magen (ÜUnitz, Firm. 1, 169).
10) elsässisch (Strassburg) mit als j erhaltener gutturale: dauje
tage, sauje sagen, schlauje schlagen, naujd nagel, gedrauje getragen,
hauj der hag , wauje der wagen , jauje jagen , oder mit schwund des g,
in welchem falle der a - laut mit dem längenzeichen versehen ist (als aÜ) :
lauer lager, tnauer mager, kraue kragen, mauemsLgen, däu tag, mäud
344
GBADL
magd, verMäiit verklagt; s. WeinK 1, 102. Prommann, deutsche mnnd-
arten 4, 258 fgg.
11) dänisch: fatir schön ({m fagr, altnor. /a^ar) , gnauding gei-
ziger (zu gnave, schwed. gnaga, r ödere) ^ mit Schwund des g; secandär
hervorgetauchtes g: laug gastmal (spr. lav)^ hange garten nebeu have.
Vgl. Grimm, deutsche gramm. l^ 560.
12) althochdeutsch: bäum (zu got. hagms gehalten) hat den
diphthong auf ähnliche weise entwickelt und zwar in ältester zeit, weil
andere alte dialecte auch einen dem ahd. au, ou entsprechenden diph-
thong haben (ags. heam, alts. hörn, altfries. häm). Noch fraglich ist,
ob auch
13) gotisch: bauan^ traiian (gegenüber altnord. byggva und got
triggvs, ahd. hCiwm, trüwen) schon als vocalisation eines g anzunehmen
sind. Ahd. glaiver und ähnliche zeigen wahrscheinlich nur ausfall eines
g, da das a kurz und einfach blieb (got. glaggvs),
c. nachfolgendes w wirkt den aw-laut aus a sehr oft und unter
ähnlichen Verhältnissen wie g.
14) gotisch geht av, wenn es in den auslaut oder vor einen
consonanten tritt, in au über, z. b. fiaus schiff (aus *wavfs), tot^'an
(stamm tav-)^ saml sonne (zu ags. segd, sejd) usw. Grinmi, gramm. 1*,
46. 47. Heyne, gramm. der altgerm. sprachstämme , Paderborn I, 1862,
s. 23.
15) altnorw. isl.: haust herbst (nach ausfall des r und vocali-
sation des V zu ahd. harvisf); neunorwegisch, neuisl. auch: haust.
16) althochdeutsch und zwar: auslautend mit auflösung des
w: tau der tau (gen. fawes), glau klug, frau froh, rau roh; inlautend
gewönlich mit evolution eines u z. b. frauwjan neben frawjan freuen.
Grimm l^ 100. Heyne 1, 34. 100.
17) altsächsisch (Verhältnisse wie im ahd.): hauwan neben
hawan hauen, glauwes (genit. , neben glawes, zu glau)^ thau sitte (gen.
thawes) usw. Grimm 1*, 207. Heyne 1, 109.
18) alt friesisch (selten): hauwan gehauen; bei den Ostfnesen
noch: auder, nauder aus ahwedder einer von beiden, nahwedder neque.
Heyne 1, 69.
19) mitteluiederländisch (Reinaert de vos): scaui4)en, blat^
tven, hauwen u. a. Das au schwankt in dieser zeit schon in ou über
und andere denkmäler (z. b. Maerlants sp. bist.) haben bereits ausschliess-
lich das letztere. Auslautend steht bei apokopiertem w immer au^ z. b.
dau tau. Vgl. Grimm 1», 491. 479.
20) neuniederländisch selten: dauw tau, henauwt ängsÜich,
raauw roh, kaauwen kauen, flaauw flau.
DBB Aü-LAÜT 345
21) neuhochdeutsche tau, flau, gaii, hauen u. a.
d. l nach a bildet in den verschiedensten dialecten a zu au um,
entweder unter schwund (auflösung, vocalisierung) oder durch
evolution bei erhaltener liquide.
22) schweizerisch (Argau): baud bald, waud wald, aut alt,
sauz salz. Weinh. 1, 52.
23) oberrheinisch^ (im vord. Bregenzerwald): waud, haud,
aut, sauz, spaute spalten und (mit erhaltener liquide): hauldo halten,
schmaidz schmalz. Weinh. 1, 52.
24) seh lesisch (Glogau): däthauve derenthalben, maukn, hauvn
halfen. Weinh., dial. 61 (1).
25) rhe in fränkisch (Aachen, Eupen): kauvkalb, aue alte, haue
halten, bau bald, vertault erzählt, gestaut gestellt, Jmuf halb, haus
hals. Firm. 1, 487- 495. 3,219 — 234. 1,494—500. 3,235—239.
26) westfälisch (Osnabrück, Tecklenburg; vgl. 7; dieser fall
jedoch in weiterer ausdehnung und zwar von Minden über Herford und
Lippe bis Bielefeld ins Eavensbergische) : kaidd, hatde bald, aule, hau-
Jen; praulen. Firm. 1, 239 — 282.
27) mittelniederländisch, einige au aus al, sonst in om über-
gehend, erhalten: caut kalt, autare altar. Grinmi 1^ 479.
28) neuniederländisch (Schriftsprache), vgl. 27, aber äusserst
selten gegenüber ou; nur noch in: autaar, neben altaar. Grimm 1*,
532. Dagegen häufiger im
29) vlämischen und limburgischen (z. b. Turnhout, Maaseyck,
Sittard, Mastricht): 'auwen hauwen halten, auers altern, aud alt, haus
hals, snmut schmalz. Firm. 3, 680. 681. 701—706.
30) altfriesisch (westliche gegenden): saut salz, haut hält.
Heyne 1, 71.
31) niederrheinisch (nördlich Berg) : Jmulen, atde.kauld, wau-
len walten, wault gewalt, faulen falten. Firm. 1, 413 — 442.
e. die nasale m, n, ü brechen, wie fast alle andern vokale, so
auch das a oft zu diphthongen; in einigen fällen erfolgt zu-
gleich auflösung des nasals. Beispiele für solches au (meist
aü oder äu)i
32) schweizerisch (vereinzelt): at^er andere, gauz ganz, gaus
gans (Luzerner gäu), häuf hanf, hauset hanfsame (d. i. hanf-saat) (Ber-
ner Oberland), mautel mantel, sauft sanft, waud wand. Weinh. 1, 52.
Stalder idiot. 1, 432. 2, 26 und öfter.
1) So nenne ich kürzer das sog. ,, alemannische im engem sinne" oder den
öbergangsdiaJect zwischen schweizerisch und schwäbisch (in Vorarlberg , Schaffhausen,
Basel, Breisgau).
346 GRADL
33) oberrheinisch (äusserer Bregenzerwald): gaiAB, cm der ^
anders, g'staudo gestanden. Vonbun, sagen Vorarlbergs, 132. Firm. 2,
666 fgg.
34) elsässisch (Kochersberg): taunze tanzen.
35) bajo arisch u. zw. (Ultententhal in Tirol) ; /atTfalme, Merau
Meran, Schöpf in Frommann 3, 92; (Ritschein-, Hz- und Feistritzbo-
den, östl. Steiermark): aun an, Jcaun, faun, haun, grämt hager, maui^
gspaun gespann, Firm. 2, 747 — 771. Weinhold 2, 77; (um Brunn):
haund band , schlaunge schlänge. Frommann 6 , 521 , 5.
36) thüringisch (Tullifeld - Salzungen) : Uaung klang, saung
sang, Brückner in Fromm. 2, 220 fg. (In diesen fällen wird jedoch
au = u anzusetzen sein, da in den doi*tigen gegenden, besonders nord-
wärts, diese prät. mit assimilation des Singulars an den plural Jdung,
sung lauten).
37) siebenbürgisch (Mediasch): aunder, Jcaun, paunjser, laund,
geraunt gerannt. Vgl. nr. 3.
38) niederrheinisch (nördlich Berg) : waunies wamms, kraump
krampf, laund, haund, kaunen kanten. Firm. 1, 413 — 442.
au steht für e wahrscheinlich zumeist durch Vermittlung eines
früheren aus e entstandenen a, und zwar vor l und r.
39) siebenbürgisch (Zeiden): zauren zerren, aurger ärger,
haurhrig herberge, gefault gefällt, staul stelle; (Hanebach) erzautt
erzählt, gestauU gestellt (wo aber auch anderswo rückumlaut eintrat).
Schuller 55. 63. 67.
40) niederrheinisch (nördlich Berg): vertauU erzählen, hesiauU
bestellt. Firm. a. a. o.
au steht für S unter denselben Voraussetzungen wie für e, auch
vor l und r.
41) siebenbürgisch (Zeiden): schaul schelle, saulwend selbst,
faur fern, gaurn gern; (Rosenau): haurz herz. Schuller a. a. o. und 65.
au steht für i vermutlich blos nach äusseren momenten
vor w ( — fälle unter iu gehörig. — )
42) lothringisch (Forbacb, S. Avold) g" sehr au geschrien (zu
einem geschriwen, geschriuwen neben regelmässigem geschrirn); Firm. 2,
551 - 555.
43) südhessisch (Dillenburg, Hadamar, Nidda, Salzhausen usf.):
naut nichts (vgl. numiht, niuwiht und mhd. (nebenform) niMty wovon
auch süddeutsches, z. b. schwäbisches nuits stamt.)
44) schwäbisch (zwischen Hier und Lech): g'schrauö geschrieen
(hieher wol auch gWauö gereut); älter schon g^sehrauo (s. bei Fromm. 4,
112, 66: gschraühd).
DER AÜ-LAUT 347
au steht für o meist unter ähnlichen Verhältnissen wie au
für a, und zwar:
a. ohne weitere consonantenbedingung.
45) gotisch; in fremdwörtern setzt Ulfila für deren kurzes o immer
au, nach Grimms bezeichnung aü (d. h. au), wol ein dem o lautlich
ähnlicher laut: apaustaulus, Faurtunatus, Naubaimhair, aipistaule.
Grimm 1«, 46 fg. Heyne 1, 21.
46) alt. alemannisch (vereinzelt in hss.): brutegavm Barlaam
A. 90, 9. 13; lachen (1477) Mone', ztschr. 8, 250, s. Weinh. 1, 52.
47) alt. elsässisch (auch vereinzelt): tauben. Keller, erz. 619,
12, vgl. Weinh. 1, 102.
48) bajoarisch (um Brunn): hautschaft, gauscKn (erschlossen
aus gäuschal = mundlein). Fromm. 6, 521, 11. 3.
49) schlesisch (im Niederlande): saul soll, saule sohle, vaul
voll, kaule kohle, gestauln gestohlen, waunte wohnte, vaur vor, waurt
wort, laub lob, häuf hof, vaugol vogel, rauh rock, lauch loch, laude
lode, gaut gott, scMauss schloss, hausn hosen. Weinh., dial. 61.
50) hessisch (vereinzelt), z. b. Tcartaufdn, (Schwalm, Firm. 2,
112 — 117).
51) rheinisch (Aachen, Düren): aufren opfern, kau^he kochen,
sau soll, traug der trog, wauf wolf, lauch loch, dauch, nauch, gebrauche
zerbrochen, knauche, sprawc/je gesprochen, stau ff stoff; (Eupen): aus
ochse; (Siebengebirge): traugh, blauch bloch, gerauchen, gekrauchen.
Vgl. Firm. 1, 487 — 495. 3, 219—234. 1, 478 — 484. 1, 494 — 500
und 3, 235—239.
52) nieder sächsisch (gegend wie in 6) z. b. (Zetel in Olden-
burg): kaümen kommen, ve'lauren verloren, upsghaufen aufgeschossen;
(Deutschkrone): kauka kochen; (Konitz): kauft kübel (wol zu kober).
Firm. 3, 636 fgg.
53) westfälisch (bezirk wie in 26, dann noch ober Büren, Bri-
lon, Medebach): nau noch.
b. vor g (vgl. vorher).
54) thüringisch (Erfurt): faud vogel. Firm. a. a. o.
c. vor l.
55) schweizerisch (Appenzell inner Rhoden): cAatrf kohl, waul
wol. Tobler, appenz. Sprachschatz XXXni. Firm. 2, 657 fg.
56) siebenbürgisch (Hermannstädter umg., Zeiden): saui soll,
wault wollte. Schuller 8 — 20. 28 — 32. 34 — 41. 45 — 61. 63 — 65.
57) westfränkisch (Mittelmain): haut hohl, katd'n kohle.
Schmeller, gr. § 317.
348 OBADL
58) üiederrheinisch (nördlich Berg): waul wollte, saui sollte,
hault holz , datdd geduld. Firm. a. a. o.
50) vlä misch (Brabant) z. b. (Hoegarden): wau' wollte, (Turn-
hout): sau soll, gaud gold usw.
60) dänisch: stault stolz führt Grimm 1^ 561 an.
d. vor nasalen.
61) oberrheinisch (innerer Bregenzerwald) : haung homg. Finn.
2, 666 fg.
62) bajoarisch (östl. Steiermark, wie 35): davau davon, waune
wohnen.
63) nie der rheinisch (nördl. Berg): kau konte.
e. vor r.
64) gotisch (vgl. 45 und 67): haurd, daurö tor, faura vor,
haurn, saurga^ vaurd, thaurnus dorn, maurgins, haurans, vaurpans,
baurgans, usw. (Aussprache wie 45). Grimm a. a. o.
65) bajoarisch (Lavant Kärnthen) daur ionner (durch auflösang
des n sagt Weinh. 2, 77). Lexer XIL
66) westfälisch (Medebach): auert ort, wauert wort, Firm. 1,
333; (Lippe): Jcatmi körn, Haurn Hörn (stadt). Firm. 1, 262 — 271.
Frommann 6, 49. 207. 351.
f. vor ch, h,
67) gotisch (s. 64): auhsns ochse, auhns ofen, dauktar, nauh,
pauh, (und auflö oft, bezüglich welchen wertes Wechsel zwischen ch und
f zu vergleichen ist, der oben auch in atihns vorkomt gegenüber ahd.
ofan). Grimm a. a. o.
68) niederrheinisch (nördl. Berg) mit auflösung (oder ab&U?)
des ch: sauten suchten (mhd. suocMcn, aber westf., rhein. sockten mit ö).
69) rheinisch (Gladbach): maute mochten (aus 68 eingedrungen),
au steht für u wol durch Vermittlung eines vor der diphthon-
gisierung anzusetzenden o.
a. ohne weitere consonantenbedingung , selten:
70) alt. alemannisch: wawe#i^ mugent, weist. 1,239. Weinh. 1, 52.
71). westfälisch: spauk der spuk (Celle; Möhnethal), und
72) niedersächsisch: spauk (westl. Mecklenburg). Galt für
71. 72 vielleicht eine grundform s})uok? s. au == iw).
b. vor nasalen:
73) schwäbisch und zwar älter (zwei lieder in oberschwäbischer
mundart in Frommann 4, 86 — 114, v. j. 1633): aunsaüig, aunkhejft
(tingehcit, ungeschoren), daiinkd^ gwauncka gewunken, trauncka getrun-
ken, aunhsonna unbesonnen, aunrecJd; gegenwärtig: au 5 uns, au^ Vor-
silbe un-, z. b. aussei, Weinh. 1, 85.
DEB AU -LAUT ' 349
74) elsSssisch (Kochersberg): g'saund, raund, staund stunde,
nunser unser, haundert, Arnold pfingstmontag, Weinh. 1, 102.
75) sieben bürg] seh (Zeiden): aunder unter, waungd wund.
Schuller a. a. o.
7G) thüringisch (TuUifeld, Salzungen): straumpf, traumpf;
(jraiind; jaung, Brückner in Fromm. 2, 220. 326.
77) rheinisch (Eupen): saundag sonniAg, ntaunter, verschwaunde,
mCder unter, haund, maund, waunder, raund, gebaunde, faunde gefun-
den. Firm. a. a. o.
c. vor r:
78) gotisch (vgl. 45. 64. 67): haurgs, vaurms, vaurts, vaur-
imm warfen, vaurpum wurden.
79) westfälisch (vereinzelt) z. b. ^aterwturra (Steinhagen, Firm. 1,
282. 283).
d. vor (Ji:
80) gotisch (vgl. 78. 67. 64. 45. 107. 145): fatiM, sauhts, tau-
hum zogen, plauhum flohen, usw.
an steht für ü (ü = u, o).
a. vor v:
, 81) friesisch (Sylt); aur über (pld. over).
au steht für ft und zwar:
a. ohne weitere consonantenbedingung:
82) alt. alemannisch, ziemlich häufig in handschriften, z. b.
niaug Schwab. B. 52; mavtzoge Freid. A. 49, 17; nmvzlichiu Nib. J.
1951, 1; lauge Klage J. 80; mmd, gedaun, haun, ivaurum, staut, hau-
ten, ungaus, gelaussen, sprauchent Grieshab. pred. 1, 83fgg. ; pred.
bei Wackern. XXVn, XXIX — yXXII, XLIII, LXX; voc. opi; Schweiz.
Chroniken usw. „Namentlich die nördlichen alemann, landschaften lieb-
ten im 14. 15. Jahrhundert dieses au für a" Weinh. 1, 52; neuale-
mannisch (innerer Bregenzerwald): gati gehen, lau lassen, m<ml,
jau, dan, schlmifo. Firm. a. a. o.
83) alt. schwäbisch; hier sehr verbreiteter, man könte behaup-
ten, mit characteristischer diphthong, in den verschiedenen handschrif-
ten z. b. : nauch, haut, gnaud, jnur, wauren, gedaucht, gaut geht,
brauchte brachte, pauhst, claur, waur usw.
neuschwäbisch (südostlich, nanientlich im ülmischen und Augs-
burgischen): duu getan, Äau" haben, latC lassen; stratä, maulo malen;
jauer jähr, auhod abend, blauso blasen usw. s. Weinh. 1, 85. Schmel-
1er § 113.
84) alt. elsässisch, selten; Weinh. 1, 102 führt an: waticA
Dancrotsh. namensb 109, brauchmonat 115.
ZF.IT8CHR. P. DBUTSCHB PHILOLOOIK. 111). III. , 23
350 ORADL
85) alt. bajo arisch, z. b. Megenberg (herausgeg. v. Pfeiffer):
autem, autemt, fravzz, gelatizzen, „wahrscheinlich durch schwäbisdie
haud veranlasst." Weinh. 2, 76. 77; Seifr. Helbling (herausg. in Haapts
zeitschr. 4): slaiif (I, G83), milchraiimh (I, 1055); Klara Hätzleiin:
gaund sie gehen, claur; pratichnion brachmond cod. germ. monac. usw.
86) altfriesisch: aubcr (mhi. aber) Heyne 1, 69. (6 « u?? und
vielleicht unter 105 zu stellen?)
neufriesisch (Wangeroge): kaumen (kamen). Firm. 3, 8 — 11.
87) siebenbürgisch (Hanebach bei Hermannstadt): jow, plaug
plage, gaiir jähr, dau, yiaiC nach, gaiiio gäbe, Schuller 67 fg.
88) schlesisch (Niederland): dau, tvau, mau' mohn, ittati/,
säum same, naunde nahe, jaur^ a^ibond, schauf, nauch, gebratWn, ausi
aas, Weinh., dial. 61; (Zips): dau, straufn, Fiim. 2, 811.
89) pfälzisch (Odenwald): haun haben.
90) nieder sächsisch (ebd., wo «w = a und o, s. 6. 62) z. b.
(Zetel in Oldenburg): aubend, lauten, jau, drau schnell (mhd. dräte\
strautc; — (Schlochauer kreis): auwend, maul, laute. Firm. 1, 118; —
(Zempelburg) : fiaube nach bar, spatit spät, tvau, maul, jauejdhTj binauh,
raud, schaup, braude braten, nau nach, hau haar, laute lassen; —
(Deutschkrone): daue da,yaMc jähr, gaun gehen.
91) westfälisch (von Tecklenburg über Osnabrück bis Minden
und Lippe): jau, nau nach, ma^^mass, auwens abends, waUy fraugen,
daun getan, gaun gehen, kwnud schlecht, straute, schaup, nauber nach-
bar, laufen, matd, staun, plaugen; — (vereinzelt) z. b. fraugde (neben
fraug fragte) (Grubenh. = Göttingen), bau wo (Volkmarsen), dau (Her-
stelle), aune (waldeckisches Upland) usw.
92) neuniederländisch (mundart von ZwoUe): staun, gaunj
edaun getan, laugen fallstricke (mhd. läge), Icwaud schlecht. Firm. 6,
749 — 750.
93) vlämisch (Katsberg, franz. Flandern): slaun schlagen. Firm.
a. a. 0.
b. vor den nasalen:
94) oberrheinisch (Bregenzerwald, äusserer): gau'^, hau, simf
(vgl. 82).
95) schwäbisch (Oberschwaben): gau"^, lau, stau'^y hau haben,
tatf getan, maunod, Weinh. 1, 85. (vgl. 79).
96) bajoarisch (östl. Steiermark): auni ohne, tau'^ getan, matf
mond, spau span. Firm. a. a. o.
c. vor w (modalitäten wie bei aw):
97) althochdeutsch (auslautend): IMu, grau (später Udo, Ida),
DEa AÜ-LAÜl^ 351
98) neuhochdeutsch: blau, grau, pfau, braue, Maue usw.;
ebenso
99) dialectdeutsch (wenige gegenden, woblo, pfo usw. steht):
grau, blau, pfau (faube) u. a.
100) altsächsisch, wie althochdeutsch, und daher im
101) niedersächsischen und
102) westfälischen: blau, grau (einzelne gegenden in 101 und
102 wider ausgenommen), sowie im
103) niederländischen: blaauw, graauw (hier mit widervor-
tritt des w) und
104) vtäraischen (ebenso): blaeuw, graeuw (ae = nnl. ad),
105) altfriesisch: nauwet 7iaut (aus nat<7e^ nichts), blauw (neben
bläiv), Heyne 1, 69.
au steht für 1, fast unerklärlich, wenn nicht vocalisation des
nach ihm stehenden consonanten zu u angenommen werden
darf (dann behandelt wie iu, s. d.).
a. vor g:
IOC) siebenbürgisch (Hanebach) : laue liegen Qi-g-en , * liu-en,
laue). Schuller a. a. o.
au steht for ö (secundär oder primär),
a. ohne besondere consonantenbedingung :
107) gotisch (primär): laun lohn, hlauts loos, skauts schoos,
stautan, daups tot, naups not, laus, raus röhr, ausö ohr usw. Grimm
1*, 46 fg. Heyne 1, 23 usw. (Aussprache wie unter 45).
108) altnorwegisch-isländisch (primär): baun bohne, laun,
6raw^ brot, gaut goss, stauta, tmutr genösse, raudr rot, kaus erkor
u. a. Grimm 1*, 293. Heyne 1, 80. Dietrich, altn. leseb. 199. (Über
die ausspräche des altn. au vgl. Grimm a. a. o. gegen Kask anvisning
tili Islandskan § 28. 68).
109) altgotländisch: laun, scaut sGhoos , daupr u.a. Heyne 1,
85. Dietrich 83. 84.
110) neunorwegisch: laus, Uaut bloss u. a. Grimm 1*, 570.
Aasen ordbog over det norske folkesprog.
111) neuisländisch: laun, laus usw.
112) neu friesisch (Wangeroge): fraudh fröhlich. Firm. a. a. o.
113) westfä lisch (allgemein, ausgenommen teile von Grubenhagen,
und Göttingen und Paderborn, die Mark, Hellweg, die Soester gegend,
Arnsberg, Attendorn, Olpe, vgl. ä, äu, ou, eau, iau für o; noch nicht
regelmässig oder ausschliesslich steht es in dem striche von der Magde-
burger börde an bis Celle und ins Ealenbergische, jenseits des obigen
23*
352 ORADL
gebietes in Rheina, Münsterland und Dortmund); z. b. : laun, haane,
sau, frau, kaul, sghmif ^choh, raitd, daud, naud, graut, flaut floss,
austern, laug log, hauch usw.
114) niedersächsisch (Natangen): sati, graut, braud Firm. 1,
108; (hinterporamerisch) : Hausier, graut, laug ich log, gau$ gans (pld.
gas); (Segeberg, Oldeslohe): rausc, graut. Firm. 1, 45. 46.
115) niederrheinisch (nördl. Berg, einzeln) z.h. Katibes Jdkoh,
116) pfälzisch (Odenwald): sau, raut, braut.
117) ostfränkisch (Schwarzach, Oberangel): flau, braud, flaus
das floss, hauch, Jdauster. Schmeller § 330. Petters bemerkungen über
deutsche dialectforschung in Böhmen (Prag 18G2), s. 70. 71.
118) schlesisch (Niederland): frau, sau, naut, blauss, grauss,
laus, rause. Weinh. dial. 61; (Zips): raud u. a.
liy) bajo arisch; älter: trausten. Seifr. Helbling (herausgeg. in
Haupts ztschr. 4) I, 704; chaiir kor. Passauer notizbl. Weinh. 2, 77;
(westl. Ober Österreich) : raus'n, raut usw. Höfer, volksspr. 91.
120) schwäbisch; älter: braut Mone j. Tit. 824, hiJ flaus Kei-
sersb. prd. (a. druck v. 1508) 105, isatich Sleigertüchl. in Meister Alt-
swert (Holland, Keller), Weinh. 1, 85; gegenwärtig allgemein: naut,
rata, taut, grauss, hlaus, frau' , braud , hauch, laus, Maust^^r, haueich
hochzeit usw.
121) oberrheinisch (Bregenzerwald): sau,
122) jüdischdeutsch: graus, hauch, taut u. a.
au steht für il nach secundärer diphthongisierung und zwar
ohne weitere consonantenbedingung allgemein im
123) neuhochdeutschen: faid, räum, zäun, mauer, san,
maus, rauschen, taube, stäupe, auf, staude, nmuth, maussen, saugen,
pauke , Strauch.
124) bajo arisch; au für ü ist ein specifisch bajoarischer diphthong
und seit dem 13. Jahrhundert allmählich sowol ins schrittdeutsche als ins
südliche mitteldeutsche eingedrungen; im bajoarischen herscht es, abge-
sehen von einigen bcschränkungen, allgemein. Beispiele wie oben.
125) mitteldeutsch und zwar: im pfUlzischen, an der Mosel
und in der westlichen Eifel, im südhessischen, südthüringischen, im ober-
sächsischen und schlesischen , im ostfränkischen und westfränkischen , am
Oberharz und in der grafschaft Mansfeld, im ermeländischen (gegend
um Wormditt; im siebenbürgischen vereinzelt (z. b. Schässburg). In
vielen der angeführten mundarten wird es (besonders vor liquiden) teil-
weise beschränkt (z. b. durch a), andere mundarten mitten in solchen
mit ati haben manchmal eigene laute, vgl. Oberangel ß fiir m, althenne-
bergisch ou usw.
DER AU -LAUT 353
In den nieder- und norddeutschen dialecten sowie im alemanni-
schen findet sich au = ü nur selten und da entweder im auslaute oder
in lelmworten des neuhochdeutschen, z. b.
126) dänisch: pauke, traurig, sniaus, Grimm l^ 561.
127) friesisch (Wangeroge) aut aus, aujj. Firm. a. a. o. ; (Hel-
goland): vertraut
128) neuniederländisch (Vriezenveen) : trauwen kopulieren.
Firm. a. a. o.
129) vlämisch (Tongern): aut^ haus; (Löwen): gebaut; (Ant-
werpen): getraut. Firm. a. a. o.
130) schweizerisch (Appenzell): bau, bauu, sau, traua, Tob-
1er, appenz. Sprachschatz XXX, 37. Weinh. 1, 51.
au steht für lu vereinzelt in ganz Deutschland, meistens
a. ohne weitere consonantenbedingung:
131) neu niederländisch (Vriezenveen): rauwen reuen.
132) vlämisch (Brabant, Tongern, Turnhout): au auwe euer,
nauwG neu. Firm. a. a. o.
133) westfälisch (seltener): aue euer (Attendorn).
134) niederrheinisch (Meurs): aue euer, au euch.
135) siebenbürgisch; graul greuel (Hanebach).
136) luxemburgisch: haut heute.
137) pfälzisch: haut, sprau spreu, fauer, auch euch.
138) südhessisch: hau,t, nau, fauer, saul schusterahle (ahd.
siula), auch, auer,
139) westfränkiöch (Spessart): nau, raus reuen, hauer heuer,
fauer. Schmeller § 248.
140) nordhessisch (Schwalm, Schlitz): au euch, auwer euer,
)iauwc neu.
141) ober sächsisch (Pegauer au, Leipziger gegend, Meissen,
Alteuburg): 7iau, natdich, auer, auch. Firm. 2, 239 fgg.
142) cimbrisch: faur feuer, laut leute, tautsch, tauvd, cimbr.
wörterb. 120. 142. 177 und
bairisch: raut. Schmeller 3, 158.
au steht für ie, nur äusserlich hergehörig, da die herhörenden
fälle sich auf iu oder auch auf o beziehen lassen, wie
143) westfälisch: loau wie Qiweo) (Osnabrücker gegend) und
144) südhessisch (Höchst — Hofheim): fau^r vier.
an steht für au, ou, alter laut, und zwar
a. ohne weitere consonantenbedingung:
354 GRADL
145) gotisch: migo, daubs taub, ravbon rauben, haubip hanpt^
galaubjan glauben, lauhs, auk, hlatqmn laufen, daupjan taufen, raup-
jan raufen. Grimm 1^ 46. Heyne 1, 23.
146) altnorweg.-isländisch: daufr, lauf, auga, a%ik, laukr
lauch, Idaupa laufen, liaufud haupt, kaupa kaufen. Qrimin 1*, 293.
Heyne 1, 80. Dietrich 199.
147) altgotländisch: daufr, caiipa, laupa^ daupi usw. Heyne
1, 85.
148) neunorwegisch: äuge usw. Grimm 1", 570.
149) neuisländisch: gaukr kukuk, kaupa kaufen usw.
150) schwäbisch (ausgenommen die Bar): baum^ taub, laufe
laufen, raufo raufen, au' auch usw. Schmeller § 172.
151) westfälisch (von der Magdeburger börde über Braunschweig,
Südhannover, Engem, Waldeck, Osnabrück, Lippe, Bavensberg, einer-
seits bis Kheina, Münster, Dortmund, andrerseits bis Büren, Brilon,
Medebach), z. b.: auk, laupen, to haupe (zusammen = zu häufe), äuge,
glauwe^i, kaupen, raupen, bäum usw.
152) neufriesisch (äusserst selten), z. b. : haud haupt (Sylt).
(Oder ist dieses Firmenichische au als au zu lesen?)
153) neuniederländisch (in einzelnen mundarten statt des son-
stigen ou) z. b.: vrauw frau, mauwe ermel (Vriezenveen). . Firm. 3,
750 — 753.
154) vlämisch (wie 153) (vereinzelt) z. b. (Mastricht): auch,
tauiv tau strick, (Geertsbergen) : tiauwclaks knapp kaum (genau).
h. \0Y m, b, f, g, ch und auslautend (vor den übrigen consonan-
ten, nämlich vor h, s, r, d, t,ß, ?*, entspricht hier älteres o
aus au),
155) althochdeutsch (s. allg. zu au): bäum, laub, raubon,
tauf Jan, baug, zaubarön, traum^ laufan, haubct usw.
156) elsässisch: laiif kauf, au' usw. Fromm. 5, 111 fgg.
157) bajoarisch, meist nur auslautend, sonst gegen a weichend
(oder im cimbrischen gegen o). Beispiele: g^iau, raub'm, augh u. a.
158) mitteldeutsch, wie 157 neben a, das in einzelnen mund-
arten (wie pMzisch, südhessisch, obersächsisch) fast ausschliesslich
herscht, in anderen (wie im ost- und westfränkischen usw.) überwiegend
ist. Gegenüber dem au = ü hat au = au, ou ein grösseres gebiet (in
welchem es freilich nicht überall glciclien bereich über die lautfälle hat)
und reicht noch über Lothringen , Rheinfranken , den Westerwald , Nord-
hessen. Beispiele unnötig.
DER AU -LAUT 355
au steht für afl — abneigung gegen umlaut äu , somit eigent-
lich unter au zu stellen — ohne ersichtliche consonanten-
bedingung; immer nur vereinzelt.
159) thüringisch (Nordhausen, grafsch. Hohenstein): hau heu.
160) siebenbürgisch (Hanebach): fraudje freude.
161) niedersächsisch (Bremen): frauen freuen, und sonst einzeln.
162) neufriesisch (Wangeroge): prauwen drohen, unverdaudk
unverdaulich, frauden freuden.
au steht für uo, meistenteils durch metathese, und zwar ohne
besondere consonanzbedingung.
163) westfälisch, regelmässiger laut (vgl. daneben äu, ou, tau,
CO usw. in einzelnen gegenden , s. meinen aufsatz in Kuhns ztschr. XVIII,
271. 272), Wöste in Fromm. 3, 560, 2. 4, 140, 11. Hoffmann ebd. 5,
15, 29. 36. Müller ebd. 2, 131. 132 und Firmenich. Beispiele: gaud,
blaud, niauder, tau zu, maut muss, bauJc, dauJc, faut, haun, staul,
faur, grauf u. a.
164) rheinisch (Aachen); AawA, gaud^ zau, staul. Kuhn XVIII,
272. 273. Vereinzelt noch an einigen punkten , z.h.zau (Siebengebirge),
tau (Gladbach) usw.
165) südhessisch (gegen sonstiges ou, in Höchst = Hochheim) :
gaut, hauche kuchen, tauch.
166) siebenbürgisch (um Hermannstadt, in Zeiden, Eosenau,
imNösnerlande): mauss, gaud, grauwgTXxh, flaudfLut, zau, nau, Uaud,
häuf hübe, faur fuhr, dauch, drauch trug usw. Kuhn XVIH, 273.
Schuller a. a. o.
167) ostfränkisch (Böhmerwald): hau' bube, kaucVn kuchen.
(Sonst in Ostfranken ou). Vgl. meinen aufsatz in Kuhns ztschr. a. a. o.
168) niedersächsisch in bestimten gegenden, z. b. (Natungen):
schau' schuh; (Flatower und Schlochauer kreis, Zempelburg, Konitz):
tau, maus mus brei, daun tun, gaud, dauk, kau; (hinterpommerisch) :
hlatid, dank, fauder, gaud, haun, kau' kuh, statd, tau, faur, schlaug;
(ostholsteinisch, in Segeberg, Oldesloe, nördlich amt Trittau und nörd-
lich Lauenburg): faut, daun, gaud, tau; (Westschwerin): faut, daun,
schau, unfraudig unachtsam (ahd. unvru^t unklug), hlaud, raupen,
gaud, Mauk klug, schaute, dauk; ausserdem noch in den Umgegenden
der Magdeburger börde (z. b. Leitzkau: daun, schau, im Drömling ver-
einzeltes: tau) usw.
169) thüringisch (Erfurt): gaut.
170) schwäbisch: auchtwaide, auckten (vgl. ahd. uohta; „für
aus uo entstelltes m" Schmid 31. Weinh. 1, 85.
356 F. W(£ST£
171) neu friesisch (Wangoroge, an oder äu?): slaugen schlu-
gen, lauk schauen, hlauked blickte (wol bilauked und zum vorigen?),
vergfuimjd vergnügt, kraug wirtsliaus, ärniaup armut
EGER. H. GBADLi.
BEITRÄGE AUS DEM NIEDERDEUTSCHEN.
Ags. boh oder b6h?
Grimm gr. 3^ s. 399 fragt: „bough ramus j ags. höh oder boh?*''' —
Antwort: boh, wie genoh {etwugh). Das wort ist auch mittelwestfälisch.
Bei Fahne Dortm. IV s. 299 steht: van Joh. Berswort var eyn voder
beughe de van dcme iymerholt Jcomcn tveren. Beughc d. i. baüge, baige
ist pku'. von baug oder boug ast, zweig, welches sich lautrecht aus älte-
rem biiog, bog entwickelte.
Mnd. Arn.
Vorstehendos wort findet sich, wie mir herr dr. Schiller mitteilt,
in Lüb. Z. E. 440 (Wehrmann): hcbbcn de mcstbcrcdcrs behof arne to
rekende edder orde to seharpende, d. i. haben die messerbereiter (mittel-
westf. nwssed, messor) nötig, erle zu recken oder schneiden zu schärfen.
Als gewerblicher ausdruck für den teil eines degens, messers, einer
feile u. dergl., der (zuweilen spiessförmig) in die handhabe eingelassen
wird, oder auch einfach dieselbe bildet, gilt bei unsern schmieden und
kaufleuten erl oder ärl, m. (vgl. mhd. arl). Dieses crl stattet mnd.
am, vermutlich entstanden aus altnioderd. araw, welches nicht allein
ährenförmig, sondern auch spiessförmig bedeutet haben wird; vgl. ags.
areve, engl, arrow. Auslautendes h oder lo geht nicht selten in n über,
Beispiele: hoU. schoen (ahd. scuoh), südwestf. täne = fewe (ahd. zeha)^
aachener bineti (ahd. bahjun), südwestf. ärn = närn (ahd. narwa)^ vgl.
jedoch für cini das helgol. are^it (mda. lll, 29) und schwed. ärr. Mög-
lich ist auch ein Wechsel von l und n [arl == am) ; vgl. klüggen : Müg-
gclf räden : rädd.
Nd. Kobbo.
Was der gemeine mann in Andalusien (s. Caballero cuentos p. 41)
von kröten und schlangen glaubt, das erzählen sich auf ähnliche weise
kinder in Südwestfalen von den spinnen, zumal den afterspinnen: 8e süget
den vergiß üt der lacht an inuket sc gcsi'indcr. Diese volksmeiuung
dürfte von hohem alter und schon mit den Sachsen nach Britannien
gewandert sein. Sie wirft licht auf das ags. attorcoppa (aranca) und
weiter auf südwestf. kobbe, f. (spinne), so wie auf kobbe (mewe) in den
. BBITBAQE AUS DSM MIEDE&DEUTSCHEN 357
seegegenden Norddeutschlands. Mit engl, cob (spinne), cobweb (westf.
kobbwebbe), cob (mewe) mag es sich dann ebenso verhalten.
Wie ags. doppa (mergus) auf deöpaUj so fuhrt coppa auf ceöpan,
von welchem cojyan abstamt, dem die bedeutung „an sich nehmen,
zusammen bringen" beizulegen ist. Attorcoppa ist somit, der obigen
kinderüberlieferung entsprechend , giftnehmer, giftsamler. In West*-
falen wird etterkoppa oder edderkcbba einst ebenso gegolten haben und
seines bestimwortes dann entkleidet sein, als dieses (heute: etter, edder,
bei Büren atter = eiter) die hedeutung gift eingebusst hatte. Lag in
einem altniederd. und ags. coppa oder kobba ursprünglich der etymol.
sinn von accipiter, so war die Verwendung des einfachen wertes für eine
mewenart sehr passend.
Weder die Verschiedenheit des genus und der declination, noch
das bb können hier etwas verschlagen. Genus - und declinationsabschwä-
chungen sind gerade im nd., andern dialecten gegenüber, nicht selten.
Man denke z. b. an unsere räwe, f. (rabe), swäne, f. (schwan). Was
aber das bb betrifft, so bleibt die wähl, es aus früherer lautstufe beibe-
halten, oder aus pp erweicht zu denken. So steht schoppen (schuppen)
neben schobben (Iserlohn), schrappen neben schrabben, schruppen neben
schrubben. So hängen drabbe (bodensatz) , krabbe mit driupan und kriu-
pan oder vielmehr mit den diesen vorhergegangenen dripan und kripan
zusammen.
Krdt unde wyn.
Theoph. 1. (Hoffm.) 265: „hyr schenkenunj ju krüt unde wyn"
Krut ist hier wol nicht die symbolische herba bei ein wehrungen, viel-
mehr krüt unde wt/n nichts anderes, als wyn und krüt, d. h. wein und
gewürz (zimmt). Vgl. Seib. Qu. U, 280, 281: „item men plach VI
mal ^ allen letmaten der kercken wyn vnd kruyt to geven" Sollte im
Theoph. die symbolische herba bezeichnet werden, so würde der dichter
gewis nicht ^,wy schenken ju'' gesagt, er würde sich anders ausgedrückt
haben.
1) a« 1444; zu Gr. gr. UI s. 232.
T^Ie stftn mid.
Cläws Bür (Höfer) v. 30 : „ des stä ik vde mit ener ko/' Hier war
vele zu schreiben. Das gibt eine echt westfölische redensart für das
westfälische buch. Wir sagen heute : Bat wif stet ümmer med appdn
feie; et is de edle appdtidwe. Der bauer sagt also: Ich brauche ja nur
eine kuh feil zu bieten, um mir die mittel zu verschaffen, einmal satt
wein zu trinken.
358 F. WCESTE, BEITB. AUS D. NIEDEBDEÜT8CHSN
Lüter.
Theoph. 1. (Hoffm.) 686 soll die handschrift huter wort enihalteii,
was der herausgeber in hoter wort (büssoi-worte) geändert hat. Passt
das in den Zusammenhang? Es ist zu lesen oder zu bessern: lüier
wort. So las der Schreiber einer andern bearbeitung, und weil er das
lüter tvort misverstand, setzte er dafür „wäre rede"; vgL Theoph.
(Bruns) 203: „du lieft my wäre rede vorgesaghetJ^ Lüter bedeutete,
wie heute: bloss, nur: nun hast du mir lauter worte vorgelegt, wie
man sie ja den verzweifelnden (vorzulegeji) pflegt.
Likemere.
Sündenfall etc. (Schoenemann) s. 166: „Dessen rim schal fne spre^
ken tyghen ?lihemcreJ' Das ? wird überflüssig durch die bemerkiing:
likemere ist zusammengesetzt aus Uk (leib) und eniere (emmer^ feuerfanke).
Der reim Avard also etwa gegen rotlauf (sogen, rose) gesprochen.
Wllbred.
Wie man beim urkundeniesen zuweilen aus l eia h gemacht hat,
so ist auch wol b zum l geworden. Seih. urk. 11 s. 417 (van hruyilach-
ten): „Ot/c so en sal nummant mit willrede dinefi" Glossar: „Will'
rede^ gauklerworte." — Es ist zu lesen: mit wilhrede = mit wildbret
Brödd^gr.
Brem. geschichtsqu. (Lapponberg) s. 56: „de sulve her Ghert
hadde — neuen gheliken van enem hroddeghen ghehai hinnen hun-
dert iaren,^' Glossar: „hroddeghen n. 55 brüderchen." - „Van enem
hroddeghen" ist plumpe Übersetzung einer dem ital. „di medesima pasta**
entsprechenden phrase des lat. Originals.
ISERLOHN. F. WCESTE.
(Wird fortgesetzt)
Ph. Dietz, Wörterbuch zu Dr. Martin Luthers deutschen Schriften.
1. bd. A — F. Leipzig, Vogel, 1870. LXXXVII, 7f 2 s. n. SVe tblr.
Die zweite hälfte des laufenden Jahrhunderts stellt sich in der germanischen
Philologie unter anderm auch als die zeit der grossen Wörterbücher dar ; nm das jähr
1850 trat sowol das grosse mittelhochdeutsclio Wörterbuch ins leben wie das Grimm-
sche deutsche Wörterbuch, nicht viel später auch das grosse niederländische Wörter-
buch und das für uns noch wichtigere uiittelnicderländische , das leider seit der zwei-
ten lieferung stocken nmss, und auch der scandinavischo norden wie England wollen
in dieser bewcgung der gelehrten arbeit nicht zurückbleiben. Da wäre es denn
eigentlich an der zeit, dass man auch die art und webe, wie die neue aufgäbe aus-
zuführen ist, einer Untersuchung unterzöge, oder, um „wisBenschaftlieh** la reden.
mLDBBHAlO) , ÜBEB DIBTZ, LÜTHEBWÖBTEBBUCH 359
dass man die methode der neuen grossen lexicographie zur wissenschaftlichen dehatte
hrächte, um so mehr, als diese dehatte mehrfach in schwehende wichtige fragen der
gewaltig wachsenden Sprachwissenschaft selber unmittelbar einschlagen würde. Denn
neu ist die aufgahe wirklich , das bringt, auch abgesehen von den höher gesteckten
zielen, schon die masse mit sieh, die da zu bewältigen ist, und für diese wie vol-
lends für jene reicht der überlieferte rahmen der arbeit nicht mehr aus, wie er sich
in der lexicographie der vorigen Jahrhunderte ausgebildet hatte, und zwar bei aller
Selbständigkeit der einzelnen arbeiter mit einer gewissen einheitlichkeit , wesentlich
im anschluss an die lateinischen Wörterbücher, die im ganzen der schule zu dienen
hatten. Streng genommen hätte freilich diese Untersuchung des neuen Verfahrens der
inangrifEhahme der werke selber voraufgehen müssen ; aber das war bei der ungeahn-
ten grosse des Stoffes ¥ddcr nicht menschenmöglich, die rechte neue methode kann
sich nur aus dem stoffe selber herausarbeiten unter versuchen, fchlgriffen, umkehr
von eingeschlagenen wegen, die sich nachher als unrichtige herausstellen. Doch ist
hier nicht ort und zeit, darauf tiefer einzugehen^ so sehr mir als beteiligtem an der
erörterung gelegen ist; aber zu einer und der anderen daher gehörigen bemerkung
wird wol das folgende anlass geben.
Auch das Lutherwörterbuch von Dietz schlägt in die neue epoche der grossen
Wörterbücher ein; unsere litteratur hat noch nichts ähnliches, und wol keine andere
neuere litteratur, wie dieses Wörterbuch für einen einzelnen schriftsteiler, das in
einem starken bände von 800 seiten nur etwa ein kleines drittel des ganzen darstellt.
Dass gerade Luthem ein solches unternehmen zuerst zugewendet wird, kann man
im interesse der deutschen philologie , und dieser nicht allein , nur mit wahrer freude
sehen , um so mehr als die arbeit in der hauptsache durchaus den wirklichen Interes-
sen der forschung dienstbar ist , und zwar nicht der philologischen im engeren sinne
allein, die nach Luthers Deutsch fragt, von seiner Schreibweise und dem orthogra-
phischen gebrauch der druckereien angefangen bis hinauf in die syntax, sondern
ebenso der höher greifenden forschung, die etwa nach Luthers art sprachlich zu den-
ken fragt, nach der art und den quellen seiner bilder, nach seinem stil im höheren
sinne. Dabei ist das alles auch in seiner entwickelung leicht zu übersehen, da die
arbeit in der hauptsache auf den erreichbaren ersten quellen fusst, d. h. auf den
ursprünglichen und echten einzeldrucken mit steter anführung des druckjahres, manch-
mal selbst auf Luthers handschrift, doch so dass auch die verschiedenen gesamt-
ausgaben, wie spätere einzeldrucke und selbst nachdrucke zugezogen werden.^ Noch
für keinen Schriftsteller ist, wie hier für einen der bedeutendsten aller Zeiten, die
möglichkeit geboten, mit leichter mühe in die rüstkammer seines geistes zu blicken,
wie seine spräche sie darstellt. Wie sehr könte man z. b. für Goethe ein ähnliches
buch wünschen, das dem lernenden wie dem forscher beim eindringen in die wege
und gründe seines denkens zur band gienge; es brauchte zunächst nichts zu tun als
seine stichworte und lieblingswendungen geschichtlich genau zu verfolgen und mit
belegstellen zu verzeichnen, so wäre schon ein Schlüssel gewonnen, der den grossen,
wunderbar tiefen und klaren hintergrund seiner oft scheinbar schlichten rede leicht
erschlösse, und so die gewaltige geistesschöpfung dieses einzigen mannes erst wirk-
lich der zeit und zukunft so nutzbar machte, wie sie es einmal werden muss früher
oder später. Das wäre so zu sagen eine innere lexicographie, während die heutige
1) Ein dem yor werte angehängtes qaellenverzeichnis führt auf mehr als 00 Seiten
unter mehr als 300 nnmmem die quellendmcke, vom jähre 1516 angefangen, auf, mit
genauer bibliographischer bescbreibung.
360 UILOEBRAin)
doch noch zu sehr beim äussern der spräche sich aufhält^ wie freilich im allgemei-
nen die Sprachforschung überhaupt noch.
Docli zu unserm Lutherwörterbuch zurück. Der gedanke dazu ist dem verfas-
ser durch das Grimmsche Wörterbuch gekommen, d. h. durch das was dieses für
Luther zu wünschen übrig Hess. Er fand die belege dort , ,,wie es auch kaum anders
sein konte , fast ausschliesslich einer späteren , nicht bloss sprachlich unzuverlässigen,
sondern auch unvollständigen gesamtausgabe von Luthers werken entnommen (der
Jenaischen), woher es gekommen, dass eine ganze reihe von Wörtern, die doch
zum teil widerholt bei Luther begegnen, teils der belege aus Luthers Schriften ent-
behrt, teils gar nicht einmal zur Verzeichnung gelangt sind" (s. IV), und eine anmer-
kung dazu führt zum handgreiflichen beweis die doil; ganz vermissten oder nicht
aus Luther belegten Wörter auf, nur aus den buchstaben A und B, und doch zwei
ganze quartseiten voll! unter den ganz fehlenden sind z. b. allein 9 composita mit
ablasZy darunter selbst ablaszkrämer ! Da wäre denn nun freilich von Seiten des
Grimmschen Wörterbuches zunächst dem geschichtlichen sprachgenius gegenüber ein
pater peccavi nötig , und dann , wenn der gestrenge ricKter wider sein ohr zum hören
neigte, zur erklärung ein geschichtlicher blick auf die entstehung, oder, wem das
besser gefällt, die y^vtatg des so durch tatsachen verklagten Werkes. Doch ist jetzt
und hier zum letzteren wirklich nicht zeit und ort; aber die kenner wissen ja, wie
die fülle der quellen erst allmählich um den mühsalsvollen arbeitstisch sich sam-
melte, glauben uns wol auch gleich, wie die arbeit immer etwas hat von dem aus-
schöpfenwollcn wenn nicht des mceres , so doch eines flutenreichen sees. Auf jeden
fall gebührt herrn Dietz dank von selten des deutschen Wörterbuchs , dass er ihm so anf
die fiuger gesehen und nachgeholfen hat in bezug auf Vollständigkeit, die man seit
Campe als das erste erfordemis und das oberste strebeziel eines deutschen Wörter-
buchs anzusehen pflegt, worüber gar manches zu sagen wäre, z. b. von dem unter-
schiede rein äusserlicher und innerer Vollständigkeit, und wie es die erste gar nicht
gibt, noch weniger als die zweite, während die äugen doch zuerst und zumeist anf
jene sehen.
Aber wir dürfen nun auch den spiess umkehren und dem Lutherwörterbnche
auf die finger sehen nach seiner „Vollständigkeit." Es bringt sich selbst schon anf
12 sjialten nachtrage (mit Fronmianns beihilfe), darunter manches recht wichtige;
aber eine nicht lange nachlese fand doch immer noch mehr als eine übersehene tranbe.
Da werden z. b. s. V comi>osita mit hupst bei Grimm vermisst; nun diese werden
dort unter P folgen (wie auch z. b. peloerlein , belferndes hündlein , das Dietz im B
unter den vermissten aufführt und selbst erst in den nachtragen beibringt); aber
unter seinen 20 compositis fehlt doch auch ba2)sttr€ii€ ^ das ich nur ihm selbst ent-
nehme , hapsttrew s. LXXXIV als Stichwort auf dem titel einer Streitschrift. Anf
s. 312 steht das merkwürdige blastückcr, eine art betrüger, Schwindler, darunter ftlew-
tückerei, hlastüddsch; während J. Grimm dabei an lat. plasticus dachte, bleibt Dietz
bei heimischem urspning und setzt dazu in ])arenthese ein angenommenes llastücke.
Aber dies steht ja Avirklich in den Varianten zu 2. Cor. 4,2 bei Bindscil , lHantütk^
hlasiuck, und durfte weniger fehlen als die ableitungen davon. S. 506 fehlt das
vorbum einijedenken (wie bei Grimm auch), es steht verstockt unter eindenken ans
einer briefstelle. Unter dreJien fehlt die bedeutung drechseln, während drehewerk
drechslerarbeit belegt ist; sie steht unter hlumicerk, die gcdretcn knoten da sind
gedrechselte. Unter ausschlagen fehlt: das das armbrust im ausscfdegt (s. unter
armbrust)y wol gleich versagt, abblitzt, wie man vom schiessgewchr sagt, die stelle
ist nicht völlig genug ausgeschrieben, dass man die bedeutung sicher sehen könte,
ÜBBR DIETZ» LÜTHEBWÖRTBBBUCH 361
wie das leider öfter vorkomt, auch bei wichtigen Wörtern, s. z. b. bapsts laive,
hechtlein y aussMusz, elkefräulein , des teufeis canceley s. 369*.
Wichtiger ist das fehlen einer bedeutung bei einem unscheinbaren werte ; solche
sind die alltäglichen , die nächsten , auf die man in der regel zuletzt das äuge rich-
ten lernt, während sie in jedem betracht doch die wichtigsten sind. So komt es,
dass bei J. Grimm u. a. also viel zu kurz weggekommen ist, dass ihm da mehrere
bedeutungen und anwendungen völlig fehlen. Hauptsächlich *(iie bedeutung ebenso,
die sogar glaub ich zuerst stehen muste als die vermutlich älteste, wie sie in dem
mittelhochdeutschen wörterbuche jetzt voransteht, doch auch nicht nachdrücklich
genug bewiesen und hervorgehoben unter den blossen verstärkten „ so." Dass J. Grimm
diese bedeutung von also nie beobachtet hat, zeigt mit dem schweigen im wörterbuche
zusammen seine äusserung in dem aufsatz über „all also als" in Haupts zeitschr. 8,
387: „al so drückt buchstäblich aus omne ita ... soll aber nichts anders bedeuten
als ittty sie** — beobachtet, denn wirklich geht es dem Wörtersucher und wörter-
beschreiber wie den astronomen mit ihren sternen , oder den ph3sikem mit ihren Phä-
nomenen, denen auch alltägliches oft lange durch die bände gelaufen ist, ehe sich
die scharfe beobachtung darauf richtete, um es erst in seinem wesen zu entdecken.
Da zeigt sich das alte feine Sprichwort umgekehrt: man sieht die bäume vor dem
walde nicht. Seitdem diese bedeutung ebenso mir neuhochdeutsch zuerst auffiel , habe
ich beispiele genug beobachtet, bis tief ins 17. Jahrhundert hinein, z. b. : nun aber setzt
Venus den iren solche brillen auf, dasz ie ein Binzger baur einen eid schwüre, es
wer kein schöner hild auf erden, dann ein Binzger beurin mit eim groszen kröpf
solt sie den nit hohen, er meint .. sie hette ire gJider nit alle, also bleibt Mar-
colfo sein viereckichts tveib die schön Helena. S. Frank, sprich w. (1541) 2, 69*;
der glaube leidt keinen sclierz, also das gerächt (der gute ruf), also das atig,
2 , 4*», in der erklärung des Sprichworts die ehr, glaub und aug leiden keinen scherz.
Besonders deutlich im 17. Jahrhundert, das uns doch sonst so nahe liegt: wer sich
zwisc/ien thür utul angel steckt, der klemmet sich, also teer freunden (verwanten)
und eheleuten zuicider handelt. Lehmann, floril. polit. (1662) 1, 230; den mutwillig
gen Pferden macht inan einen ktwpf (knoten, knebel) für das maul: also loird
unserer ungezähmten natur der knöpf des creuzes angelegt. M. Abele, selts. gerichts-
händel (1684) 1, 373; einen jungen leuen soll man sich hüten zu beleidigen, also
gefärlich ist es auch, einen jungen krohnleuen (thronfolger) . . zu beleidigen. Butschky,
Patmos 732; (wo wir) wie den tag in unvergleichlicher lust, also ferner den abend
in allerhand ergetzungen zugebracht. A. Gryphius (1698) 2, 494. Herr Dietz wird mir
glauben, dass ich nicht ohne Spannung in seinem Lutherwörterb. nach diesem also sah;
als erste bedeutung steht da „ita , so, ganz so, ebenso, auf diese art," aber belege
für ebenso stehen nicht da (das auch also Matth. 5, 47 ist nicht scharf genug), ich
will einige nachholen: wenn man siebet , so bleibet das unfletige drinnen (im siebe,
das unreine), also, was^ der mensch fumimpt , so klebet imer etwa^ unreines dran.
Sirach 27, 5 , vgl. v. 3 und 6 ; der bapst th%it also (machts ebenso) , alle die im hel-
fen sein kirchemvesen . . Sterken und mehren, die unrd er . . hoch heben. Vorrede
zum Daniel , bei Bindseil 7, 383 ; was iM ewer kirchenstand vor unserm evangelio *
1) tri», wie oft, gleich mhd. »wa^f stark betont zu sprechen, dieser ton als ersatz
für (las 80 in swa?.
2) d. h. vor meinem und meiner freunde auftreten, vor meiner frei und froh
machenden lehre ; dass er von seiner lehre \uii allem freudi<^en stolze dieses hohe bibli-
sche wort brauchte, auch sich selber dem entsprechend einen evangelisten nante, seine
362 RILDEBRANO
gewesen, denn eitel tegJichenewtgkeit? . . es folgt ein beleg, dann: also weiter (ebenso
ferner), ehier richtet den rosenkranz auf .... also mit den wdlfarten, da giengen
teglich ne\ce auf usw. Schriften 5 (Jena 1561), 82*^, Vermanung an die g^eistliclieii
1530. Dies also ist so ein bäum, der vor dem walde nicht gesehen worden ist. Auch
also erläuternd , gleich nämlich , das heisst , fehlt (mittelhochdeutsch beobachtet von
Wackemagel im glossar zum lesebuch) : wo man den trost . . von der müncherei
wegnimpt, also das man dadurch nicht gerecht werde noch gnade verdiene, so ist
ir der köpf abgehawen. G, 27** (Jena 1561); bei Grimm fehlt es freilich auch, Dietz
bringt aber als in dieser bedcutung (das nur nicht als „demonstrativ" gehen kann).
Zu als aber auch ein kleiner nachtrag. Da ist bei Grimm 1, 250 cds nach dem
comparativ für das ältere denn der ersten hälfte des 16. Jahrhunderts abgesprochen,
„ in der zweiten hälfte begint als einzureissen , und Fischart kann f&r den ersten her-
vorragenden schriftsteiler gelten " usw. Damit ist aber dem guten als starkes unrecht
getan durch unzureichende beobachtung, denn es steht schon so beim Teichner 170,
bei Meister Eckhart 484, 27, ja bei Walther 25, 28 (in dem mhd. wörterbacbe steht
nichts davon) , mittelniederdeutsch z. b. oft im jütischen Low, z. b. doch kein gröter
schip alse mit sös reinen (rudern) 3, 62 § 7.* Aus der ersten hälfte des 16. Jahr-
hunderts z. b. bei Er. Alberus im Esop: kein feiner twcli meisterlicher gedieht ah
das buch von Reinicken (Grimms Wörterbuch 2, 745). Auch bei Luther, z. b.: doM
also kein ermer, geringer, rerechter discipel nicht ist auf erden, als gott. 8, 905*.
Jena 1580 (bei Wackemagel lesebuch 3*, 199 aus der Wittenberger ausgäbe 1581);
Dietz hat es leider auch durch die fingcr laufen lassen ,> so reich sonst sein artikel
als ist.
Noch merkwürdiger ist was dem wörtlein bis in den Wörterbüchern bis jetzt
passiert ist, dass ihm da eine bedeutung noch gänzlich fehlt, die von der gew5n-
liehen auffallend abweicht : „ so lange als " . . , also ganz wie lat. donec , dum. So im
Baseler totentanze, da spricht der musiciercnde (pfeifende) tod zur edelfrau:
danzen (tanzet), fraio , noch uweren sin,
bis de pfif ein ton gewin. Haupts zeitschr. 9 , 344.
Und selbst in unserem Jahrhundert noch, bei niemand anders als Schiller (Abschied
vom leser):
nicht länger wolleyi diese lieder leben
als bis ihr klang ein fühlend herz erfreut.
Gedichte (1800) 1, 334; Musenalm. 1796, s. 204.
Das ist als ob mans da nicht mit Deutsch zu tun hätte, das tansenden durch die
bände gieng und geht, sondern mit irgend einer entlegenen spräche, wo für seltene
helfcr und gonossen allerdings auch, das tritt bei Diotz nicht genügend hervor, ist aaeh«
leider nicht genügend belegt, und ist doch hochwichtig zum Verständnis des mannes; die
art, wie es 8.629* angeführt wird, klingt eher abschwächend, als könte man eine
erschreckende Selbstüberhebung dahinter finden.
1) Bemerkenswert ist und für die crklärung der crsoheinung in psychologischer
Syntax wertvoll, dass ganz entsprechend auch altgricoliisch atg für ij eintrat, ja tohon
bei Homer rjvre II. 4, 277; auch lat. quam entspricht ja dem ait genau.
2) Hier mag ein erklärendes Streiflicht auf die cntstehung des Grimmschen Wör-
terbuches geworfen werden : während 1 , 250 unter ah belege fehlen bis Fisobart (wo
sie J. Grimm offenbar sich selber erst während der arbeit zusammengesucht hat im Gar-
gantua), wimmelt es 2, 745 von beispielen für dann — d. h. die auszieher haben reich-
lich ausgeschrieben was ihnen anffiel, und laufen lassen was ihnen geläufig war.
ÜBXB BIBTZ, LCTHEBWÖBTBBBUCH 363
Wörter noch die bedeutungen zu entdecken sind! so mühsam komt unser Wörterbuch
zu stände. Auch Luther hat dies bis, zu bis dasz verstärkt: Esaias 1. straft das
Volk also „ dein wein ist gemischet mit wasser ** ... ein solcher diebischer kretzsch-
mer (wirt) ist der bapst auch, bis das er eitel pfützenwasser für guten wein ver-
kauft. 1 , 503 *• (Jena 1564) , von der Beicht ; bei Dietz steht nichts davon , wie bei
Grimm auch nicht.
Gegenüber diesem fehlen lässt sich aber manches anführen y das recht gut oder
besser fehlen könte. So besonders die etymologien , die zuweilen so ausführlich sind,
als handelte sichs nicht um ein Wörterbuch für Luther, sondern um ein deutsches
Wörterbuch schlechthin; komt es doch vor, wie unter auch, dass in sieben zeiien nur
das etymologische geboten wird und aus Luther wirklich gar nichts. Unter arbeit
wird in elf Zeilen vorgetragen was über den Ursprung bis jetzt ermittelt oder angenom-
men ist, mit Verweisung auf Grimm und Weigand mittelst des beliebten farblosen
„vergleiche," das übrigens den schein mitbringt, als wäre dort nur ähnliches oder
ergänzendes zu finden, nicht eben das, was der Verfasser entlehnend vorbringt. Was
man hier suchen muste statt dessen, war, dass Luthers form erbeit nicht nur erwähnt
wurde , sondern geschichtlich begreiflich gemacht, gegen jeden schein einer Willkür
sicher gestellt , wie er da dem laien immer en^^^gegen komt. Auch musten Luthers for-
men erbeiten, erbeiter, erbeitsam gleich mit angeführt werden, die man sich nun selbst
zusammensuchen muss , und unter arbeitsam durfte die form erbtsam nicht mit einem
sie ! abgefertigt werden , das den schein des unerhörten , unverantwortlichen und ähn-
liches wenigstens für den laien mit sich bringen kann. War doch aus Grimms Wör-
terbuch leicht zu entnehmen, dass auch Logau die volksmässige und geschichtlich
völlig berechtigte form - arbt im dichterischen stil zu brauchen wagte. — Unter
Deutschland findet man dies im nominativ und accusativ, den unflectierten casus,
belegt; aber das konte fehlen, wenn dafür Luthers genitiv deutsches lands (s. XLVIII.
155^ u. ö.) und sein dativ im teutsdh lande (s. 369*, sicher auch noch im teutschen
lande) beigebracht wurden ; erst damit erhielt der artikel Deutschland seinen lexica-
lischen wert, das hochwichtige wort seine geschichte, die bei W. Grimm freilich
auch nicht klar vortritt, man muss sich das entscheidende, was der lexicograph zu
lehren hatte , aus dem langen artikel selber zusammensuchen — ein beweis mehr, wie
sehr unsere lexicographie noch im werden ist, selbst oder gerade bei so einfachen
und nahe liegenden dingen. Wunderlich genug, der rein äusserliche umstand,
dass Deutschland unserm äuge als ein wort erscheint, deutsches lands aber als
zwei, hat es erschwert, zu bemerken (mir auch), dass beide früher zusammengehö-
ren wie irgend ein anderer nominativ und sein rechter genetiv. Wie sehr für uns
heutzutage der name des Vaterlandes granmiatisch erstorben und verknorpelt ist,
kann man empfinden an dem genetiv Deutschlandes, den z. b. noch 1765 die litte-
raturbriefe 21, 177 brauchten, jetzt aber niemand mehr brauchen dürfte, und lesen
wir es dort (wie in dem protestantischen Deutschlande, Lessing 9, 420), ohne eben
zu geschichtlichem sehen aufgelegt zu sein, so wird uns unbehaglich, als stünde da
eine von den un Vollkommenheiten , die selbst jener grossen zeit im fache der Schul-
bildung noch anhaften und die wir nun glücklich los sind!
Mühe und platz sparen konte der Verfasser auch in den erklärungen. Wozu
z. b. in einem Lutherwörterbuche die erklänmg von augapfel, coraUe, elster, canze-
lei, grundonnerstag , butter, buttermilch, disteücopf? disteUcopf z. b. ist „Caput car-
dui, die blume mit der runden Samenkapsel der distel,*' augapfel, „die häutige, das
licht empfangende kugel im äuge'* (dies aus Weigand, wie oft), furcht, „die unan-
genehme Seelenregung in beziehung auf eine gefaJxr, ein übel, oder auch auf ein weseUi
364 HILDEBBAKD» ÜBER BIETZ , LUTHEBWÖRTERBUCH
das diese gefahr, dieses übel zukommen lässt oder doch zukommen lassen kann."
Für wen sind denn solche erklärungen? Ich wüste wahrlich keine andere antwort,
als ungefähr folgende: die von distelkopf passtc etwa für ein kind, das einen distcl>
köpf noch nie gesehen hat, und darum in gefahr wäre, sich dabei einen wirklichen köpf,
wie es ihn allein kennt, vorzust<jllen , oder für einen Stubenhocker, dem die Vorstel-
lung eines distelkopfcs wider abhanden gekommen wäre. Die erkläning oder viel-
mehr bcschreibung der furcht aber, ja wer braucht denn die? ich finde niemand, als
einen der furcht gar nicht kente und einen satz mit furcht nicht verstünde und also
hier im wörterbuche naclisähe — der müste aber wol aus dem monde hemiederkom-
men. Da sind wir denn bei einer solchen frage wegen der einrichtung unserer Wör-
terbücher, wie sie oben beri\hrt wurde. Ich weiss recht wol, aus welcher quelle dies
gewissenhafte verfahren stamt, und dass es sich als das wahrhaft „wissenschaft-
liche" verfahren fühlt, dem gegenüber meine äusserungen wol gar wie leichtfertig
klingen. Noch hei Frisch war furcfd einfach metuSy timor, farmido, und Jac. Grimm
blieb bei dieser altüberlieferten form des erklärens. Bei Adelung aber erscheint furM
als „die unlust über ein bevorstehendes übel, es mag nun wirklich oder in der ein-
bildung bevorstehen," ebenso bei Campe durch entlehnung, nur dass ihm ».nnlnst"
nicht stark genug war, er setzte noch „absehen" hinzu. Darin ist denn nichts ande-
res als Kants einfluss wirksam, durch den die „begriffe" und „ begrüfsbcstimmnn-
gen" zu hohen ehren kamen als das, was im kreise des denkens allein mit dem
alten wüste aufräumen, wider klaren weg zur Wahrheit schaffen könte; und wie sie
damals in die schulen eintraten in den sogenanten denkübungen, so setzte sie Ade-
lung an die stelle der alten lateinischen Übersetzung im deutschen wörterbuche; seine
zeit hat gewis darin einen grossen fortschritt gesehen. Aber wohin dieser philoso-
phische weg führte, in gerader linic verfolgt, zeigen schon erklärungen Adelungs wie:
„rater j ein wesen männlichen geschlechts, welches durch die befruchtung eines weib-
lichen ein anderes wesen seiner art zeuget," oder „Ärwe, ein fünfzehiges, mit haa-
ren versehenes, widcrkäuendes , essbares, vierfüssiges tier, mit sehr langen löffeln
oder obren, welches sich von kräutem, kohl, baumrinde und feldfrüchton nährt und
mit offenen äugen schläft" Ich kann mir nicht helfen, mir fallen bei solchen wör-
terbuchsdefinitionen immer die mondbewohner ein , aber selbst diese würden jene defi-
nition von rater sicher für überflüssig finden, ich glaube sogar für geschmacklos,
und dabei für sehr unzureichend; man braucht nur das „seiner art" und das „zeu-
get" genau beim worte zu nehmen, so würden danach die väter sehr zusammen-
schmelzen, und ähnlich geht es jeder solchen definition. Ich glaube, es ist hohe zeit.
von diesem wege umzukehren und mühe und i>apier besser zu verwenden. — Auch
mit den adverbien macht sich der Verfasser vielfach überflüssige mühe, indem er
immer bestrebt ist neben einem adjectiv das adverbium als besonderes wort aufzu-
stellen. Das ist durch J. Grimms Vorgang veranlasst, der darin von einer beneiden-
den bewunderung des lateins geleitet war. die ihn auch in anderen punkten beherschte.
Aber wir haben im neuhochdeutschen nun einmal , lexicalisch genommen, kein advcrb
mehr , das als wort für sich auftreten könte ; bei dieser Sonderstellung geht nur leicht
ein beleg für eine bedeutung dem adjectiv verloren, zu dem er lexicalisch gehört.
Aber diese ausstellungen , bei denen mirs ohnehin mehr um die anrcgung all-
gemeiner fragpunkte zu tun war, dürfen nicht den schluss der anzeige bilden. So
sei denn den schon im eingange gerühmten tugenden der arbeit hinzugeft)gt, wie z. b.
auch die niederdeutsche bibel sehr häufig zur vergleichung zugezogen ist, ebenso die
bibelübersetzungen vor Luther und die nachlutherischen bibeln ; wie ferner auch andere
gleichzeitige und ältere, schwer zugängliche quellen zuweilen gobrancht sind, woraus
8UPHAN, ZUR HKRDBBLITTEBATÜB 365
denn öfter ganz neues beigebracht ist, z. b. heafter gleich hinterdrein, späterhin
8. 306*», hatlich nützlich s. 212**, nenhochdentsch biben beben 218 ^ afterglävbisch 47',
so dass kein deutscher philolog des buchs entbehren dürfte. Häufig sind auch berich-
tigungen von Grimms angaben aus Luther sowol dem texte als der erklärung nach,
so dass nicht blos in dem was fehlt, auch in dem was dort steht, das Lutherwörter-
buch eine unentbehrliche ergänzung von Grimms wörterbuclie ist. Möchten Verfasser
und Verleger nicht ermüden in der raschen förderung des werkes, dem freilich auch
eine wärmere betciligung von seiten des kaufenden publikums zu wünschen scheint,
unter dem sich namentlich die theologen wol weniger finden lassen als man erwar-
ten durfte.
LEIPZIG, JANTAR 1871 R. HILDEBRAND.
Jegr6r T. Slvers, Herder in Riga. Riga 1868. Kymraels Buchhandlung. VI, 78 s.
n. Vs thlr. — Derselbe: Humanität und Nationalität. Eine livlän-
dische Säcularschrift zum Andenken Herders und zum Schutze
livländischen Yerfassungs rechtes. Berlin 1869. Behrs Buchhandlung.
XV, 92s. 8/4thlr. — Adolph Kohut, Johann Gottfried v. Herder und
die Humanitätsbestrebungen der Neuzeit. L Berlin 1870, bei L. Ger-
schel. IV, 95 s. n. V« thlr.
Das urteil, das Göthe schon in den zwanziger jähren über Herders Schriften
fällen zu dürfen glaubte: es werde notwendig derjenige, der seine cultur nur aus
Herder hole , zurückbleiben , hat in wenig Jahrzehnten fast allgemeine geltung erlangt.
In der praxis ist man sogar weiter gegangen und hat Herder als einen von der zeit
überholten gänzlich zurückgestellt, seines einilusses auf das vorgeschrittene Zeitalter
völlig entraten zu können geglaubt. Dass aber, wie Goethe ebenfalls anerkant hat,
in Herders Schriften lebens- und ausbildungsfähige ideen niedergelegt sind, die Jahr-
hunderte beschäftigen können, hat man dabei ausser acht gelassen, und zudem die
anregende kraft alles unfertigen , der Vollendung noch zuringenden unterschätzt. Das
jüngere geschlecht aber will, wie es scheint, von dieser misachtung zurückkommen,
und einen glücklichen schritt nach dieser entgegengesetzten seite haben v. Sivers
und Kohut getan , indem sie gerade solche ideen , die in das leben der gegenwart
auf das tiefste eingreifen , aus Herders Schriften ausgehoben haben , um daran das
streben und meinen der Zeitgenossen zu messen.
Angeregt durch die aufstellung des Herderdenkmals in Riga unternahm es
V. Sivers die Urkunden, die auf Herders aufenthalt in Riga (1764 — 9) bezug haben,
zu sammeln. Fundorte waren die „Publica magistratus RigenMs/' ein „Stadtober-
pastors - tagebuch ," und das livländische Residir-diarium. Die gesammelten docu-
raente * sind für den biographen Herders freilich nicht von hervorragender Wichtig-
keit; denn die durch dieselben belegten facta sind bis auf unbedeutenderes fast sämt-
lich aus Herders Lebensbild und den briefsamlungen bekant und derartig überliefert,
dass es einer erhöKung der glaubwürdigkeit durch amtliche Urkunden nicht bedarf.
Als illustrationen indessen sind letztere sämtlich annehmbar und also, wenn nicht
unentbehrliche, doch willkommene beilagen. So findet, was Herder von seinem pre-
digerruhm mitteilt, einen beleg in dem gesuche des barons Vietinghof (dei vaters der
1) Einige, und gerade die wichtigsten nachtrage stehen in v. Sivers zweiter schrift
p. 70 (über den conflict Herders mit seinem pastor Ordinarius) und p. 79 not. 17 (über
die dauer von Herders bibliotheks Verwaltung).
ZEITSCHR. F. DKUT8CHB PUILOL. BD. III. 24
366 SÜPHAK
Krüdener) um einen stuhl in der Jesuskirche, und der etwas hochtrabende bericht
Herders an seine braut von den „grossen ab- und aussiebten, zu denen gonvernenient
und ritterschaft vor der abreise ihn bestirnt hätten,'' durch den recess des adelscon-
vents vom 20. novbr. 17G9 eine bestätigung; doch ist auch hiefÜr schon Herders brief-
wechsel mit Hartknoch (Von und an Herder 2 , 16 — 19) vollgiltiger beweis. Auch
wustü man längst, dass das auf der seercise geschriebene „Ideal einer Bchnle**
(Ijobensbild II, 2, 194 — 241) nicht für erträumte Verhältnisse im voraus constmieTt,
sondern, wie v. Sivcrs es richtig benent, „der ontwurf seines lehrprogp^mms för
die livländische nationalschulc^' ist. Dieses und Herders „Baltische erinnernngen
und urteile," beide stücke aus dem Lcbcnsbilde abgedruckt, bilden den ersten teil der
Schrift (]). 1 — 40). Unter den beilagen verdient die von G. Berkholz gehaltene fest-
rede bei enthtillung des Rigcnser Hcrderdenkmals hervorgehoben zu werden. Sie lie-
fert die grundzöge zu v. Sivers zweiter schrift.
Diese zweite schrift, als „eine livländische säcularschrift zum andenken Her-
ders und zum schütze liv ländischen Verfassungsrechts" gekenzeichnet, war nrsprOng-
lieh zur einleitung der besprochenen urkundensamlung bestirnt. Von der rassischen
censur wegen freimütigen urteils über das auftreten der panslawistischen partei gegen
die deutschen Ostsecprovinzialen beanstandet , muste sie nach einer durch die nmstande
gebotenen Umarbeitung und erweiterung als selbständige schrift in Deutschland
erscheinen. Da ihr durch den polemischen Zuwachs der character einer politischen
brochurc mehr als die erste redaction bezweckte aufgedrückt ist, so ist es rätlich
iliren kern bei zelten dem Schicksale einer solchen zu entziehen.
Sic stellt sich zur aufgäbe, die beiden fragen: Was verdankte Herder seinem
auf enthalte in Livland? (8.5 — 17) und: Welche lehre hinterliess Herder den Ostsee-
jirovinzen Russlands V (s. 32 — GG) zu beantworten ; oder: „den von Herder vertretenen
humanitätsgedankcn in seinen boziehungen auf den livländischen provinzialstaat, sein
verfassungsmässiges recht und die nationalitäten frage zu behandeln.'* (s. VIII). Es
gehörten hierzu die in zwei gesonderten capiteln gegebenen erörterungen: 1) von
umfang und Inhalt des Herderschen human itätsbegrilTes und von dem durch Herder
bewirkten fortschritte. 2) von dem staatsrechtlichen Verhältnis der Ostsceprovinzen
zum russisclicn reiche (s. 18 — 31).
Die erstere unter der Überschrift: Wer war Herder? an den anfang (s, 2 — 4)
gestellte betrachtung }»lcibt uns eine genauere, womöglich mit Herders werten gege-
Itene entwicklung des humanitätsbegrilTes schuldig. Gerade wegen des weiten nmCsn-
ges, zu dem bei Herder dieser bcgrifl' gedelint ist, entzieht er sich einer clanselhaf-
ten bestimnmng, und lässt sich in Herders sinne nur durch eine genetische betrach-
tung der 8ta<lien, die er durchlaufen, und der gebiete, die er sich zugeeignet hat,
von der er/iehnng an bis zu den socialen Verhältnissen, anschaulich machen. Hier-
durch würde auch der gebietsteil , der durch gegen überstellung des nationalit&tsbegrif-
fes hervorgehoben werden soll, bestbntoren inhalt gewonnen haben, während sich
ohne eine solche betrachtung zu leicht ein unbestimter begriff, wie „inenschenliebc*'
unterschiebt. Wol gelungen aber ist die characteristik Herders und seiner leistun-
gen; ein glückliches talent zum characterisieren von personen und Zeiten bewährt
V. Sivers noch mehrfach am rechten orte. Kr fasst Herder auf „als universalgeist
wie (joethe^und Humboldt, der in scheinbar entgegengesetzten richtungcn schaffend
oder fördernd wirkt" (s. :)), und stellt sein bild dadurch sogleich auf die höhe, deren
es zu klarem überschauen des einzelnen bedarf.
In wie fem die bedingungen der Umgebung und der zeitverhaltnisse ein so
wunderbares geistiges phänomen , wie Herder es ist, zeitigen und seinem siele xnfQh-
ZÜB HBRDBBLITTSBATÜB 367
ren, ist ein schwieriges, in manchem betracht nnlösbares problem. ,,Ioh ward nie,
was ich werden sollte , wozu mich notwcndigkcit nnd nmstande machen wollten , son-
dern immer was anders. So als schtkler, so als lehrer; so in Königsberg , so in Riga;
so auf reisen." Bei diesem bekentnisse (Lebensbild 11 , 300. jähr 1769) des mannes,
der wie kein anderer es verstand seine seele zn belauschen und zu zeichnen , ist man
wol berechtigt einer Untersuchung wie der djorch herm v. Sivers begonnenen mit
Zurückhaltung zn folgen. Er ist indes behutsam genug zu werke gegangen und hat
nur augenfölliges seiner beobachtung unterzogen.
Vorwiegend ist es nach v. Sivers die schule der polit^c und socialer ideen, in
die Herder während seines rigischen lebens genommen ward. Einmal durch seine mit-
leidenschaffc an dem bildungsprocesse des russischen Staatskörpers, sodann als Liv-
lands vorort , in dessen mauern die deutschen landesinteressen zum ausdruck und aus-
trag kamen, gewährte Riga vielfach gelegenheit zur beobachtung nach beiden seiten.
Die unvermittelte, gewaltsam vorbrechende, revolutionär -reformatorische tätigkeit
Katharinas riss Herder zu enthusiastischer bewunderung hin, deren lautesten aus-
druck wir in der ode auf die kaiserin , zur einweihung des rigischen rathauses gedich-
tet, kennen. Erst mit der zeit bildete sich Herders nach der abreise von Riga nie-
dergeschriebenes urteil heraus, dass das gesetzbuch, wie alle reformen der kaiserin
an sich gut, f&r das russische volk aber, seinem nationalcharacter und seiner bil-
dungsstufe nach, untauglich sei. Andererseits, meint v. Sivers, gab die emancipa-
tion der • leibeigenen , die vor Herders äugen in gesetzmässiger, besonnener weise
beginnend sich allmählich vollzog, seinen humanitätsideen nahrung. Von der anregung
Herders durch die landtagsverhandlungen über die leibeigenenfrage wissen wir frei-
lich nichts; genug, dass er ihr Schicksal vor äugen hatte und aus ihrem munde lie-
der sammelte, wie das achte der lieder aus dem hohen nord, „den wahren seufzer
aus der nicht dichterisch, sondern wirklich gefühlten Situation eines ächzenden volks."
Dass die ideen von common spirit und selfgovemeinent der städte und land-
schaftcn durch Rigas wolhabende, freisinnige bürgerschaft in Herder geweckt, sein
Unabhängigkeitssinn gestärkt, weltton in stetem umgange mit männem aus der höhe-
ren gcsellschaft gewonnen ward , hat v. Sivers mit recht betont. Man wird ihm auch
gern zugestehen, dass zutrauen und achtung sein selbstbewustsein hoben und in so
fem günstig auf seine schriftstellerei einwirkten. Ein directer einfluss aber oder eine
Wirkung von speciel rigischen bildungsfactoren lässt sich in Herders gleichzeitigen
werken nicht nachweisen. Diese sind vielmehr ganz eigentlich auf Königsberger boden
gewachsen; zum teil, wie die fragmente, fortsetzungcn äer unter Hamanns tiefgrei-
fendem einflusse begonnenen ästhetischen, philologischen und historischen arbeiten.
Wären uns auch nicht Herders klagen über den abgang einer bildenden gcsellschaft
bekant, so yrürden uns jene werke selbst, denen strenge durcharbeitung fehlt, Zeug-
nis genug geben, dass Herder „den schutzgcist seiner autorschaft" bei ihrer abfas-
sung oft vermisst hat. In Königsberg, in Hamanns gesellschaft, hätte Herder viel-
leicht weniger eigentümlich gearbeitet, doch wären die Schriften frei geblieben von
dem selbstgefälligen, etwas theatralischen pathos, sie wären, mit Herders wort,
„nahrhafter" geworden. „Von den reicheren musenquellen entfernt" war provinz
und Stadt nach dem berichte des rigischen correspondenten der Königsberger Zeitun-
gen (Jahrg. 1 764 st. 39) , und es darf daher nicht befremden , schon vom ende des Jah-
res 1766 an, den wünsch Riga zu verlassen, mit immer grösserer bestimtheit in Her-
ders briefen auftreten zu sehen. Auch die um die zeit der entfemung aus Riga
„plötzlich" hervorbrechende richtung Herders auf das praktische, die absieht, dem
schriftstellerberuf zu entsagen und politisch und pädagogisch tätig aufzutreten,
24*
368 SDPHAN
erscheint bei v. Sivers als eine durch Riga gezeitigte fnicht. Die negative seite
indessen, die Verachtung der scliriftstellerei gegenüber dem unuiittelbaren wirken.
die an Herder in wunderbarem contrast mit der eigenen reichen aatortätigkeit von
jalir zu jähr schärfer hervortritt, lässt sich schon aus dem umgange mit dem ganz
gleicli gestirnten Hamann herleiten; und die ])ositive, der stetige hlnblick auf den
nutzen „des gemeinen mannes, des gröstcn, würdigsten, edelsten teiles der nation,*'
findet scliun einen ausdruck in der Kanterscheu Zeitung, dem Organ des Königsber-
ger kroisos, und erklärt sich bei Herder besonders durch den grossen einflnas Tho-
mas Abbts. Die keime dieser bedeutsamsten seite in Herders wesen lehrt er selbst
uns finden, wenn er über Thomas Abbt im Torso (s. 28), sich selbst zugleich schil-
dernd, sagt: „Ich habe als eine vermutliche Ursache zu diesem charac;ter Abbts auch
seine erste erziehung in einer mittlem, bürgerlichen lebensart angegeben: und hoffe
jeden auf meiner seite zu haben, der bey sich nachfragt, wie mächtig die ersten ein-
drücke des Icbens in uus würken : und dass , wenn die reifem jähre uns freilich mate-
rialien zum denken verschaffen , die erste Jugend gleichsam die form bilde , in welche
sich unsre begriffe giessen , nach welcher sie sich modeln."
Die zweite, politische hälfte der schrift, in welche v. Sivers den Schwerpunkt
verlegt hat, die anweudung Herderscher doctrinen und ideen auf Bassland und die
baltischen provinzen, vielseitig und anregend, auch stilistisch vorzüglich» berühren
wir nur kurz. Einesteils unt^jrsucht v. Sivers nach Herders meist schon 1769 nieder-
geschriebenen beobachtungen die Ursachen des Zurückbleibens der cultur in Ruasland.
Die eine von Herder angegebene , die binnenlage, ist beseitigt; wichtige andere beste-
hen fort: der hastige drang nach augenblicklich sichtbarem erfolge, der die notwen-
digsten mittolglieder überspringt — wie in der Katharineischen gesetzgebung; daher.
wie damals, oberflächlicher prunk ohne gediegene unterläge; mangel der Volksbil-
dung, mangel der Wissenschaft ; dabei schon damals spuren des hasses gegen die lao-
desgenossen von höherer bildung und spuren des irregeleiteten unreifsten national-
gefühls (s. 85), des despotismus der massen (s. 38). Noch heute sind die von Herder
angewiesenen wege zu besseren zuständen zum teil unbetreten und können auf die
dauer nicht umgangen werden (s. 35 — 10). — Der anderen aufgäbe nach ist die
Schrift eine schütz- und trost-schrift für die landsleuto in Russland. Widemm mit
Zugrundelegung Herderscher geilankcn und zum teil wörtlich ihm folgend erweist
V. Sivers , dass es ein eitles bemühen ist durch unterdrücken der Deutschen in Russ-
land der nationalmssischen sachc zu dienen. Die höhere cultur in sich aufnehmen,
die gleichfalls höher gebildete spräche unterdrücken , ist ein Widerspruch. Jene würde
mit dieser fallen (s. 55 — 57). Das Uiilionalitätsprincip, das in seiner änsscrsten
schrotflieit erst in unseren tagen ausgebildet ist, kante Herder noch nicht; nach sei-
nen Völkerrechtlichen begriffen ist es kein hindernis, vielmehr ein sogen fUr einen
stiiat, verschiedene nationale bestandteib» in sich zu enthalten. — Von den angereih-
ten belegen über den zustand der cultur in Kusslaud sind für den gelehrten beson-
ders lesenswert die statistischen notizt?n über die russischen Universitäten (s. liO f.).
Ein „Wäldclien litterarischer und ]'olcmischer anmerkungen" schliesst die »chrifi,
deren gediegenen litteratur- und culturgeschichtlichen gehalt wir rühmend aner-
kennen.
A. Kohut führt im ersten teile meiner Herderstudien eine schon von J. v. Sivers
(s. G4) angedeutete seite von Herders humanität , die toloranz gegen die Juden , in
einem vollständigen bilde vor. Sein zweck ist es , dieses bild denjenigen vorzuhalten.
die „noch inmier fragen, wer Jude oder ehrist ist*' (s. 11), und wenigstens „«lie
judenheit, die sich stets durch ihre pietät für ihre woltater auszeichnet, auf die gros-
ZUR HBRDBRLITTERATÜB 369
sen Verdienste Herders um die jaden und die jüdische Wissenschaft hinzuweisen"
(s. 12). Seines populären Zweckes willen hat es der herr Verfasser für überflüssig,
vielleicht (aber mit unrecht) sogar für schädlich gehalten , die stellen aus Herder,
die er zur gesamtwirkung vereinigt, durch genauere citate als des titcls und buchs
nachzuweisen; er hat sich aucli nicht für verpflichtet gehalten, die proben aus Her-
ders Schriften, die er reichlich gibt, nach dem grundtexte mitzuteilen; und doch
wäre besonders für die parabeln, die als „Jüdische fabeln" im Mercur 1781 zum
teil veröfifentlicht sind , diese kritische treue nicht unangebracht gewesen.
Mit recht klagt Kohut die Zeitgenossen einer trägen gleichgiltigkeit gegen
Herder an. Zu den gründen dieser auffälligen tatsache, die er aufzuflnden sich
bemüht, möchten wir einen nicht unwichtigen hinzutun: die feindschaft der Kantianer,
die gerade nach Herders todc zum grössten ansehen kommen. Ein anderer von Kohut
bemerkter grund , der stil Herders , kann nur für die Schriften der ersten periode gel-
ten: denn in den nach 1780 geschriebenen werken herscht ein ausdruck, der dem an
licssings und Goethes stil gewöhnten wol selten anstoss gibt. Kohut druckt selbst
Mendelssohns brief an Herder aus dem jähre 1781 ab, in welchem es heisst: „Sie
haben Ihr herz mit Ihrem geiste, und, wo mir recht ist, Ihren stil mit beiden in
bessere harmonie gebracht;" und mit diesem urteile eines feinen kenners stimmen
die bemerkungen derer, die in Herders stil die süssigkeit des Xenophon widerfanden.
Aber auch über die erstlingswerke urteilt man meist nur nach dem eingewurzelten
aberglauben, der Herders und Hamanns ausdruck auf gleiche stufe stellt. Diesen
teilt auch Kohut, und verteidigt Herdem daher ziemlich unglücklich (s. 11). Das
ungewönliche und unbequeme in Herders ausdruck beruht hauptsächlich in der con-
struction , die gewaltsam und keck das joch des lateinischen zerbricht : alle ungewön-
lichen rhetorischen figuren , bis zum anakoluth , finden sich vertreten. Hamann dage-
gen behält den alten satzbau; ungcwönlich dagegen imd geradezu widerlich ist der
wortgebrauch und das damit verbundene absichtliche verstecken des sinnes, erhöht
durch das citations- und anspielungsunwesen. Bei Herder finden sich wol leichte
spuren dieses Stilfehlers, doch ist er ihm nicht zur natur geworden. Das gefnhl beim
lesen der werke Herders aus der ersten periode und der Schriften Hamanns ist ebenso
ungleichartig als das beim früblingssturm und das beim stöbernden schneeunwetter ;
denn das frische ringen nach einem eigenartig deutschen stile ist in Herders ersten
Schriften unverkenbar. Ein grosses publicum aber, wie Kohut es sich denkt, wird
Herder nie haben ; er hat sich auch in seiner blütezeit mit einem ausgewählten kreise
begnügt, und ein populärer autor konte er nicht werden.
Das erste kapitel der schrift (s. 1 — 35): „Herder und die Juden" soll „die
Verdienste skizzieren, die sich Herder um die bürgerliche religiöse und staatliche
freiheit der Juden erworben." Hier hat Kohut eine reiche auslese gehalten , um Her-
ders achtung vor dem ganzen volke und dessen koryphaeen , seine leistungen für
omancipation der Juden, seine erfüllten „ divinatorischen hoffiiungen," seine anerken-
nung jüdischer gelehrsamkeit und dichtkunst, besonders des Talmud (wobei Herder
glücklich mit ßeuchlin verglichen wird) ins licht zu setzen. Vergleiche mit den her-
vorragendsten Zeitgenossen heben Herders gestalt um so glänzender hervor. Den
schluss bildet das „gespräch des rabbi mit dem Christen" aus den Fragmenten, als
beweis der hochachtung Herders vor dem stände. (Uns scheint in dem bilde des
rabbi Mendelssohn porträtiert zu sein).
Das zweite kapitel „Herder und die jüdische Wissenschaft" (s. 36—72) zeigt,
ausgehend von Herders aneignungsgabe und poetischer natur, die poesie, kunst
(musik) und Wissenschaft der Juden im Spiegel Herderscher urteile. Besonders berück-
370 8UFHAM, ZUR KBBDERLITTEBATUR
1*
Biclitigt sind die vom Verfasser hoch gepriesenen hanptwerke: „Älteste Urkunde
und „Geist der hebräischen Poesie.'* Ausführlich wird über Herders anffassnng der
alttestamcntliclicn Schriften und seine exegetischen bemühungen gehandelt. Der pole-
niik Herders gegen die rationalisten sucht Kohut eine spitze gegen die moderne
historiscli- kritische schule abzugewinnen; von allen versuchen aber, die natibarkeit
Herders für die neueren darzutun ist dies der unglücklichste: denn schwerlich dflrfte
einer von den bedeutenden exegeten dieser schule in Herder einen gegner erkennen.
Von ihm, der in den Schriften des Alten Testamentes erzeugnisso der natiirpoesie
sah , ist zu der methode der historischen schule ein naturgemässer fortgang. Es mnsi
ebenso wunder nehmen, wenn Kohut, der den unmittelbaren einflnss Herders ssf
A. V. Humboldt richtig gewürdigt hat, auch bei diesem die rein menaclüiche und
historische betrachtungsweise der Schriften des Alten Testamentes yerkent. — Zorn
erweise, wie glücklich Herder die poetischen ideen der Juden in sich aafgenoinnien
und verarbeitet hat, gibt er die oben erwähnten parabeln, und weist lebhaft auf diese
vorzüglichen dichtungen hin. Zum schluss redet er von Herders Verhältnis rar theo-
logischen Philosophie der Juden, derKabbala; doch kcnt er den Standpunkt Herden
nur aus der „ Altesten Urkunde ,*' nicht aus den briefen und Schriften der jähre 17^5
bis 1787, in denen Herder sein früheres urteil wesentlich einschränkt.
Strenge einte ilung ist des herrn Verfassers sache nicht. Das eiste und xweite
kapitel sind nicht genau auseinander gehalten; das dritte: Herder und Mendelssohn
(s. 73 — 95) hätte, so weit es des Verfassers eigenes werk ist, sich bequem in das
erste oder zweite einordnen lassen, muste aber wegen der aus „Herders Nachlass*'
fast vollständig abgedruckten correspondcnz beider freunde abgezweigt werden. Die*
ses material hätte verarbeitet werden müssen^ besonders aber durfte der mit absieht
oder aus unkentnis (vgl. s. 84) weggelassene schluss des biographischen bildes (aas
der correspondcnz mit Jacobi, Goethe und Gleim zu ergänzen) nicht fehlen, der sun
endurteil unentbehrlich ist.
Es herscht eine edle wärme in der ganzen schrift , aber ein hitziger und inhu-
maner ton gegen wissenschaftliche gegner. Der stil ist nicht ganz rein von undeut-
schen und trivialen ausdrücken, richtige gedauken sind mehrfach durch hyperbeln
beeinträchtigt; auch unverdaute phrasen sind nicht ausgeblieben. Was ist x. b. s.71
^^ein hoher spinozismus des herzens, womit man alle disciplinen der Wissenschaften
und küuste mit enthusiastischer liebe umfasst?" Der herr Verfasser verspricht in
der vorrede (s. II) einen zweiten teil; möge er ihn zu grösserer reife durchu*beiten.
BEBLIN, 19. MÄRZ 1871. B. SUTUAN.
Die poetischen Beiträge zum Wandsbecker Hotheu gesammelt and
ihren Verfassern zugewiesen von Carl Christian Kedlleh Dr., ord.
Lehrer an der Kcalschule des Johannoums. Hamburg. 1871. Gedruckt
bei Th. G. Meissner E. H. Senats Buchdrucker. GO s. 4.
Es ist nun einhundert jähre her, dass in dem holsteinischen flecken Wamlsbeck,
der vor Hamburgs toren liegt, an stelle des schlechten , unsaubem Wandsbecker Mer-
kurs eine neue zeitung gegründet ward, deren vorlag Dode übemalmi. Zum redac-
teur gewann derselbe den damals noch unbekanteu Matthias Claudius. Der Wandsbecker
Bothe, in Hamburg gedruckt und in Wandsbeck geleitet, sollte den Hamburger bl&t-
tem, namentlich der kaiserl. ]»rivil. Neuen zeitung, den markt abgewinnen, und
zwar allein durcli seinen wert, ohne ])runk, anpreisung und irgend ein gckla]tper mit
namcn. Das ist natürlich nicht gelungen. Das blatt fand wenig vorbreitang; auch
WBIMHOLD, ÜB. REDUCH, WANDaBECKEB BOTHE 371
der neue titel seit 1773: „Der Deatsche, sonst Wandsbecker Bothe'' schaffte kei-
nen grösseren absatz , so wenig als die empfehlungen der Claudiusschen litterarischen
freunde. Der biedere Matthias ward allmählich in seiner zeitungsschreiberei träge,
das blatt schleppte sich mühsam hin, und als Bode am 22. juni 1775 plötzlich seinen
rcdacteur absetzte, folgte bald das ende des Bothen. Am 28. october dieses Jahres
erschien die letzte nummer.
Das in herkömlicher schlechter ausstattung yiermal wöchentlich erscheinende
blatt brachte als hauptteil die laufenden politischen nachrichten, ausserdem aber
gelehrte anzeigen und poetische beitrage. Die politischen artikel sind mit wenig
ausnahmen nach wochenblätfcerbrauch anderen Zeitungen entnommen; die gelehrten
dagegen sind selbständig, und in ihnen wie in den poetischen beitragen liegt der
litterargeschichtliche bleibende wert des unscheinbaren blattes. Nach Bodos grund-
satz erschien alles namenlos; nur hier und da steht eine dunkle chiffer. Das reizt
zum nachforschen, denn gerade die ffinf lebensjahre des Wandsbecker Bothen, 1771
bis 1775^ sahen ein neues geschlecht auf unsern Pamass steigen und Claudius galt
als genösse der kühnen Jünglinge. Herr dr. Redlich verdient daher für seine Untersu-
chung der Wandsbecker namenlosen grossen dank; dass er dazu gerüstet wie kein
anderer war, werden die leser dieser Zeitschrift schon wissen. — Nach einer einlei-
tung , welche die geschichte des Wandsbecker zeitungswesens , insbesondere des kurz-
lebigen Bothen gründlich vorlegt, und über die kritischen beiträger, die meist ver-
borgen bleiben, handelt,, folgt von s. 13 an auf 44 stattlichen zweispaltigen quart-
seiten das Verzeichnis der poetischen beitrage und dahinter ein genaues namenregi-
ster. Die anonymität bot natürlich verschiedene grade der Schwierigkeit im lüften :
neben wolbekanten gedichten, neben andern, deren Verfasser aus musenalmanachen,
anthologieen und nicht seltenen gedichtausgaben bald zu entdecken waren, steht eine
zahl anderer , für die erst aus verschollenen drucken , aus briefwechseln , ungedruck-
ten papieren und aus Zeitungen die Verfasser auftauchten. Und selbst der mehijäh-
rigen unermüdeten und scharfsichtigen tätigkeit Bedlichs ist es nicht gelungen, alle
stücke zu benamsen: doch ist das Verzeichnis dieser hartnäckigen unbekanten rühm-
lich klein gegenüber den aufgedeckten, obschon unter diesen wider eine zahl als
nicht sicher von den unzweifelhaften abfällt.
Dr. Redlich vergrössert den wert seiner arbeit, indem er alle poetischen bei-
trage, welche sich nur im Wandsbecker Bothen- nachweisen lassen, vollständig
abdrucken lässt, mit ausnähme von theaterreden, gelegenheitsgedichten untergeord-
neter art und den meisten Übersetzungen. Dadurch wird bei der grossen Seltenheit
des Wandsbecker Bothen, von dem ein einziges ganz vollständiges exemplar bekant
ist, dessen die königl. bibliothek in Berlin sich erfreut, ^in löblicher bcitrag zu der
poesie jener jähre gegeben.
Ref. weiss nur wenig zu der arbeit Redlichs nachzutragen.
Zu dem Bürgerschen epigramm „Die list Penelopens*' 8.31 ur. 170 teile ich
noch folgende beweisende stelle aus einem briefe Boies an Bürger vom 12. märz 1778
mit Boie erteilt ratschlage zu dem druck der gedichte und sagt: „Das epigramm
auf Penelope (und doch bleibt es ebensogut weg , da es nachgeahmt ist) und noch
ein paar andere kleine gedichte der art könten wol, denk ich, für die selten gespart
werden, auf die nur eine strophe komt.'* Ich bemerke femer, dass im Almanach
der deutschen musen auf 1774 s. 170 eine mit V. gezeichnete bearbeitung dieses nach
der Überschrift daselbst ursprünglich englischen epigramms sich findet.
S. 40 nr. 158 , die odc C. Fr. Cramers beim abschiede der grafen Stolberg
erschien zuerst, wie dr. Redlich auch vermutet, als cinzeldruck, den ich besitze. Cra-
372 WÖBNER
nicr hat in meinem exem])lar zwischen die Überschrift und den anfang eigenhändig
eingeschaltet : (Ein gespräch zwischen meinem genius und mir). — Die Kieler oniFer-
sitätsbibliuthek verwahrt unter Cranierschen papieren auch noeh die mit Heynes
imprimatur versehene rcinschrift des gcdichts, das hier den titel tragt: Sohmexz und
trost Links davon steht später zugesetzt: 10. sept
Als niciit unwichtigen nachweis vermisse ich zu s. 41. 42: 1773 nr. 192. 198.
1774 nr. 5. Scholl bricfe und aufsätze s. 124. 125. 129.
Für Goethes verfasserscliaft von ,, Der weit lohn *' s. 42 nr. 202 hat herr t. Lö-
per in der ilempelschon Goetheausgabe III. s. 40G anm. 3 einen wol nicht genftgen-
den beweis zu l>ringcn gesuclit, ebendaselbst anm. 2 aber gegen DGntser dfui epi-
gramm »,Der autor*' (s. 41 nr. 178) als nicht goethisch bezeichnet, worin ihm gern
beizustimmen ist. Der freund Publikum des o])igramm8 und Goethes ansieht von
demselben (vgl. z. b. Goettie und Werther s. 234) passen schlecht zosammen. SaL
Hirzel hat beide epigramme in seinem neuen Verzeichnis s. 8 unberücksichtigt
gelassen.
S. 30 nr. 136 ist aus versehen Schönboms zögling ein söhn Bemstorflfs genant,
während er nur ein vetter war, vgl. Schönboms aufzeichnuugon über erlebtes s. 20
meines druckes.
Druckfehler: s. 45 nr. 4G Alm. der deutschen Musen 1780. 185 f&r 235.
Gern hätte ich einige der rätsei lösen mögen , die für dr. Redlich Übrig blieben,
allein ich komme nicht über unsichere Vermutungen hinaus, die allzeit besser ver-
schwiegen als ausgerufen werden. In sachen der poetischen anonjinität ist manches
blatt zwisclien dem Kieler schlossgarten und der St. Jürgenkojtpel vor Hamburg hin
und her geflogen, auch das geständnis ausgetauscht, dass diese niedere jagd ein
ermüdend wesen von zweifelhaftem erfolge ist, nachdem eine gewisse zahl von wild
eingefangen ist. Glückwi'inschend sehe ich auf die stattliche beute des niiljagendcn
Weidmanns an der Alster, und wünsche nur, wenn ich einmal das scheue gewild der
Göttinger und Vossischen almanache im netze aufliänge, dass ich gleiches lob höre
wie Carl Christian Redlich.
KIEL, MAITAO 1871. K. WKIMUOLD.
Benott de Sainte-More et le roman de Troic ou les mdtamorphoses
d'Komere et de Tepopee greco-latine au moyen-äge par A« Joly«
professeur a la faculte des lettre» de Caen. Paris, A. Franck, 1870.
[Extrait du XXVll. volume des mcmoires de la societo des antiquaircs de Nor-
mandie.]
Unter obigem titel haben wir die erste vollständige ausgäbe des Homan de
Troie erhalten , nach welchem Herbert von Frib<lur sein liet von 'Troye dichtete.
Joly versieht das 30108 Imlbverse enthaltende gedieht mit einer sehr sorgfältig
geschriebenen einleitung, welche den ersten teil des ganzen Werkes bildet (lOil Sei-
ten). Hierauf folgt im zweiten teil eine kurze auskunft über die handschriften (II,
p. 1 — 1(>) , sodann eine für die vergleichung mit dem deutschen gedichtc sehr brauch-
bare inhaltsangabe (p. 11)^24); am ende des buches folgen erklärende anmerkangen
und variant^m (p. 304 — 414) und schliesslich ein glossar (414-445) über schwie-
rige und Benoit eigentümliche werte. Der referent überlässt das urteil über die
benutznng des vorhandenen kritischen apparats, über die anmerkungen und das glos-
sar den romanisten von fach (cf. Zarncke , litt, centralbl. 1870 p. 310) und beschrankt
sich die einleitung zu besprechen, welche des interessanten genug bietet. Joly
bezeichnet sie am Schlüsse nur als bruchstück einer grösseren arbeit Ober die
ÜB. BSMOIT DB 8. MOBE , LE BOMAN DE TBOIE ED. JOLY 373
Schicksale des Roman de Träte im mittelalter. Das erste oapitel der einieitung
(;') — 19) haudelt im allgemeinen über die griechisch -lateinische epopöe im fran-
zösischen mittelalter und über das besondere Interesse, welches Benoit de Sainte-
More bietet. Das zweite capitel (bis p. 109) handelt von des dichters leben und sei-
nen werken. Das französische mittelalter unterscheidet drei grosse ströme der dich-
tung: lea chansons de geste, les romans de la table -Bande und die gedichte antiken
Stoffes (ne sont qtie trois materes ä nul homme entendant de France, de Bretagne
et de Borne la grant). In Frankreich sind die gedichte der beiden ersten gattungen
vielfach ediert, dagegen die der letzten art bis jetzt stiefmütterlich bedacht worden.
Joly führt in dieser richtung nur noch an : A. Pey , essai sur U Bamans d'Eneas
(Paris, Didot 1856) und le roman d' Alexandre par Le Court de la Vülethassetz et
Etigene Talbot. (Paris , Durand 1861). Für das herbeiziehen der dem mittelalter
scheinbar so femliegenden antiken stoffe gibt Joly folgende erklärung: das mittelal-
ter ist ein grosses ' kind , welches wie alle kinder unaufhörlich nach neuen geschich-
ten verlangt. Seine erzähler und dichter schöpfen an allen quellen, die sich ihnen
bieten; alle sind in ihren äugen von gleichem werte. Ein sehr gut gewähltes citat
aus dem roman Flamenca (ed. P. Meyer, Paris 1865, v. 613 — 97) verschafft uns
einen nicht geringen begriff von der bekantschaft der altfranzösischen dichter mit den
mythen und der geschichte des altertums, und Joly weist nach, dass die dort genan-
ten antiken stoffe in noch jetzt erhaltenen altfranzösischen gedichten behandelt sind.
Die gedichte dieser gattung teilt Joly in drei klassen; die einen geben direct die
antiken quellen wider oder wenigstens die quellen, welche man im mittelalter für
antik hielt. Es sind Übersetzungen, soweit man damals zu übersetzen wüste. Hier-
her gehören die romane vom Äneas, von Theben, von Cäsar, von Troja. Die dich-
ter dieser romane haben Virgil, Statins, Lucanus, Dares und Dictys jeder in seiner
weise übersetzt. Die zweite klasse bietet stoffe aus der alten geschichte, welche im
altertum nur in geschichtlichen werken behandelt waren. Hierher gehört die geschichte
Alexanders des grossen nach Pseudo - Callisthenes und Curtius. Die gedichte der
dritten klasse sind freie phantasiegebilde der mittelalterlichen dichter, denen diese
nur antike namen und eine art antikes colorit zu geben für gut fanden. Hierher
gehören die romane von Athis und Porphyrias, Ypomödon und Protesilaüs. Joly
findet in der art und weise, wie die französischen dichter des 12. und des 17. Jahr-
hunderts die antiken stoffe aufgefasst haben und zu ihrem eigentum zu machen such-
ten, bei aller Verschiedenheit vielerlei übereinstimmendes, und von diesem gesichts-
punkte aus steht er nicht an, Benoit de Sainte-More den vater der renaissance in
der französischen poesie, für seine zeit den Schöpfer einer neuen dichterschule zu nennen.
Im zweiten capitel wird sorgfaltig der nachweis geführt, dass Benoit de Sainte-
More, der dichter des Boman de Troie, und Benoit, der dichter der normannischen
reimchronik ein und dieselbe person sei. Der meister Wace beklagt sich in den letz-
ten Versen des Boman de Bou, dass Heinrich 11. einen dichter Benoit statt seiner
beauftragt habe, die geschichte der herzöge der Normandie aufs neue zu bearbeiten
und fortzusetzen. Die Vollendung des Bou föUt nach 1170, später also die Vollen-
dung der Chronik des Benoit, nach Joly ist als blütezeit des meister Wace 1160 anzu-
setzen. Benoit schrieb unter Heinrich 11. und zwar in der späteren zeit seiner regle-
rung. An einer stelle der chronik (7892 — 7910) spricht der dichter von langen krie-
gen, Verfolgungen und Unruhen, welche der könig zu bestehen gehabt. Joly bezieht
diese stelle auf die zeit nach der ennordung des Thomas Bocket und auf die empö-
rungen, die Heinrichs söhne gegen ihren vater anzettelten. An einer spätem stelle
stellt der dichter der chronik den kÖnig als siegreich aus den bestandenen kämpfen
374 WÖBNEB
and Prüfungen hervorgegangen dar. Diese stelle lässt sich nach Joly auf drei »dt-
pnnkte beziehen: 1) anf 1175, in welchem jähre der könig den anfrfihreriBcheii söh-
nen verzeiht und die rebellischen provinzcn wider unter seine herschaft brin^; 2) auf
1184, in welchem jähre nach dem tode des jungen Heinrich sich die Böhne mit ihrem
vater, die königin mit ihrem gatten wider aussöhnen. 3) auf 1187, als jähr desfrie-
densschlusses zwischen Frankreich und England und der rfistongen zu dem krenazo^.
Joly entscheidet sich für 1175; er glaubt nämlich, dass der Baman d^lSneat das
jüngste werk Benoits gewesen sei, die chronik das zweite und der Baman de Troie
das letzte und reifste. Dies widerspricht der annähme des Ahh6 de la Bne (Jtmg-
leurs et Trouveres 1. 11.) , dass Benoit von Heinrich ü. mit abfassung der ohronik
beauftragt worden sei, weil er sich schon durch ein grösseres werk — den Monum
de Troie — - berühmt gemacht habe. Es werden allerdings in der chronik die her-
zöge der Normandie öfters mit den beiden Roms und Griechenlands verglichen. —
Die vcrgleichung des romans mit der chronik ergibt, ¥rio Joly ausführt, eine g^rosse
anzahl charakteristischer Übereinstimmungen. Der dichter hält sich streng an seine
quelle, in der chronik an den Guillaume de Jumiege, im roman an Dares, er lieht
hier wie dort lange moralische bctrachtungen — welche der ernsten and lehrhaften
natur des Normannen entsprechen — , hier wie dort holt er die ausschmückimgen seiner
erzählung mit Vorliebe aus der geographie , am anfang der chronik steht ein 850 verse
langer geographischer excurs nach Isidor, im romane gibt der dichter vor dem anf-
treten der amazonen eine grosse erdbeschreibung nach Julius Honorins Orator nnd
Paulus Orosius , dieselbe, vor deren Übersetzung Herbort von Fritslar zurückschreckte;
hier wie dort erweist der dichter sich als einen belesenen mann, der Plinios, Jor-
nandes und Isidor citiert; nicht nur im roman, sondern auch in der chronik findet
sich jene verliebe für die darstellungen der minne und der ritterlich höfischen sitte»
welche den antiken beiden nach unserm geschmack komisch genug zu gesiebt steht.
Aber gerade in diesem zuge liegt Benoits Originalität, welche diesen dichter hei
den Zeitgenossen so beliebt machte. Weder bei Wace noch bei Geofiroy Ghümar,
welche wie Benoit die geschichto der Normannenherzöge besangen, findet sich etwas
dem ähnliches. Im vergleich mit Wace ist Benoit mehr ein dichter, Wace mehr der
trockene, naive Chronist. Letzterer repräsentiert die untergehende schule der alten
chantres de geste, Benoit die neue höfische schule, die von Heinrich IL berorsngt
wurde. Schliesslich stellt Joly p. 54 — 56 charakteristische Wörter zusammen, die
gleichzeitig dem roman und der chronik eigentümlich sind. — Für die identit&t des
dichters sollen noch folgende beiden stellen sprechen: die eine steht in der chronik
bei erzählung des sieges bei Hastings: Veez merveiUes poez entendre, Qvi'en vo$
deit mostrer et aprendre Qu" Agamemnon ne li grezeis Ne hien plm de quamuUe
reis Ne porent Troie en diu anz prendre ; Unqiies rCi sorent tant entendre, Joly
glaubt, dass Benoit, als er diese stelle der chronik schrieb, sich mit dem Baman de
Troie schon beschäftigt habe, die andere stelle findet sich im Baman de Troie
V. 13'i31 — 45 (nicht wie im text steht 12440). Vorausgegangen ist die crz&hlnng der
liebe des Troilus und der Briseida; der dichter liat im anschluss daran fiber den
Wankelmut der frauen gespottet , da unterbricht er plötzlich seinen orgoss , nm sich
für diese verse die Verzeihung seiner herrin zu erbitten , die er riche dame de riche
rei nent (13442). Das bezöge sich also höchst wahrscheinlich auf Eleonore Ton
Guienne, und da die königin 1184 nach längerer gefangenschaft in freiheit gesetit
wurde und sich mit ihrem gcmahl wider aussöhnte , setzt Joly in diese seit die ent-
stehung des romans. — Alles dies zusammengenommen bringt Joly tu der übenen-*
gnng, dass roman und chronik werke desselben dichters seien. AnffaUiger weise fbr-
ÜB. BENOiT DE 8. MOBE, LB BOMAN DB TBOIE ED. JOLY 375
tigt Joly einen sehr nahe liegenden einwiirf in einer anmerkxmg ah (pag. 56) , näm-
lich den, dass der dichter der chronik sich norBenoit, der dichter des romans Benoit
de Sainte-More nenne. In der chronik komt der naroe Benoit nur in den gereim-
ten inhaltsühersichten vor, die späterer hand sind, und im roman nennt sich der
dichter an allen stellen schlechthin Benoit, mit ansnahme einer einzigen stelle, die
freilich gleich am anfange des gedichtes steht v. 127 (Mes Beneeiz de Seinte More
Ita controv^ et faü et du) , so dass wenn dieser vers wegfiele , die frage in dieser
fassung gar nicht erhoben werden könte.
Um Benoit streiten sich Normandie, Tonraine und Champagne. Der abbe de
la Rue nent den dichter einen normannischen ritter. P. Paris weist nach , dass in
der Champagne bei Troyes eine kleine stadt Sainte-More liege, bekant durch ihre
gotische kirche. Ein noch nnediertes gedieht von Eustache Deschamps, welches von
gelehrten männem der Champagne handelt, nent neben einem Pierre comestor (=
mangeur) auch einen Sainte-More^ der den Ovid erläutert habe. (Le Mangeur qui
par trea grant eure Voulut sdholastique traüer, Sainte-More Ovide esdairer). Joly
weist nach, dass darunter Chrestien Legonais de Sainte-More gemeint sei, der
den von Philipp v. Vitry „moralisierten" Ovid in prosa Übersetzt habe. Ginguenö
(Vhistoire lOteraire de Fraiice) spricht von einer kleinen stadt Sainte More bei Tours ;
diese Annahme hat den beifall von F. Michel gefunden (Chronique des Dncs I. einl. 15.
111, 397). Es befindet sich nämlich eine handschrift der chronik in der bibliothek
zu Tours, die dorthin aus dem kloster Marmoutiers gekommen ist. Daraus folgert
Michel, Benoit sei zu St. More geboren, habe das gelübde zu Marmoutiers abgelegt
und dort seine chronik geschrieben, von welcher ein exemplar, vielleicht sogar das
eigenhändige, in der klosterbibliothek geblieben sei. Joly bestreitet diese annähme,
weil chronik und roman nicht darnach aussehen , als seien sie von einem mönche hin-
ter den klostermauern verfasst. Er findet eine Widerlegung auch darin, dass Benoit
in der chronik nach GuiUaume de Jumiege erzähle , Heinrich I. habe die abtei Mar-
moutiers mit woltaten überhäuft und viel zu den dortigen grossen bauten beigetragen.
Wäre Benoit in Marmoutiers mönch gewesen , sagt Joly , so würde er dies aus eige-
ner erfahrung und nicht nach einem gewährsmanne erzählt haben. Joly erklärt sich
also für die normannische abstammung des dichters. Wenn Benoit von den Nor-
mannen spricht, nent er sie les nötres (chron. 95i0. 9558. 37335. 37368). Von den
Franzosen spricht er mit bitterkeit und groll, er freut sich über ihre niderlagen und
sieht darin eine Züchtigung gottes für den hass, mit welchem sie die Normannen
verfolgen (chron. 12640). Freilich es lässt sich in der Normandie kein Ortsname
Sainte-More nachweisen, aber der abb^ de la Bue gibt an, dass Leland nach der
chronik von Coventry normannische ritter namens Hugues Guillaume Joscelin de
Sainte-More anführe.
Einen hauptbeweis für die normannische abstammung des dichters findet Joly
in der spräche der beiden werke. Die chronik ist uns nur in zwei normannischen
handschriften erhalten. Die handschriften des romans sind meistens im dialect der
Ile de France geschrieben, eine einzige aber — von Joly mit K bezeichnet — bie-
tet vorzugsweise den normannischen dialect, welcher in einzelnen formen sich auch
noch in zwei anderen handschriften, bei Joly J und L, nachweisen lässt. Hier
erhebt sich zunächst wider die frage: spricht der dialect der mehrzahl der hand-
schriften des romans nicht für einen dichter der Ile de France, im gegensatz zum
normannischen dichter der chronik? Joly sucht diesen zwcifel folgendermaassen zu
beseitigen. Die imperfecta der 1. (schwachen) conjugation haben im normannischen
dialect eine besondere endung (3. pen. sing, ot, plur. oent). Während nun bei den
376 WÖKNER
diciltcrn der Ile de France die imperfecta* aller conjngationen mit einander ohne
unterschied reimen, können bei den normannischen dicht^jrn die imperfecta der 1^ con-
jugation nur mit ihresgleichen reimen. Diese Scheidung ist so streng dnrchgefQhrt,
sagt Joly, dass wenn man ein ursprünglich französisches gedieht ins normannische
umsetzen wollte, an den stellen, wo ein imperfcct der 1. conjugation mit dem imper-
fect einer andern conjugation zusannnentrefFen würde, der Übersetzer geradezu neue
reime finden müsto. Umgekehrt ist die Umschreibung eines normannischen gedichts
ins Altfranzösische sehr leicht , da der französische Schreiber die endongen ot einfach
mit oitj oent mit oient vertauschte. Joly hat mit ausnähme von drei stellen diese
regel im Homan de Troie genau beobachtet gefunden und scbliesst daraus , dass
auch der ursprüngliclie tcxt des Roman de Troie normannisch gewesen sei. Die
handschrift K stellt nach Joly den übergangszustand dar. Der französische abschrei-
ber der anznnelimenden rein normannischen handschrift behielt die normannischen
fonnen bei, besonders wo der reim sie erheischte, aber beim abschreiben kommen
ihm häufig instinctiv die formen des dialects der He de France in die feder. Dass
die Chronik sich nur im nonnanuischen dialect erhielt, liegt im wesen des gedichtes,
die Popularität aber , welche bald der roman erhalten haben muss , verwischte seinen
ursi)rünglichen dialect und Hess ihn fast ausschliesslich in dem dialect verbreitet wer-
den, welcher immer mehr für die dichtersprache der her sehende wurde. Instmctiv
für den oben beschriebenen Übergang des romans ins Altfranzösische , ist das beispiel,
welches Joly II, p. 395 anführt: K schreibt vers 13821 f.: Or U vait mielz qu'ü ne
quidot ' Gar sovcnt vit fo qite li plot. J schreibt: Or 1i veit mielz qxie ne ctiidoit | Car
savent vott ce que li plot halb normannisch, halb altfranzösisch. 1) schreibt: Car
sorent vi qni U plesoit reimend mit cuidoit^ für das perfect das imperfect corrigie-
rend. Nach einer sehr sorgfältig ausgeführten Schilderung des einflusses, welchen
der hof Heinrich des II. und die persönlichkeit dieses und seiner gemahlin Eleonore
auf die entwickelung der französischen dichtkunst ausgeübt hat , geht Joly dazu tiber
den stand unseres dichters zu bestimmen. Wie meister Wace unter dem schütz und
der gönnerschaft dieser Eleonore dichtete , so scheint auch Benoit die gunst der köni-
gin, aber in noch höherem grade die gewogenheit des königs, den er öfters „den
guten könig" nennt, genossen zu haben. Wie Wace war auch Benoit nach Jolys
ansieht ein gelehrter geistlicher (clerc), für uns drängt sich hier der vergleich mit
Herbort auf, der sich einen gelärten schiwläre nent. Für diese ansieht spricht
Benoits bekantschaft mit dem lateinischen, seine ausdauer für so langwierige arbei-
ten , der ton seiner langen moralischen betrachtungen , die Vorliebe , mit welcher er
die freigebigkcit der fürsten gegen die kirche preist, namentlich rechnet Joly hiczn
noch , dass Benoit in der beschrcibung Trojas {Roman de Trott v. 2981) die gewöhn-
liche formcl: „comme je tronre lisant** durch die andere ersetzt: ("o trorent bien
li clcrc lisant. Freilich köntc es auffallen, dass ein geistlicher die galanten aben-
teuer der Medea, der Briseida, des Achilles mit solcher verliebe erzählt, aber an
demselben hofe lebte auch ein Gautier Map, archidiaconus von Oxford, der in seinem
buche De nugia curialium sich noch viel schlimmeres zu erzählen nicht scheut. An
diesem punkte seiner nntersuchung angelangt, weist Joly geradezu auf einen Benoit,
abt von Peterborough hin , welcher eine lebensbeschreibung Heinrichs II. hinterlas-
sen hat. Benedxctns abbas Petroburgensis de vita et gestis Henrici II. priinnm
cdidit Hl, Hearnius. Oxonii 1725. 2 voll. Der dichter Benoit kündigt an mehre-
ren stellen der chronik an , dass er die taten Heinrichs beschreiben werde. Der oben-
erwähnte Benoit ist 117f) j^rior der kirche der heiligen drcieinigkeit zu Cantcrbnry,
1177 verleiht ihm der könig die abtei von Peterborough, derselbe Benoit wohnt der
ÜB. BENOIT DE 8. MORE, LE BOMAN DE TROIE ED. JOLY 377
krönuDg des Bicliai^d Löwenherz bei, welcher ihn zu seinen treuesten freunden rech-
nete. Über ihn ist zu vergleichen Robert Swafhumi Historia coenobii Burgensis
tarn. II der Scriptores Ilistoriae Änglicanae a Josepho Sparkio editi, wo es z. b.
pag. 97 heisst: „plurimos libros scribere fedV Er starb ende September 1193.
Dieser Benoit hat ausserdem hinterlassen eine chronik seiner zeit vom jähre 1170 bis
1192 (im französischen text steht fälschlich 1190 statt 1170), ein leben des Thomas
Becket und eine erzählung von dessen wundern. Freilich haben wir nirgends eine
nachricht davon , dass dieser Benoit auch französisch geschrieben habe. Joly regt
die frage, ob der Benedictus Petroburgensis eine person sei mit dem diditer Benoit,
nur an, ohne sich bestimt für die bejahung der frage zu entscheiden.
Ist der Roman d'Eneas ein werk desselben dichters? Im roman selbst ist
der name des Benoit nirgends genant und das blosse nebeneinander der beiden romane
in den handschriften ist noch kein entscheidender grund für diese annähme. Im
Roman de Troie v. 28127 — 28130 lesen wir: Et Eneas s'en fu ralez , Issi com voa
ai avez, Par mainte mer o sa navie, Tant qu'il remest en Lombardie, (Joly citiert
hier ohne angäbe der verszabl mit den Worten: v, plus loin le Roman de Troie),
Aus diesen Worten würde , wenn man für beide romane denselben dichter annimt, die
frühere entstehung des Roman d' Eneas vor dem Roman de Troie hervorgehen. Her-
bort tibersetzt , v. 17379 flF. : £neas vür dannoch sider | manigen tac vur sich. \ Von
Veldidte meister Heinrich \ hat an sime buche geJäri | Von £nea8 vart, | wä er un
die sinen hin karten. \ Sie blieben zu Lamparten: demnach wüste Herbort nicht, dass
Benoit auch der dichter der welschen £neit sei. Zu den gründen, welche für die
Priorität des Raman d' Eneas sprechen, komt femer, dass Yeldekes Jßneit zum grös-
seren teil im jähre 1175 vollendet war und 1184 ihren abschluss fand, während Her-
borts liet von Troie in das 1. Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts gesetzt wird. Wäre
der Roman d" Eneas später, als der Roman de Troie, so müsten sich doch man-
cherlei anspielungcn auf das frühere gedieht finden. Nach dem anfange des Eneas
liat Meuelaos Troja erobert, von einer solchen Stellung des Menelaos ist im Roman
de Troie keine rede, in dem Eneas ist eine trinkschale erwähnt, welche Aeneas bei
gelegenheit einer gesantscliaft von Menelaos erhalten hat, davon weiss der Roman
de Troie nichts; der vorzüglichste held neben Hector ist im Roman de Troie Troi-
lus, im Eneas ist dieser nicht einmal erwähnt, als der Trojaner beim gang durch
die unterweit die troischen beiden widersieht. So führt Joly aus, p. 99 anm. 1 ; frei-
lich in imsrer Eneit p. 100, 13 IF. heisst es: ouch vander dar na | der Troiäre vile
da, j die von sime lande, \ di er alle wole erkande. \ da was der kunich Priamüs
tind der küne Tröilüs \ Paris unde Hector \ und der wise Änthenor. Dieser punkt
bedarf also noch einer aufklärung. Joly führt nicht an, was vielleicht am nächsten
lag, die durchaus verschiedene erzählung über die abfahrt des Aneas aus Troja in
beiden romanen. Im Roman de Troie v. 27235 — 427 ist die sache folgendermaassen
dargestellt: Ehe Aneas, der von den Griechen (von Agamemnon cf. Dares c. 43) des
landes verwiesen ist, mit seinen schiffen absegelt, fordert er die übriggebliebenen
Trojaner auf, den Antenor ins lund zurückzurufen, an ihm würden sie den besten
berate und schirmherrn haben. Antenor ww nämlich , wie Benoit 27153 — 56 erzählt,
bereits ausgewandert, wohin wisse er nicht: Anthenoi's qo me dit Dithis Guerpi la
terre et lo pais; mes il fie me reconte mie Oü il ala, n^en quel partie. Als nun
Antenor auf diese einladung fröhlich nach Troja zurückkehrt, wird er von Aneas, der
sich inzwischen die sache wider anders überlegt hat, auf das feindseligste empfan-
gen und aus dem lande getrieben. Aneas wirft ihm vor, er habe den Griechen ver-
raten , dass Aneas bei sich die Polyxena verberge (cf. Dares c. 41 und 43), dadurch habe
378 WÖRMEB
er den zorn des Agamemnon auf diesen gelenkt und ihm die Verbannung zugezogen.
Bestürzt weicht Anten or mit seinen leuten ans dem lande, komt mit seiner flotte
nach manchen anfallen ins Adriatische mecr nnd es gelingt ihm endlich dort auf
der insel Corcyra Melaena eine stadt zu gründen , welche bald sich grosser bltkte und
eines weiten ruhmcs erfreut , so dass die in Troja zurückgebliebenen landsleute, ange-
lockt durch diesen ruf, in die neue colonie übersiedeln (cf. Herbort 16926 — 17051).
Diese darstellung beruht auf einer heillosen Verwirrung der berichte des Dares einer-
seits und des Dictys andererseits und überdies auf einer fehlerhaften aufßissiuig der
gleich anzuführenden stelle des Dictys (cf. Dunger, die sage vom trojan. kriege
pag. 38). Dictys V, cap. 17: Aeneas apud Trojam manet, gut post Orascorum pro^
feciionem cunctos ex Dardano aiqtie ex proxima penitisula adit, orat uU seeum
Anteriorem regno exigerent. Quae posiqaam praeverso de se nuntio AfUenari cognüa
sunt , regrediens ad Trojam imperfecto negotio ctditu prohibetur. Ita ooaetua cwm
omni patrimonio a Troja navigat devenitque ad mare Adriaticum, muUas interim
gentes harharas praetervectus. tibi cum his, qui secum iiavigaverant, civUaiem eon^
dit appellatam Corcyram Melaenam. Ceterum apud Trojam postquam fama, est
Antenorem regno potitum, cuncti qui hello residui nocturnam civitatis cladem eoa-
serant , ad cum confluunt brevique ingens coalüa muliitudo. TanttM amor erga Ante^
norem atque opivio sapientiae incessei'ai, fitque princeps amicitiae ejus rex Ckbre»
norum Oenideus, Wie Dunger gegen Frommann richtig geltend macht, ist regre^
diens — aditu prohibetur und das folgende coactus . . navigat , devehitqi*e auf Äneas,
nicht auf Antenor zu beziehen ; Aneas gründet die stadt Corcyra Melaena (Benoit
v. 27407 Corchirre Menelan ot nom) , Antenor bleibt als könig in IVoja zurück and
die versprengten Troer sammeln sich wider um ihn. Sein bundesgenosse wird Oeni-
deus, könig der Cebrener, eines volksstammcs im troischcn gebiet; welche Benoit
(v. 27393 Apelez est Oendeus, JReis estait de Gerben et dus) falschlich aber consc-
quent mit Antenor nach dem wcsten versetzt. Da Benoit das regrediens ad Trojam
auf Antenor bezog , konte er mit einigem rechte sagen , Dictys berichte nur von der
widerkunft Antenors nach Troja, erzähle aber nicht, wohin er vorher ausgewandert
sei. Die stelle des Dares c. 43 lautet: Ut dies recessionis advenit, tempestates mag^
nae exortae suni, ei per aliquot dies remanserunt, CalcJuis respofidit inferis non
esse satis factum. Neoptolemo in mentem venit , Polyx^nam cujus causa pater perie-
rat, non esse in regia inventam. Agamemnotiein poscii , conqueritur, aceusat exer^
citum, Antenoretn accersiri juhet, imperat ut J)^q^ifcU eam et adduccU, Is {Anie-
nor) ad Aeneam venit et diligentius perquirit: Utque primwn Argivi proficiscantwr,
Polyxenam ut absconditam invenit (cf. c. 41), ad Agamctnnonem adducit. Agamem'
non Neoptolemo ülam tradidit isque eam ad tumtUum patris jugtdat Agatnewmon
iratM Aeneae, quod Polyxenam absconderaty cum s^hs protinus patria excedere jubet,
Aeneas cum suis omnibus navibus proficiscitwr, Antenori terram tradidit
Hactenus Dares Phrygius Grands literis mandavit, nam is ibidem cum Anteium$
f actione remansit. Aus der vcrglcichung beider stellen ergibt sich leicht, in welcher
weise Benoit sich aus beiden eine neue erzählung zurecht gemengt hat. Der Boman
de Troie 28082 --28130 erzählt weiter (cf. Herbort 17330 — 17385) , dass Äneas nach
Vertreibung Antenors von den nachbarvölkem hart bedrängt worden sei. Er wendet
sich um hilfe an Diomedes , der aus seinem reiche verbaut worden war. Dieser folgt
der einladung und besiegt in fünftägigem kämpfe die feinde. Als die künde von die-
sem siege nach Griechenland komt, wird Diomedes gütlich wider in sein reich auf-
genommen, er kehrt dortliin zurück, wälircnd Aneas durch manches meer fährt, bis
er sich in der Lombardei niederlässt (cf. 28127 if.). Diese partie beruht wider anf
Ob. BSNOiT DB 8. MOBB, LB BOMAN DB TBOIB BD. JOLT 379
einer flüchtigkeit Benoits im übersetzen des Dictys. Dictys VI, c. 2 keisst es: Oeax
Nauplii filius Palamedia frater cognüo Graecoa ad buo8 remeare, Ärgos venu: Ibi
Aegialeti atque Cliftaemnesiram fahis nuntiia ack>ersum maritoa amuU. —■ Ita Aegiaie
advenieniem Diomedem per cives aditu prohibet. — Eo {C(}rmthum) Diamedes exptU-
S118 regno et Teucer . . . convenitmt, — Neque muUo post cognoscit IHomedes in
Aetolia ab hü, qui per absentiam ejus regmun infestahant, Oeneum multimodis
afflictari: ob quae profecttM ad ea loca omnes gtios auctores injuriae repererat, inter-
ficit, metuqtie omnibus circum locie injecto faeüe ab sma receptus est. Hier hat
Benoit offenbar für Oeneum Äeneam gelesen, vielleicht war dies sogar ein Schreib-
fehler der ihm vorliegenden handschrift. cf. Frommann zu 17330 und Dunger p. 38. —
Aus dem vorstehenden ziehe ich den schluss: hätte Benoit den Eneas nach
dem Rofnan de Traie geschrieben , so wäre es nicht glaublich , dass er im anfang des
Eneas auf diese seine frühere erzählung gar keine rücksicht genommen und sich in
der hauptsache mit dem begnügt hätte ^ was Virgils Aeneis ihm an die band gab.
Für den Boman d' Eneas nimt Joly, wie für den Boman de Traie einen
ursprünglich normannischen text an. Denn die texte, welche wir jetzt haben, sind
zwar rein französisch, aber auch hier hat Joly beobachtet^ dass die imperfecta der
ersten conjugation nur mit ihresgleichen reimen^ ja es finden sich stellen^ wo der
abschreiber genötigt gewesen ist, die normannische form der imperfectendung stehen
zu lassen, weil sie mit einem andern wort auf ot reimte. (Demanda li se eleamot:
Cele li dit q^'anques ne-sot. — Et aperceiMt que Vesg'ardot, Et sospira, que pltis
nH pot). Freilich nimt Joly fQr drei stellen die obige behauptung zurück und gesteht
in einer anmerKung pag. 99 zu , dass in rein normannischen gedichten sich im reime
freiheiten fänden, wie die destruisouent mit aloent, demenoent mit vendouent rei-
men zu lassen, aber dadurch ist die richtigkeit des aufgestellten kriteriums noch
nicht erschüttert. Mit rücksicht auf eine stelle des Eneas, welche sich bei Veldeke
pag. 282, 24—283, 13 widerfindet, nimt Joly an, der roman sei am hofe Hein-
richs II. zur zeit des Joannes Saresberiensis (f 1180) und des Giraldus Cambrensis
geschrieben. Die im roman dem Aneas schuld gegebene Unzucht wirft Giraldus Cam-
brensis de iUaudabilibus Waliiae cap. 7 den Galliern vor, welche durch, diese sünde
einst Trojas, später Britanniens verlustig gegangen seien. Derselbe Vorwurf findet
sich in Joannes Saresberiensis Policraticus {opera omnia, ed. Parker. Oxonii t. HI,
206). Diese beziehung ist doch zu vag, um für die Zeitbestimmung einen festen
anhält zu geben. — Dass die darstellung beider romane vielfache ähnlichkeiten ent-
hält, ist allgemein bekant: hier wie dort sind die göttcrpartieen gestrichen; hier wie
dort phantastische beschreibungen, welche mit gold, silber, cdelsteinen verschwen-
derisch umgehen; die besclireibung Trojas erinnert an die bcschreibung Carthagos,
das grabmal der Camilla an die Schilderung des Chambre de BeauU^ die liebesaben-
teuer des lason, Paris, Troilus, Achilles an die des Aneas, der Dido und Lavinia.
Trotz alle dem schränkt Joly sein endurteil doch dahin ein, es sei nicht unmöglich,
dass Benoit der dichter auch des Boman d" Eneas sei. Der Boman de Thebes wird
Benoit abgesprochen, er soll das werk eines jüngeren nachahmers sein, auch die
Chronique ascendante des Ducs de Normandie ed. Pluquet 1821 hält Joly für das
werk eines compilators aus Wace und Benoit. — Zum schluss stellt Joly als resul-
tat seiner Untersuchung hin: 1) Es ist sicher, dass Benoit der Verfasser der chronik
und Benoit de Sainte More ein und dieselbe person ist. 2) Es ist sicher, dass
Benoit unter Heinrich IL zwischen 1175 und 1185 gedichtet hat. 3) Es ist sicher,,
dass er seiner abstammung nach ein Normanne war oder wenigstens im normanni-
schen England seine zweite heimat gefunden hatte. Damit macht Joly zu guter letzt
380 WÖRNEB, ÜB. BENOIT DB S. MOEE, LE ROMAN DB TBOIB ED. JOLT
noch der auffassung Michels concesBionen , nach welcher Benoit oder dessen vorfSah-
ren aus der Tourainc stamten, aber nach England eingewandert waren. Zn dem
erbe Heinrichs von Anjou gehörte auch die Touraine, vielleicht kam Benoit, als
Heinrich das reich Wilhelm des Eroberers erbte, in dessen gefolge nach England
hinüber. 4) Es ist möglich, dass Bcnoit auch den Roman d'EnetM gedichtet hat.
Handschriften zählt Joly 22 auf, von denen sich 13 (A — M) auf der kaiser-
lichen bibliothek zu Paris befinden, sie werden nach der nummer des katalogs auf-
gezählt, zwei handschriften N. 0. befinden sich in der bibliothek de rArsenal, eine in
der bibliothek de Tecole de medecine de Montpellier, eine zu Wien, zwei zu Venedig,
zwei zu Petersburg, eine im British Museum (bibl. Harleiana). Ans dem 13. Jahr-
hundert sollen stammen die Pariser B. E. G. I. J. K. N. 0, eine Yenediger, die
Harleiana, eine Petersburger; aus dem 14. Jahrhundert die Pariser D. F. H. L, die
Wiener, eine Venediger; aus dem 15. Jahrhundert die Pariser A, die von Montpel-
lier, eine Petersburger. Alle handschriften, welche Joly einsehen konte, sind im
dialect der Ile de France geschrieben, mit ausnähme von dreien: Dies sind K
(nr. 2181, früher 7900. Fonds A. Lancelot), über welche schon oben gesprochen ist
/ (nr. 1 553) hält Joly für picardisch , G (nr. 903) für burgundisch. Eine vierte hand-
schrift J zeigt bisweilen rein normannische formen, ist aber in der haaptsadie ftH-
franzüsisch. Die meisten handschriften, darunter die besten enthalten lücken und
man muss sie also gegenseitig sich ergänzen lassen. In K fehlt das ende vom
vers 29402 an, Joly folgt von da an der handschrift J (1610). Der grundsatz, wel-
chen Joly für die feststellung des textes aufstellt, lautet wörtlich: On voü ausfii,
quHl ne faut pas songer ä reproduire un text unique mais les redresse et Us com-
pleter lea uns par les autres. Da der normannische dialect auch in K nicht streng
durchgeführt ist, hat Joly nicht unternommen auf eigene band den text dnrchnmor-
mannisieren , sondern sich begnügt K genau widerzugeben und seine lücken ans B, D,
J auszufüllen. Über das Verhältnis der handschriften untereinander, ihren wert oder
unwert, ihre ursprünglichkeit oder abhängigkeit ist nichts gesagt Mehrere hand-
schriften, zwei Pariser G C, die ältere Petersburger und die Wiener sind wahr^
scheinlich von schreiben! geschrieben^ welche das original nicht immer verstanden
und dadurcli die sinnlosesten fehler in den text brachten. Joly macht es nnserm
Frommann zum Vorwurf, die schlimsten derartigen fehler aus der Wiener handschrift
abgedruckt zu haben. Ich hebe einige stellen heraus : Frommann Germ. 11. pag. G4
unter 3: Et li boves ilec ficha Ou Alexandres les trova für Et les hones (bomes)
ihiec ficfia Ou Alexandres les trova. Femer: E au sertor et au tomai ffir E en
estor e en tomoi, German. II. pag. 79 unt«r 36 : A vos meesnie di ge hien \ Qen eett
pais nena restes , I se^dement vos en reales für A vos meisme di ge bien, Qen eest
iHiis ne arestis, Isfielement vos en aUs. Germ. n. p. 66 v. 58: a des tiem que tiuU
ne li face für Ades criem que mal li face. v. 74: Ne veut amer nen ot ami für Ne
vetU amer ne n'ot ami. v. 92 : Assez la colle et embrace für Assez Vacolle et embrace,
Lässt nach dem vorstehenden Jolys ausgäbe für streng wissenschaftliche anfordemn-
gon in kritischer hinsieht manches xu wünschen übrig, so bietet sie doch einen bes-
sern und lesbarcrem text, als wir bisher hatten, und erleichtert uns wesentlich die
vergleichung unseres deutschen dichters mit seiner quelle. Trotz Frommanns aner-
kanter arbeit würde eine neu angestellte vergleichung keine wertlose nachlese brin-
gen. Hoffentlich erhalten wir nun auch eine vollständige ausgäbe des Roman d'Eneas.
ST. APRA BEI MBISSEN, JULI 1870. DR. B. WÖBinER.
Halle, Hiichdnirkerri de« WaiRcnhaoRe*.
ZUM BEOWULF.
Die nüchteruheit und vorsieht, womit Grein die recension der
angelsächsischen texte unternahm , kam keinem derselben so sehr zu gute
wie dem Beowulf: denn an keinen war schon so viel vorschnelle conjec-
turalkritik verschwendet worden. Während diese letztere erst in Grundt-
vigs ausgäbe (1861) den höhepunkt erreichte, wurde durch Dietrichs
„Kettungen" im XI. bände der Zeitschrift für deutsches altertum auch
Grein zu noch grösserer Zurückhaltung gemahnt, welche denn auch seiner
Sonderausgabe des gedichtes (1867) das gepräge gab. Inzwischen hatte
Heyne 1863 seine aufgäbe in demselben geiste verstanden und blieb ihm
auch in der zweiten aufläge 1868 £reu; so dass in der kritik dieses Wer-
kes nunmehr ein förmlicher Wetteifer in conservativer tendenz eingetre-
ten ist. Je einseitiger und unbedingter diese richtung wird , je mehr
hat auch sie ihre gefahren. Die kritik droht so am ende zu einer art
Scholastik zu werden, die an den überlieferten buchstaben gebunden die
aufgäbe hat, wol oder übel einen sinn für ihn heraus zu stellen. Man
muste es darum willkommen heissen, als in Bugges Bemerkungen zum
Beowulf (Tidscrift far philologi og paecUigogik VIII) die kritik bei aller
besonnenheit und ernsten methodik wider freiere schwingen regte. Indem
ich mich dem urteil Bugges fast in allen von ihm behandelten stellen
anschliesse , gebe ich im folgenden , untermischt mit mehrern exegetischen
erörteiomgen , neue beitrage zur herstellung dieses so wertvollen textes.
In einer reihe von fällen nehme ich jedoch nur emendationen oder les-
arten der älteren bearbeiter in schütz, die von Grein und Heyne über-
einstimmend verworfen sind und daher unter einer sich feststellenden
tradition zu verschwinden drohen. So oft ich Grein entgegenzutreten
veranlasst war, bin ich mir doch immer von neuem bewust geworden
wie viel wir ihm verdanken, da es erst auf der breiten und sichern
grundlage seines glossars möglich geworden ist, fragen der kritik und
exegese wahrhaft erspriesslich zu verhandeln ; wie denn auch , der ersten
bahnbrechenden bearbeitung in der „Bibliothek" zu geschweigen, seine
Sonderausgabe für den text manchen schönen gewinn gebracht hat.
1. 30 fg. pemlen wordum tveold tvinc Scyldinga,
leof landfruma lange ähte,
ZEIT8CUB. F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. UI. 25
382 M. RIEOEB
Hier stört der mangel des objectes zu (ihte, Thorpe suppliert land aus
landfruma, Grein wie es scheint gleichfalls. Hievon mit recht unbefrie-
digt mutet Heyne dem leser noch mehr zu, nämlich aus dem vorher-
gehenden iveold den accusativ geweald zu ergänzen. Er bringt hiefür
einige stellen zusammen, die bei weitem nicht genügen eine so schwie-
rige freilieit zu rechtfertigen. Man lese lif für leof.
2. 34 aUdon ])ä Icofnc peodmi.
Das subject liegt hier in swcese gesUtas 29 noch nahe genug; gleichwol
ergänzt Grein, offenbar aus metrischen gründen, in seiner Sonderaus-
gabe cdvdon J)ä [leöde]. Ebenso
ü52 grette pd [glcedmod] guma oderne
1870 gccyste pä [cüdltce] cyning (edelum göd;
wogegen er folgende fölle
/. «2 -- ^^^ ymheode pä ides Helminga
1405 ofereode pd ceddinga bearn
2516 gegreUe J)d gumena geliwylcne
3157 geworJdofi pd Wedra Icodc
unangetastet lässt. Heyne, der zufrieden ist sobald der vers vier silben
hat, bringt nur G52 die ergänzung giddum. Diese sieben fälle einer auf
pd fallenden zweiten hebung ohne darauf folgende Senkung schätzen ein-
ander hinlänglich und keiner sollte mit einer ergänzung heimgesucht
werden. Fälle, wo pd ebenso grosses gewicht auch an anderer versstelle
hat, wird es zur genüge geben; ich habe für jetzt Gen. 2533 pä onette
Abrahamcs mceg bemerkt.
3. 83 fgg. Nc wois hit Icngc pd gm,
l)mt sc sccg hete ddtim siverian
cefter wcdnide ivcßcnan scolde.
Die Schwierigkeit dieser stelle ist von Bugge durch die Wahrnehmung
des compositums ddumsiverlan = gencri soceri(pie in Verbindung mit
Greins emendation ecghete trefflich gelöst worden. Ich habe nur noch
hinzuzufügen, dass Umge bisher fölschlich als comparativ von lange ver-
standen wurde. Nicht nur weil Icnge eine anstössige, wenig bezeugte
nebenform von leng ist (lul. 375. Güdl. 109), sondern weil der compa-
rativ hier keinen sinn gibt , er müste denn mit Heyne wie das neuhoch-
deutsche länger = ziemlich lang verstanden werden, was gegen den
angelsächsischen, überhaupt gegen den alten Sprachgebrauch verstösst.
Bei Grein ist dieser übelstand aller dmgs durch die emendation cuium
wvrum für ddum swerian vermieden; versteht man aber die stelle wie
Bugge, so muss man in lenge das seltne, mit ^eZeii^c und ^eJan^ gleich-
bedeutende adjectiv erkennen , das in derselben bedeutuug praesto einmal
im Crist (1G85 kirn hid lenge hnsel) vorkomt, und man muss übersetzen:
r
2üM BEOWULP 383
es war noch nicht vorhanden, d. li. die zeit war noch nicht gekommen,
dass der schwerthass dem eidam nnd schwäher erwachen sollte. J
4. Ellengeest 86 neben dem sonst (807. 1349. 1617. 1621) über-
lieferten ellorgeest stehen zu lassen war meines bedünkens eine überflüs-
sige gewissenhaftigkeit der herausgeber. Ellen und ellor stehen sich
graphisch so nahe, dass nichts leichter geschehen konte als ein verlesen
zu gunsten des in der poesie gebräuchlicheren wortes eilen, wodurch frei-
lich ein seltsames wenig plausibles compositum entstand. Schlimmer
war jedoch dass die deutschen herausgeber sowie Grundtvig, die spur
der Engländer verlassend, hier sowol als bei dlorgeest und wcelgcest
(1331. 1995) den zweiten compositionsteil für Spiritus nahmen; und die
Schreibung ellorgast 807. 1621 war dafür kein genügender grund. Grein
war sogar consequent genug, den gefrässigen riesen auch 102, wo er
als se grimnia gcest bezeichnet wird, zu einem geist zu stempeln, wäh-
rend es Heyne hier beim gast bewenden liess. Wenn der erlegte nicor
1441 gryrdic gyst, wenn der drache 2228. 2312 gyst und gcest, 2560
gryregiest, 2670 inwttgcest, 2699 niägcest genant wird, so liegt es doch
wahi'lich nahe , jene bezeichnungen Grendels als eines fremdartigen wesens
von unbekanter herkunft (vgl. cehvihta eard 1500) ebenso aufzufassen.
Was daran irre machte war die in unser gedieht eingeflossene theologi-
sier^de auffassung des riesen als eines teufeis. Für teufel wie für engel
ist ^e theologische bezeichnung geister in der angelsächsischen poesie
geläufig genug; daher konte der interpolator 1265 fg. ohne umstände sagen
panon (aus der wüste und, wie es scheint, aus Kains samen) wöc fela
geosceaft gästa, w(es pära Grendel sunt, konte ihn 1275 hdlegäst, 133,
(wie 1747 den wii'klichen teufel) wergan gast nennen, während der erste
fortsetzer 1356 fgg. sich noch begnügte, ihm einen Ursprung von dyrnum
gast um beizulegen, womit seine materialität so gut wie die anderer teu-
f eissöhne der sage vereinbar bleibt.
5. Wiht unhdlo 120 zog Thorpe verständig zum vorhergehen-
den satz und übersetzte augM of unhappiness; die deutschen heraus-
gfeber construieren es als subject zum folgenden satz und erklären „der
dämon des Verderbens." Nun heisst bekantlich wiht nicht dämon, son-
dern wesen, und dient, zunächst nur mit beigesetzten attributen, erst in
der spräche des spätem mittelalters ohne solche, als euphemismus für
elbe, teufel u. dgl.; auf alle fälle aber ist diese genetivische structur
der alten spräche nicht gemäss. Dennoch wird man sich nicht geni bei
Thorpes abteilung beruhigen; denn der satz sorge ne cüäon, tvonsceafl
wera gewint keineswegs durch die zweite apposition wiht tmhdlo. Ich
schlage daher vor zu lesen wiht unfäio und verweise auf die von Grein
25»
384 M. RIEGER
unter unfreie und tüiht citierte glosse Aelfrics (Wright, volume of voca-
bularies p. 17): satiri vel fauni vel scUni vel fauni ficarii unfdh men,
tvuduwäsan, unfcele ivihtu (? wol wihta).
G. 135 fgg. efl gefremede
mordbeala (lies -healu) märe and no mearn fore
fdehde and fyreiie.
So mit ausnähme Grundtvigs die herausgeber, ohne sich zu fragen , ob
der vers äucli zwischen der präpositiorr und ihrem casus schliessen dürfe.
Sie wurden bei der sorgfältigsten Umschau schwerlich ein einziges siche-
res beispiel gefunden haben. Man muss an den versschluss mit Orundt-
vig ein komma setzen und fore adverbial auf mordbealu märe beziehen,
zu welchem f^Me and fyrene in apposition steht.
7. 159 ceglceca ehfcnde wres.
Hier setzen die herausgeber [afol] regheca um den vers vollständig zu
machen. Gerade so gebaut ist aber das zweimal vorkommende hemi-
stich secg hetsta 947. 1759, auch wenn man auf die ältere ausspräche
hefista zurückgeht , bei der die beiden ersten Silben zusammen die hebung
ausmachen. Es müssen daher auch diese beiden stellen emendiert wer-
den, was Heyne richtig erkant hat. Nur dass seine aushilfen wenig
einleuchten: 1759 sccg [sc] hetsta zu setzen ist doch allzu wolfeil und
946 fgg. so abzuteilen
Nu ic JBeowtilf
J)eCy secg hetsta^ me for sunu wylle
freogan on ferhde
geht durchaus nicht an , da das stark betonte pec ebensowenig im auf-
iact als das ebenfalls stark betonte hdsta in zweisilbiger Senkung (oder
wenn man lieber will in nebenhebung) stehen kann.^ Ich halte das
Schema secg hetsta durch das doppelte vorkommen dieser fonnel för
gesichert, wenn es überhaupt für die möglichkeit seiner auftactioseu
erscheinung eines besondern beweises bedarf: denn mit auftact ist es ja
häufig genug. Gleicliwol halte auch icli das liemistich cvglceca für unvoll-
stämlig. Das logische Verhältnis des satzes zu den voniusgegaiigenen
negationen, die er in den positiven ausdruck umsetzt, bleibt nicht gut
unbezeichnet und es wird geheissen haben ac sc (egUeea; vgl. 739. JOOO.
Da aucli acheca geschrieben wurde, ist der irrtum des vorauseileudeu
Schreiberauges begreiflich.
1) Das honiistich pegn heUtan 1871 bleibt ]iier ausser betracht, weil mtn
auch fegen sprechen koute ; Jupgstealdra 1889 ist verstümmelt, heti Itealle 1926, wofür
Heyne gut heä [on] heaUe, wahrscheinlich aueli.
ZUM BBOWULP 385
8. 183 fgg. Wä biä pcem pe sceal
purh slidne nid säwle bescufan
in fyres fceäm, fröfre nc ivenan,
tvihte gewendan.
Die deutschen herausgeber nehmen dieses gewendan intransitiv im sinne
von evadere. Hierauf hätte wol auch Thorpe verfallen können ; ihn hielt
vermutlich die erwägung zurück , dass ivendan oder gewendan in diesem
sinne nicht leicht ohne bezeichnung des zustandes vorkomt, aus dem oder
in den man „wendet," so wie auch dass es sonst nicht gerade vom ent-
rinnen aus einem zustande des zwanges in die freilieit gilt. Der aus-
druck erscheint hier in der tat viel zu schwach. Thorpes emendation
freilich frofre ne wene wilde geweordan ändert viel und schafft doch
keinen gefälligen, rhetorisch wirksamen ausdruck. Ich glaube dass es
hiess wUe gewendan, appositionell zu frofre ne ivenan construiert und
mit daher fortwirkender negation.
9. 296 fgg. öd pcet eft hyred
ofer lagustreämas leofne mannan
wiulu wundenhals tö Wedermearce,
gödfremmendra swylcum gifede hid,
peet pone hilderces hol gediged.
Der ausdruck ledf)ic mannan ist hier ganz generell und gelit auf jedes
mitglied der schiftsmannschaft , wie in unsrer militärischen dienstsprache
der mann für jeder mann gilt: denn die vorhergehenden werte des Wäch-
ters trennen nicht etwa den führer vom gefolge , sondern gehn durchaus
auf und an die gesamtheit der ankömling«. Der Sprecher beschränkt
aber alsbald seinen ausdruck, indem er hinzufügt: welchem der tapfern
es zu teil wird, dass er aus dem kämpfe heil davon komt. Das ist wirk-
lich so einfach wie möglich und wurde von Kemble und Thorpe richtig
aufgefasst. Grein aber zog vor , auf diese eine stelle ffir swyle die bedeu-
tung qiiisque zu begründen und machte aus dem satz eine sentenz: jedem
derer, die gut tun, ist es verliehen, dass er aus dem kämpfe heil davon
komt: eine sentenz, gegen die alle tapfem protestieren, die je im kämpfe
gefallen sind , und deren Verkehrtheit man weder dem Wächter noch dem
dichter zutrauen darf. Dies erkante auch ohne zweifei Heyne; statt
aber zur richtigen auffassung zurückzukehren , änderte er god in gM und
erklärte: einem solchen unter den kriegern ist es verliehen usw. Abge-
sehen von der unnötigen änderung ist auf diese art der singular gediged,
der aucli swyleum zum singular stempelt, unverständlich, weil vorher
von keinem einzeln die rede war und auch leofne tnantian dem sinne
nach plural ist.
386 M. aiEQEB
10. 366 fg. no pu him wearne geteöh
pinra gegncwida gicedman, Hröägär.
So liest Heyne mit Thorpe und Kemble, und die Übersetzung ist: ver-
sage ihnen nicht das vergnügen deiner antwort, oder appositioneil: deine
antwort , das vergnügen. Grein zerlegte gicedman in glced man. Schwer-
lich findet sich irgendwo in ceremoniöser oder nur in episch stilisierter
anrede eines höheren die allgemeinste bezeichnung des menschengeschlech-
tes gebraucht: denn mon se mcbra Cri. 441 geht auf den menschen in
geliere, der als der geistbegabte, zur Seligkeit bestirnte se mdra heisst,
nicht auf einen vornehmen, dem Cynewulf das werk gewidmet hätte.
Aber auch gicedman ist vom übel. „Das vergnügen deiner antwort"
ist eine französisch stilisierte formel moderner höflichkeit, die sich hier
sehr fremdartig ausnimt; und gicedman als apposition wäre gar zu unbe-
holfen. Es verdient alle beachtung, dass bei Tkorkelin glcednian steht,
was die unanstössige Übersetzung ergibt: versage ihnen nicht sich deiner
antwort zu erfreuen. Leider erfährt man durch Grundtvig hier nicht
wie Thorkelins abschriften lesen.
11. An zwei stellen des Beowulf, 368 und 2636 finden sich in
composition mit ivig und güd die formen gcfawum und getawa statt der
gewöhnlichen gcatwum und geativa. Grein erkent in seinem Glossar mit
hinweis auf ahd. gazaiva ein von gcafve verschiedenes getave an; Heyne
setzt an beiden angeführten stellen die gewöhnliche form. Die in der
mitte stehende form geataivum 395 wird auch von ihm geduldet. Gerade
diese muss emendiert werden, freilich nicht in gcatwum, sondern mit
EttmüUer, Grein ^ und Bugge in gctatvum, denn
nü ge moton gangan in eowrum ffüdf/eataivum
ist ein unrichtiger vers: das zweite hemistich kann nicht zwei reimstäbe
haben, wenn das erste nur einen hat. Durch diesen vers wird die form
gefaw (nicht gefawe, denn die llexion ist ja stark) = ahd. gazawa, mhd.
gezauwe, allem zweifei entrückt; aber da sie genau in derselben bedeu-
tung und demselben gebrauch erscheint wie die häufigere geatu (nicht
geattve, was wider schwache flexion voraussetzen würde), so wird es aucli
höchst wahrscheinlich, dass wir in ihr nichts als eine transpositiou von
getaw vor uns haben. Kundigere werden hiefär analogion aus deutschem
Sprachgebiete beizubringen wissen.
12. Mit dem sinne der verse 445** — 451 steht es nicht so schlimm
als MüUenhoff (Zeitschr. f. d. a. XIV, 199) meint; nur darf man ymb
mines lices feorme nicht mit den deutschen herausgebern erklären „um
meines leibes unterhalt,'^ noch auch mit den englischen „um meinen
leichenschmaus." Beowulf sagt: „ich denke, Grendel wird, wenn er
ZUM BBOWOLF 387
kann, es den Geaten machen wie früher den Dänen. Nicht darfst du
mein haupt (im grabhügel) bergen, sondern er wird, wenn ich sterbe,
mich haben, er trägt die blutige leiche davon, denkt sie zu kosten, frisst
sie, der eingänger, ohne bedauern, zeichnet (mit seinem tritt? mit mei-
nem blute?) die mörhöpu: nicht darfst du um die verzehrung meiner
leiche länger sorgen." Hrodhgar hätte nämlich sonst dafür zu sorgen,
dass die leiche seines gastes vom feuer verzehrt würde: dieses, ^.gcesta
gifrost (1123), kann sehr gut als eine leiche feormiend gedacht und mines
Uces feorm daher für „mein leichenbrand** gesagt werden, ebenso gut
aber auch für eine andre art der verzehrung ; und das ironische spiel mit
diesem doppelsinn scheint mir von guter poetischer Wirkung. Ich bezweifle
ob mines Uces feo^'ni überhaupt heissen könne „meines leibes nahrung";
denn lic ist doch immer nur der körper als haus oder Werkzeug der
seele, im unterschiede von ihr gedacht, nicht aber der belebte Organis-
mus als sojcher; und tätige, freiwillige functionen desselben werden, so
viel ich sehe, nie dem lic zugeschrieben. Man vergleiche übrigens die
widerkehr desselben gedankens bei Äscheres tod 2124 — 28.
13. Geofon 0tim weöl tvintres wyhn, wie 515 fg. überliefert ist,
heisst entweder mare undis aestuabat, hiemis aestus oder undis mari-
nis aestuabat hiemis aestus. Die letztere auffassung ist verzwickt wie
die crstere; zu ihren gimsten jedoch verschmähen die deutsclien heraus-
geber Thorpes unschuldige hessornng tvylme , mittelst der man übersetzen
kann mare undis aestuabat, hiemis aestu. Ich erinnere daher an 1131
holm storme tveöl, 1423 flöd blöde weöl, 2139 holm heölfre weöl und
Andr. 1548 flöd i/dum tveöl, wodurch die fügung geofon ydum iveöl hin-
länglich gestützt scheinen dürfte ; und hofl'entlich wird niemand die Über-
lieferung dennoch halten und tvintres wtjlm in apposition zu geofon brin-
gen. Es versteht sich, dass dann auch iveöl nicht zu v. 516 gehören
kann , wo es die allitteration unschön überlädt. Wegen des vom Schrei-
ber unterdrückten auslautenden e s. unten § 33.
14. 574 hwceäere me gesMde pcet ic mid sweorde ofslöh.
Hier schlägt Bugge, weil durchaus kein gegensatz zu dem vorhergesagten
stattfindet, zu lesen vor swä pcer me gescblde. Dadurch wird zugleich die
anomalie der zwei reimstäbe im zweiten halbvers auf einen im ersten besei-
tigt, freilich nur um den mindestens sehr seltnen fall von vier gleichen reira-
stäben herzustellen. Grundsätzlich erscheint dieser fall indess nicht unzu-
lässig , da zwei paar ungleicher reimstäbe in der Stellung ab ab oft
genug vorkommen, im Beowulf, wenn ich nicht irre, 64 mal. Für den
Schwerpunkt des verses, der nach dem gefühl der alten durch zwei reim-
stäbe im zweiten halbvers auf einen im ersten nachteilig verrückt wurde,
388 M. RIEGER
kann es nichts ausmachen , ob vier gleiche oder zwei paar ungleiche auf
beide vershälften gleich verteilt werden. Die beispiele des erstem fal-
les im Beowulf hatBugge s. 61 gesichtet: nachdem mehrere durch emen-
dation beseitigt sind, bleibt ihm ausser dem obigen nur noch übrig
1351 idese onltcnres; oäer earmsceapen.
Ein drittes unverdächtiges beispiel ist jedoch
221)6 hat and hreölimdd Jddiv (hs. hlcewum) oft ymbehwearf.
Wie Bugge 574^ dadurch entschuldigt finden kann, dass s hier in
zweierlei consonanten Verbindung auftritt, und 1351 dadurch, dass hier
vocale allitterieren , verstehe icli nicht.
Darüber spricht sich Bugge nicht aus, welche bedeutung das swä
seiner cmendation in 574 haben soll. Sicher keine andre als „obgleich,"
unter ersctzung des punktes nach nicaras mgene durch ein komma. Nur
so erhält man eine richtige gedaukenfolge. Die ganze erzählung wird
von Müllenhoff beanstandet, der nach 549 den dichter mit hwcedcrc
icfärafcng 578 fortfahren lässt, das zwischenliegende dem interpolator
auf rechnung setzend. Ein liauptgrund, den er liiefür beibringt, der 575
erwähnte, aber nach 539 fgg. vom dichter niclit beabsichtigte nichsen-
kampf ist indess niclit stichhaltig: denn niveras sind dieselben weseu,
die 540 hronflras und 549 mercflxas genannt werden. Fisch ist nur
ein tier, das im wasser lebt: daher bezeichnet walfisch ein Säuge-
tier, dessen natur doch den Seefahrern aller Zeiten bekant war; daher
die beschreibung des ior im runenlied als mflva smn, der doch sein fiit-
ter auf der erde sucht und eine mit wasser umgebene wohnung hat.
Daher denn auch die nlceras , nach denen Grendels see nicera tnere
heisst (845), ihre häuser (1111) oder höhlen am lande haben und on
mfshlcodum liegend angetroffen werden (1427), dann aber ins wasser
springen (hie on wc(j hruron 1430), worauf einer von ihnen im schwim-
men geschossen wird. Ganz falsch wird nicor von Grein (in der Son-
derausgabe) und Heyne mit Wassergeist glossiert: sie haben mit den nich-
sen oder necken unsrer sagen nichts zu tun. In althochdeutschen glos-
seii wird crocodUiis mit nihlnis widergegeben, im heutigen Isländisch
gilt nih' für hlppopotamus (Myth. 456); und so werden die niceras 143<f
von den vorher erwähnten wyrmas oder sddracan als wildeor unter-
schieden, wie auch 1510 unter sredcor verstanden. Es sind offenbar
wirkliche seetierc gemeint, und der ganzen fanfcistisch ausgebildeten Vor-
stellung wird am ende das walross zu gründe liegen, wozu die 1511
erwähnten hildefuxas passen. Die niceras sind boshafte feinde der men-
schen, J)ä on nndernmS off bcwitiffad sorhfulne sht on se(jlräde (1428 fg.):
und eben das wird, zum erweis ihrer Identität mit den später erwähn-*
ZUM BEOWÜLP 389
ten niceraSf bei den von Beowulf erlegten meerfischen vorausgesezt :
ptet syädan na ynih brontne ford brinüiäende lade nc letton (567 fgg.)»
Aber auch was Beowulf bei der ersten erwähnung eines nichsenkampfes
123 sagt wrcec Weder a nid (weän ähsodon) wird dadurch klar: des
beiden landsleute hatten bei der seefahrt durch die nichse schaden gelit-
ten. Orkn ist nordisch phoca, aber 112 werden orcneas auf eine linie
mit eotenas und ylfe gestellt. Man sieht daraus wie die seetiere zu
fabelwesen werden; und als solche heissen die orcneas, wie es scheint,
auch niceras, Bekant ist der mut der walrosse und ihre gefährlichkeit
für kleine fahrzeuge.
Kann die erzählung 550 — 77 wegen der nichse nicht angefochten
werden, so halte ich um so gewisser die zuletzt besprochene stelle
419 — 2^) für eine Interpolation. Der hier erwähnte nichsenkampf muss
denn doch, wenn das gegenteil nicht ausdrücklich gesagt wird , für iden-
tisch mit dem später erwähnten gehalten werden: hier aber heisst es
von den Geaten, dass sie es selbst gesehen hätten, wie Beowulf aus dem
kämpfe kam (419), während er nach 580 bei den Finnen ans land stieg,
also erst nach längerer reise die Geaten wider erreichen konte. Es ist
klar, dass der interpolator hier einer abweichenden tradition folgt und
die erzählung 550 — 77 nicht im äuge hat, in welcher auch für 5 gebun-
dene feinde (420) — niceras nämlich — entschieden kein räum ist.
15. 525 ponne wene ic tö pe wyrsan gepingea.
Hier müste der gen. plur. gepingea von dem gen. sing, wyrsan in der
weise abhängen , wie dieser casus sonst nur zum Superlativ , nicht zum
comparativ construiert wird. Es liegt am nächsten, hier, wie 398 und
709, gepimjcs zu lesen; wem dies nicht gefällt, der setze für wyrsan
den gen. plur. wyrsa, lasse aber den dichter nicht pejoris constitutorum
i>tatt pejoris constituti sagen.
16. Die stehende formel Beöwtdf madeldde, bcarn Ecgpeöwes ist
631, nachdem die folgende rede Beowulfs schon zu voller genüge ein-
geleitet worden, ganz gewiss nur als eine einschaltung zu betrachten,
dm'ch die ein Schreiber überflüssiger weise für die deutlichkeit sorgen
wollte.
17. 848 fg. atol yäa geswing eal genienged
hat on heolfre.
Hier hat Grein in seiner ersten ausgäbe die auf der band liegende , ganz
unbedenkliche besserung hätan heolfre vollzogen , sie aber in der zweiten
wider zurückgenommen, nachdem Heyne ihm nicht darin gefolgt war.
Wer je Thorkelins druck aufgeschlagen hat weiss, dass aus der band-
Schrift durchaus keine wortabteilung zu entnehmen ist; und wenn man
dazu 308 ongyton für ongytan, 577 mannon für nmnnan, 788 hafton
390 M. RIEOEB
für lueftan als handschriftliche lesart bemerkt findet, so kann die Schrei-
bung hat o?^ far haian gar kein bedenken erregen. Oder hätte am ende
der dichter, 'wenn er in ungeheuerlicher fantasie annahm das wasser des
sees sei durch das beigemischte blut heiss geworden, in einer so wun-
derlichen prolepsiö der Wirkung, wie sie in jenem hat on lieolfre läge,
eine rhetorische Schönheit gesucht? Das wäre denn doch durch ähnliche
talle wahrscheinlich zu machen.
18. 867 fgg. hwilum Cyninges pegn,
gunia gilphlceden gidda gemyndig,
se pc ecdfela ealdgcsegefia,
warn gemunde, tvord öder fand
soäe gebunden, secg eft migan
sid Bcowidfes snyttrum styrian.
Das scheint doch auch für einen interpolator zu ungeschickt ausgedrückt.
Dass einer ein anderes wort oder, nach Heyne, andre werte findet,
wenn vorher gar nicht gesprochen, sondern um die wette geritten wor-
den, ist unsinn; es ist auch dann verkehrt, wenn man das Wettrennen
übersehend an das vorausgegangene gespräch über Beowulfs heldengrösse
denken will, denn es ist nur wider dasselbe thema, was der Sänger
vorbringt. Ich habe schon in meinem lesebuche die werte word öder
fand söde gebunden mit recht als eine parenthese bezeichnet: „ein wort
fand das andre, richtig gebunden;" denn der mann erzählte nicht nur,
sondern er trug (wie die ausdrücke 872 — 74 deutlich verraten) mit epi-
scher kunst vor, d. h. in allitterierenden versen, wofür wir in jener
parenthese eine interessante technische bezeichnuug finden. Noch aber
bleibt der satzbau unerträglich unbeholfen, wenn wir nicht dem ganz
müssigen und leeren secg das hier so nahe liegende, den epischen Vor-
trag ebenfalls technisch bezeichnende secgan unterschieben. Unser Schrei-
ber oder einer seiner Vorgänger hat fehler in den text gebracht , die sich
nur aus dem vorfinden einer abkürzung für aw erklären: 158 banum für
hanan, 2821 gumiim für gunuin; ein abkürzungszeichen aber konte so
gut übersehen wie verlesen werden.
19. 985 fgg. wccs steda ncegla gchwgic style gdicost
hcedenes handsponi hiUlerinccs
egl unheöru.
Was mau hier aus steda zu machen habe lasse ich dahin gestellt^
gestehe jedoch, dass mich weder tireins noch Heynes auslegung ganz
befriedigt. Für handsporu dagegen bessere ich mit Zuversicht handspcru.
Die urkundliche lesart besagt nicht, wie Heyne will, calcaria manus,
sondern vestigla manus, was keinen siim hat; Grein setzt dafür Jia$id^
spora =- calcar manus, aber welch ein verkehrtes bild wäre das! um so
ZUM BEOWULP 891
beissen zu können müste solch ein nagel an der handwurzel heraus-
gewachsen sein. Egl nehmen dann beide herausgeber als das Substantiv
für palea und es soll die kralle bedeuten , die unter dem bild einer ähre
(und zwar einer ausgedroschenen) bezeichnet werde. Das glaube wem es
gefällt. Ich erkenne hier weiter nichts als das unflectierte adjectiv egle
yndestus mit vor vocalischem anlaut elidiertem oder nur durch nachläs-
sigkeit der Schreibung weggebliebenem e; in unJiedru folgt der flectierte
nom. plur. neutr. nach.
20. 1002 fgg. Nd pcet yde bid
tö befleonne — fremnie se he wille! —
ac gesacan sceal säwlberendra
nt/de genydde niääa heama
grundbüendra gearwe stowe,
peer Ms lichoma legerbedde feest
swefed cefter synible.
Grein fand hier bei seinen englischen Vorgängern die emendation gesecan
für gesacan, das in der tat einen gedanken von beleidigender Unrich-
tigkeit ergibt. Denn nur wer des lebens überdrüssig ist, „erstreitet"
sich etwa den tod, den man ihm versagen will. Gleich wol stellte
Grein gesacan wider her. Dafür emendierte er in seiner ersten aus-
gäbe verständig genyded, da wol der mensch durch not genötigt dem
grabe, aber nicht einem durch not genötigten grabe entgegen eilt,
und ergänzte hinter säwlberendra das augenscheinlich fehlende gdiwylc,
worauf Heyne in beidem folgte; aber in der Sonderausgabe zog Grein
beides wider zurück und Heyne in seiner zweiten ausgäbe folgte auch
jetzt wider. Die stelle ist kaum und nur in der gezwungensten,
unschönsten weise im verstehn, aber die handschrift ist freilich in
ihre ehre wider eingesetzt. Ich schlage vielmehr noch eine andre
ergänzung vor. Den satz nd paet pde bid tö befleonne muss man
wol als negative prolepsis des folgenden gedankens fassen , da es zu viel
zugemutet ist, mit Thorpe aus dem vorhergehenden aldres orwena für
pcet den beziehungsbegriff tod zu entnehmen. Aber schwierig und unschön
ist auch das. Es komt dazu die bedenkliche magerkeit des hemistichs
tö bcflcönfie, in dem eine präposition die erste hebung tragen muss. Man
ergänze daher [dedd] tö befleonne; indem der Schreiber den letzten buch-
stab von bid zog, konte er meinen schon am ende von deäd zu sein.
Das unentbehrliche geliwylc aber wird man schicklicher hinter den mit-
telsten als hinter den ersten der drei tautologischen ausdrücke setzen,
also hinter nidda beama.
21. 1022 lesen Eemble und Thorpe hrodenhilte cumbor, ein feld-
zeichen mit verziertem (wol mit getriebenem metall umlegtem) griffe.
392 M. BIEGEB
Grein und Heyne setzen dafür, um einen doppelten stabreira zu erhal-
ten, hroden hiltecumbor, ein geschmücktes feldzeichen mit griff. Besser
wäre noch EttmüUers hroden hildecumbor, das sich Grrein in der ersten
ausgäbe aneignete. Ist denn das eine irgend erwähnenswerte eigenschaft
eines feldzeichens , dass es einen griff hat? oder gar eines Schwertes, da
Grein, ich weiss nicht warum, im glossar das wort als ensis capulo
instrudus erklärt? wäre es poetisch, weil der schild einen rand hat, von
einem randscild zu reden? oder weil der löffel einen stiel hat, von einem
stiellöffel? Und weshalb die analogie des ebenso gebildeten adjectivs
wreodenhiU 1698 verschmähen? — Dass übrigens auch das althoch-
deutsche und zwar gerade in der bedeutung, feldzeichen eine form cÄwm-
par neben chumpal kaute, geht aus dem von Grimm zu Andr. 4 ange-
zogenen chumberra = tribus bei Notker (Graff4, 405) hervor; nur vom
feldzeichen konte der heerteil so genant werden.
22. Für das sinnlose for scotenum 1026 haben Kemble undThorpe,
was jedem nahe lag, for sceotendum gesetzt. Sceotend (vgl. Hldbrl. 51) ist
nicht etwa der schütze in unserm sinne, sondern', da der ger nach altem
Sprachgebrauch geschossen wird, der krieger überhaupt; das wort komt noch
zweimal, 703 und 1154, in diesem werke vor. Auch hier verschmähte
Grein was die Vorgänger boten, vermutete dafür ein unbelegtes scotere
= sceotend und setzte es in seiner zweiten ausgäbe in den text. Heyne
nahm scotenum mit einer erklärung Leos auf, wonach dieses particip
nicht passivisch, sondern neutral zu verstehn wäre und die emporgeschos-
senen, d. i. emporragenden, vornehmen bedeutete, eine bedeatung, die
Leo in seiner schrift Beowulf (1839) s. 66 fg. schon dem präsens sceotend
beigelegt hatte. So etwas ist geschmacksache und schwer damber strei-
ten. Ich will hier nur darauf aufmerksam machen, dass for scotenum
oder for scoterum ein metrisch unmögliches hemistich ist. Eine präpo-
sition kann vielleicht überhaupt keine hebung tragen, jedenfalls keine
hinter der die Senkung fehlt ; ebenso wenig kann eine bildungs - oder beu-
gungssilbe ohne darauf folgende Senkung die hebung tragen, auch zu
ende des verses nicht. For scotenum und for scotenum ist also gleich
unmöglich.
23. 1030 ymb pces hdmes hrof heäfodbeorge
wirum bewunden wdlan ütan Jieöld,
Das schwierige tvdlan will Grein durch das bei Ulrich von Liechtenstein
vorkommende femininum wcele erklären. Unter diesem hat man die
Vorrichtung auf dem stechhelme zu verstehen, in welcher die zimierde
befestigt war. Sie ist bei Ulrich von gold oder vergoldet und ist auf
miniaturen leicht an der gelben färbe zu erkennen. Dass diese Vorrich-
tung, die offenbar von ihrer föcherförmigen gestalt (ahd, wala = fldbel-
ZUM BBOWUIiF 893
lum) deu namen hat, auf dem kegelförmigen helme der AugelBachsen kei-
nen platz finden konte, ist wol klar; das angelsächsische lautgesetz würde
ausserdem die form W(ele verlangen, und der plural, den freilich Grein
in zweifei zieht , wäre ohne rechtfertigung. Heyne bleibt bei Bouterweks
erklärung (Ztschr. f. d. a. 11, 85) stehn, der hier das als glosse vor-
kommende walu oder wala = vibex erkent und sich folgendermassen
auslässt : „ich denke mir, dass die wcUan, Schwielen, beulen, buckeln
mit draht umsponnen waren und, lings um den kegel des helmes ste-
hend , eine art kröne bildeten." Wem diese blos auf unsre stelle gebaute
drahtumsponnene buckelkrone zusagt , der sollte doch überlegen , wie das
zwiegestaltige walu oder waia (ebenso verhält sich ^nagu und maga
puer) zu der bedeutung vibex gelangt Gotisch heisst valus gaßdog^ frie-
sisch walvhcra der wanderer am stabe ; angelsächsisch tvyrtwcda die Wur-
zel, zunächst doch wol der wurzelstock, weallwalan schwerlich etwas
anderes als die senkrechten pfosten , welche die wand des hölzernen hau-
ses bildeten und durch breitgeschlagene wtras oder eiserne bänder zusam-
mengehalten wurden (Buine 21). Die bedeutung vibex ergibt sich also
aus der bedeutung stock oder rute, indem der strieme die spur oder
das abbild der rute auf der haut ist. Will man nun aus der bereits
übertragenen bedeutung strieme die abermals übertragene einer metalle-
neu buckel folgern, so müste diese wenigstens Striemen- oder rutenför-
mig gedacht werden, was doch hier nicht möglich ist, da der untere
cylindrische teil des helmes, mit dem er auf dem köpfe aufsitzt, und
au dem Bouterweks kröne gedacht werden müste, zu niedrig ist, um mit
anderen als runden, höchstens kleinen eirunden buckeln besetzt sein zu
können.^ Aber vor allem sollte man die werte yrnb pces helmes hröf
nicht übersehen: sie sagen deutlich, dass die walan an dem kegelförmi-
gen teile des helmes waren, der allein sein dach heissen kann. Durch
sie komme ich auf folgende Vermutung. Die abbildungen angelsäch-
sischer helme haben zwischen den beiden zum auffangen der hiebe bestim-
ten kämmen , die in der spitze des kegeis zusammenlaufen , zwei von der
spitze nach dem untern cylindrischen teil herablaufende bänder, in der
1) Ich beziehe mich hier und im folgenden auf abbildungen nach der Stickerei
des teppichs von Bayeux (11. jahrh.) bei Charles de Linas, les casques de Falaise
et d'Amferville (Arras et Paris 1869) p. 27 fgg. , insbesondere auf den darunter befind-
lichen heim des letzten Siichsenkönigs Harold; femer auf eine miniatur des Cod.
Cotton. Tib. B. V. (Calendarium „gegen anfang des 11. Jahrhunderts geschrieben**),
abgebildet bei Strutt Angleterre ancienne (Übersetzung des englischen Originalwerkes»
Paris 1789) taf. IV, fig. 4. Sie stellt einen gerschiessenden behelmten krieger dar
und gibt , wie es steint , die einzige etwas genauere Zeichnung eines angelsächsischen
helmes, weshalb der köpf auch bei Linas gegenüber s. 6 nachgebildet ist.
B94 M. RIEOER
weise, dass durch die kämme und bänder der heim in vier quadranten
zerlegt wird. Diese bänder , die bei genauerer Zeichnung mit nagelköpfen
besetzt und mit emporgeschlagenen oder wulstartig verstärkten rändern
versehen erscheinen, kommen auch ohne kämme vor, sie dienen wol zur
Sicherung der stellen, wo die beiden hälften des helmes zusammengenietet
sind, oder sollen anstatt der kämme die unmittelbare gewalt des hiebes
von dem helmdach abhalten. Auf diese bänder mochten nun mitunter
noch hölzerne, mit draht umwickelte stäbe aufgelegt werden, um jenen
zweck noch wirksamer zu erreichen und zugleich durch den weicheren
Stoff die erschütterung des kopfes durch den hieb abzuschwächen; und
mit dieser Vorstellung dürften wir unsre stelle übersetzen: um des hel-
mes dach hielten die hauptberge mit drahten umwunden stäbe von aus-
sen. Hauptberge ist liiebei ganz concret als Umschreibung für heim zu
nehmen; sie ist ebenfalls gemeint wenn es 2559 heisst biorn müler beorge
hordrnml onsiväf: vergl. licarä iinder helnie 342. 404. 2539. under
heregnman 396. 2049. 2605. Für den Singular heold bei vorausgehen-
dem plural des subjectes kann man ausser dem von Dietrich (Ztschr. f.
d. a. 11, 447) geschützten hine sorlnvylmas lemede 905 noch auf 2164,
schwerlich aber auf 2719 verweisen.
24. 1080 fgg. mg ealle foniam
Finn4is pegnas, nemne feämn änum,
pcet hr nc nielite on pdm meäelstede
wig Heyigeste wiJif gefeMan
ne pä weiüäfe wuge forpringan
pedänes pegue.
Grein und Heyne behaupten auch hier das recht einer fehlerhaften Über-
lieferung: „Der krieg hatte Fin so sehr geschwächt, dass er gegen
Hengest nicht mehr krieg führen noch mit krieg den rest seiner man-
nen gegen ihn behaupten konte": welcher dichter in aller weit, wenn er
nur etwas mehr kunstgefühl als ein schulknabe hat^ wird sich so aus-
drücken? Und wenn man sich aucli den mangel der präposition bei
Ilengeste gefallen lässt, so heisst doch gefeohfan mit dem accusativ durch
fechten erlangen, erfechten, kann also nicht ein wort, das die handlung
des fechtens ausdrückt, zum object haben. Dies alles würdigend haben
daher die Engländer und mit ihnen Grundtwig wut für nug gesetzt , aber
freilich damit den reim verloren. Ich halte nocli jetzt die in meinem
lesebuch vorgenommene emendation aufrecht wiht Ilengeste wid gefeoh-
tan: „dass er nicht mochte auf dem versamlungsplatze (wo sich die Par-
teien jetzt zur Unterhandlung oder , je nacli umständen , ju neuem kämpfe
gegenüber standen) etwas wider Hengest erfechten noch auch im kämpfe
ZüM BEOWULF 395
den rest seiner mannen vor Unterwerfung oder Untergang bewaliren";
d.h. weder einen vorteil gewinnen noch das, was er noch hatte, erhalten.
25. Heyne Iiält auch in seiner zweiten ausgäbe daran fest, dass
1114 fgg. die Verbrennung eines lebenden sohnes der Hildeburg zum sühn-
opfer für den gefallenen Hnäf berichtet werde. Wie wenig dies in
anschauung und sitte des altertums begi'ündet wäre hat Bugge ausgeführt.
Hievon abgesehen spricht gegen die annähme erstens, dass nach 1074
die söhne wie die brüder der Hildeburg im kämpfe gefallen waren, ohne
dass eine ausnähme gemacht wird; zweitens, dass ein solcher snhnact
nach geschlossenem frieden nicht mehr denkbar ist, mindestens in des-
sen bedingungen hätte erwähnt werden müssen; drittens, dass nicht
Hengest, sondern Hildeburg selbst nach 1114 die Verbrennung anord-
net, wozu, wenn sie wirklich den Wahnsinn gehabt hätte, den fall ihrer
brüder auf diese art freiwillig sühnen zu wollen , der vater Fin doch ein
wort hätte mitsprechen dürfen. Wir dürfen diese Schauergeschichte mit
Thorpe und Grein getrost aus dem texte tilgen und ohne zweifei mit
Thorpe 1115 auch suna für sunu lesen, wie 344: denn die sämtlichen
nach 1074 gefallenen söhne müssen gemeint sein. Aber Bugges aus-
legung von gudrinc ästäh, wonach hiemit die verbringung von Hnäfs
leiche, die vorher (1109) nur 07i hcel gearu war, auf den Scheiterhaufen
berichtet würde , wird mir durch den hinweis auf Vaf|)rüdnism. 54 noch
nicht geniessbar. Dass nicht guäriuc, wie Grundtvig zu lesen glaubte
sondeni gudrinc im manuscripte steht, glaube ich gern, da der Schrei-
ber sonst niemals iti setzt; aber dieses rinc muss eben für reo verlesen
sein : vgl. Uredrinc für Hrcdric 1 836. Der flamme geht der rauch vor-
aus; und dass dieser hier, wo die ernte der schlacht eingebracht wird,
schlachtrauch heisst, scheint mir dem geschmack dieser poesie ganz zu
entsprechen , zumal bei dem parallelismus des gleich folgenden ausdruckes
ivcclft/r. Nicht mehr noch minder kühn ist die bezeichnung wcdrtc
(2661) für den todbringenden qualm aus dem munde des drachen. Über-
dies findet sich derselbe gang der beschreibung bei Beowulfs leichen-
brand eingehalten: wudtirec ästäh sweart of swiodole, swogende leg
3144 fg. Schwierigkeit machen noch die werte earme on eaxle. Nach
Grein und Heyne soll man übersetzen: das arme weib weinte an der
achsel (ihres sohnes, d. i. neben demselben). Ich verstand in meinem
lesebuch earme als apposition zu suna: die armen an die achsel (des
Hnäf); am wahrscheinlichsten ist mir jetzt Thorpes emendation earme
071 eaxe: die armen in die asche. »Die prolepsis, dass noch vor anzün-
dung des Scheiterhaufens von asche die rede ist, scheint unbedenk-
lich, wo der dichter im selben atem sagt bänfatu hcernan and on
hM don.
3% M. RIEOER
2G. Meine erkläruug von 1143 fg. hat den beifall der herausgeber
nicht ge^den.^ Ich behaupte auch jetzt noch, einem ein schwert an
hearm dön kann durchaus nicht heissen ihn erstechen, sondern nur es
ihm auf den schooss legen und dadurch zum eigentum übergeben. Es ist
bekant wie hcann geradezu den abstracten sinn eigentum oder besitz
gewint: im Beowulf findet sich dafür die stelle 2404. Das schwert aber
pflegte dem sitzenden beiden wirklich auf dem schooss zu liegen, daher
die gnome stveord sccid on hearmc 6n. Cott 25; und so sass kOnig
Äthelstan auf dem hochsitz, als der vom sieg heimkehrende Egil Skala-
grimsson sich ihm gegenüber setzte. Daher ist es auch ganz wörtlich
zu nehmen , wenn es von dem schwei-te , das Hygelac dem Beowulf zum
geschenke macht, heisst ß(et hil on Beowulfes hearm äiegde 2194. Dem
gegenüber müste man denn doch die gewünschte bedeutung des on bearfn
dön ebenfalls belegen können, damit sie nur in frage kommen dürfte.
Sie ist aber auch in sich höchst unwalirscheinlich; abgesehen von der
seltsamen Umschreibung für den act des erstechens und der hierbei wahr-
haft matten anwenduug des wertes dön ist der schooss, hier also doch
der Unterleib eines sitzenden , wahrlich kein geeignetes ziel für die band
des mörders. Freilich erkläi*t man hearm neben gremium schooss auch
durch sinus busen; aber das ist eben nur lexicographische begriffsver-
wirrung: der räum an der brüst oder die l)rust selbst zwischen den aus-
gebreiteten armen ist fredm, und hearm wol davon unterschieden. Thorpe
hat jene von Kemble aufgebrachte auffassung des on hearm dön bereits
zurückgewiesen, wie auch Hmdafhuj als den namen des ausgezeichneten
Schwertes, von dem hier erzählt wird, erkant; aber er irrt, indem er
mit bezug auf abbildungen, wo das schwert auf der brüst hängt, on
heurm dön für das umgürten des Schwertes zum kämpfe und llenyesi
für das subject, Jiim für reflexiv nimt. Das subject ist vielmehr Pin und
Hengest der beschenkte. Dagegen vermeidet Thorpe nocli einen andern
folgenreichen irrtum, indem er 1142 stva he ne forimjrmle woroldninlefme
übersetzt so he refnsed not worldly conrerse, während die deutscheu her-
ausgeber im einklang mit der falschen auflassung von on Ikcarm don sieb
die Übersetzung Kenibles thua he aroided not death zu eigen machen.
Forwyrnan heisst weder entgehn, wie Grein, noch widerstehn, wie Heyne
dieser einen stelle zu gefallen annimt, sondern verweigern; ivoroldrtedtti
könte allenfalls den tod als gemeines weltgesetz bedeuten , muss es aber
nicht, und kann es nicht wo diese bedeutung keinen sinn ergibt. Ä<f-
l) Grein allerdings vcrlmlt sich zweideutig: im gloHsar xii Reiner Bibl. erklärt
er unter don wie ieh, während ihm UnnWifiiHj gleiehwol der name des kriegers ist.
dureh den Henkest fällt. So aueh im ^lossar zu dtT Konderausgabe , während er hier
unter don schweigt; unter hearm schwei^ft er in beiden glosnarien.
ZX7H BSOWÜLF 397
den = got. garaideins ist hx, condicio, pactum, foedus, und bildet von
diesen bedeutungen aus zahlreiche composita; in der composition mit
woruld aber wird, wie so oft, der begriff nicht modificiert, nur auf den
gemeinen hergang des menschenlebens bezogen. Es wäre also zu über-
setzen: er verweigerte nicht den in der weit üblichen, auf gesetz oder
vertrag beruhenden verkehr.
Der ganze Zusammenhang von 1125 an ist hienach folgender: „Die
krieger gingen da nach hause (dies ist der sinn von loica neösian, vergl.
125 und Güdl. 1339), ihrer freunde beraubt zerstreuten sie sich in die
dörfer und die hauptstadt von Friesland. Hengest blieb noch den win-
ter bei Fin ; ^ er gedachte der heimat , wiewol er nicht über meer fahren
konte, da die Jahreszeit es verwehrte. Der frühÜDg kam, jeder gast
strebte aus dem hause (wo er im winter Zuflucht gefunden); Hengest
dachte mehr an listige räche als an seefahrt^ ob er einen friedensbruch
herbeiführen könte, der die fehde aufs neue zum ausbruch brächte und
gelegenheit zur Vernichtung des feindes gäbe.^ Obgleich er den fried-
lichen, vertragsmässigen verkehr nicht zurückwies, als er (Fin) ihm
das treffliche schwort Hunlafing zum geschenk machte — dessen
schneide war den feinden bekant wie auch der mut des beiden (der es
führte) — so betraf den Fin abermals der schlimme schwertschade an
seinem eignen wohnsitz, als Gudhlaf und Oslaf nach der seefahrt (d. i.
aus Dänemark neu angekommen) den fall Hnäfs feindselig erwähnten.
Der ruhlose mut konte sich in der brüst nicht mehr halten, der kämpf
brach wider aus" usw. Es ist, wie die episode von Ingeld, eine geschichte
von der hinfälligkeit solcher friedensschlüsse , die auf unterdrückter blut-
1) Das überlieferte unhlitme (für unJdytwe von hleötan) setzt voraus, dass die
übrigen Dänen landloose bekommen, also das land mit den Friesen geteilt hätten,
während Hengest im condominat mit Fin lebte. In den friedensbedingnngen ist von
einer solchen landteilung nichts gesagt; dort soll den Dänen (deren nach dem liede
vom kämpf in Finnsburg v. 40 nur sechzig waren) nur die andere der in Finnsburg
erbauten hallen (1086 f.) eingeräumt werden. Auch erscheint eine Zerstreuung der
^ beiden in das feindliche land aus gründen der klugheit undenkbar. Ich glaube
daher dass 1125—27 nur von den Friesen die rede ist und nehme 1129 statt unhlitme
mit Grein eine widerholung der formel eine unflitme aus 1097 an, deren sinn nur
sein kann mit streitloser, also mit ruhender tapferkeit, friedlicher weise.
2) Den vers p(et he eotena bearn inne gemunde , wenn er recht überliefert ist,
weiss ich nur als elliptischen ausruf zu verstehn: vergl. Andr. 203. Sat. 168, wo frei-
lich ein eälä vorausgeht. Die finale auffassung: ,,auf dass er (bei dem torngemöt)
der feinde im Innern gedächte'' scheint mir ganz unpassend, denn das torngemöt ist
vielmehr eine Wirkung des gedankens, als eine gelegenheit dazu. Zulässig wäre der
finale sinn, wenn man läse: pat he eotena bearnum incan gemundet denn hiebe!,
aber nicht bei einem persönlichen object, ginge gemunan ganz in die bedeutung
lilcisci über, vgl. 2391. 2488.
ZBITSCHR. F. DSUTBCHS PHILOL. BD. lU. 26
398 M. BIEGEB
räche beruhen. Fin hatte nach 1102 den Huäf erschlagen; er war durch
den vertrag verpflichtet; die Dänen, die ihn nun als herren erkanteiu
ebenso wie seine Friesen mit gaben zu bedenken, und um nichts an klu-
ger Versöhnlichkeit fehlen zu lassen, um solchen aufreizungen vorzubeu-
gen, wie sie 2041 fgg. in Ingelds falle so lebendig vorgeführt werden,
schenkt er dem nunmehrigen führer der Dänen das schwert, womit er
den frühern erlegt hatte. Hierin liess Heugest, wie der dichter uicht
ohne sarkasmus bemerkt, den vertrag sich gefallen. Er liess aber, um
dessen bruch herbeizuführen , neue leute aus Hnäfs mannschaft von Däne-
mark kommen,^ die nicht mit geschworen hatten, und diese entfachten
durch erwähnung des grimmen griflFes (denn das schwert greift, s. 1566.
1765), den Fin duich Übergabe des Schwertes in Vergessenheit bringen
wollte, den streit von neuem.
Die fragliche stelle ist also nach meiner auffassung so zu inter-
pungieren :
Sivä he ne forwyrmle tvoroldrddenne,
ponne him Hünläßng hildeleomaUy
billa seiest on hearm dyde
(ßees ivmon mid eotenum ecge cuäe,
sivylce ferhä frecan): Fin eft heifcat
swcordbealo sliden ret liis seif es Itäm,
siddan usw.
Hiebei ist eigentlich nichts schwierig als die zunmtung, das subject f&r
dyde 1144 aus dem objecte des durch eine parenthese getrenten nach-
satzes zu entnehmen; aber icli berufe mich auf die für unkundige leser
verwirrende weise, Avie der zweite interpolator in seinen episoden mit
dem pron. pers. III umspringt (vgl. Ztschr. f. d. a. XIV, 202. 228), und
mache darauf aufmerksam, dass die parenthese selbst schon dem kun-
digen über den, der das schwert schenkt, keinen zweifei lässt. Die länge
dieser parenthese darf keinen anstoss geben; eine eben so lange findet
sich bei demselben interpolator 2995 f. Eotcnas habe ich einstweilen
stillschweigend gegen die herschende auslegung durch feinde äbersetzt
und gebe darüber im folgenden paragraphen auskunft.
27. Von den riesen, nord. iötmir, ags. eoterms, gab es zwar auch
eine mildere und edlere Vorstellung; überwiegend und besonders wol
durch die Verehrung Thors, ags. Thunors, befördert ist die gehässige.
Sie gelten für feinde der götter und menschen; sie werden wegen ihrer
1) Hier fdUt ein Widerspruch mit dein bruchstttcko vom kämpf sa Finnsburg
auf, indem dort v. 18 Ordlaf und Gudhlaf sclion bei dem ersten kämpfe gegenw&rti|(
♦erscheinen. Aber schon der abweichende name für Gudhlafs geffthrten deutet auf
eine verschiedene tradition.
ZUM BBOWULF 899
Wildheit und tücke gehasst, wegen ihrer plumpheit und dummheit ver-
achtet. Sie konteu für die christliche Vorstellung vom teufel so man-
chen zug herleihen. Wenn nun einerseits die Völker für ihre Stammväter
und ihre regierenden geschlechter göttlichen Ursprung annahmen , so muss
es ganz natürlich und wahrscheinlich dünken, dass sie andrerseits ihre
feinde als riesenbrut — gleichbedeutend mit teufelsbrut in christlichem
munde — brandmarkten. Im mund erschrockener weiber und kinder
wie höhnender krieger mochten die ausdrücke eotena heam, eotena cyn
geläufig werden. Ein schritt weiter konte dazu fuhren, dass eoten
geradezu für feind galt, wie umgekehrt feind im christlichen ideenkreis
für teufel — besonders wenn die Vorstellung von eofenas im mythologi-
schen sinne schon verblasste. Im Altnordischen bilden wenigstens die
kenningar iötunn vandar = gigas arhoris für ventus, und iöttinn hafra-
kiöts =- gigds carnis hircinae für cerdo, coriarius (Sveinb. Egilss. lex.
453') ein denkmal dieses gebrauches. Im Beowulf aber zeigt sich der-
selbe ganz geläufig.^ Im eigentlichen sinne zwar heisst es 112 eotenas
aml ylfe and orcneas, und derselbe sinn erscheint in dem adjectiv eoto-
nisCy auch wol wenn Grendel 761 als eoten (wie 426 dls pyrs) bezeich-
net und 668 Beowulf gegen ihn die eofonweard erbietet. Nun aber die
stelle 419 fgg.
seife ofersäwon , pä ie of searwum cwom,
fäll from feömlum, pdr (lies ^eera) ic ßfe gebond,
j/äde eotena cyn and on 0um slog
niceras nihtes, nearopearfe dreäh,
wrtec Wedera nid (weän ähsödon),
forgrand gramutn:
sie bringt eotenas und fyfid in einen parallelismus , der sie völlig als
Synonyma erscheinen lässt, eben wie die andre 902 f.
he mid eotenum wearä
on feonda geweald forä forläcen.
Beidemal ist nicht von riesen die rede. Niceras sind halb tierische , halb
dämonische ungeheuer, mit welchen die fantasie die gewässer bevölkerte
und die ganze fassung der stelle, die erwähnung des von Beowulfs lands-
leuten erlittenen und räche fordernden Schadens nach den niceras j
beweist dass die vorher erwähnten feinde und eotenas nichts von den
niceras verschiedenes sind, wie denn der nw?re^a: oder wicor auch 554 /ViÄ
fedndsceada heisst. Die feinde und mörderSigemunds,* der hier wie beim
1 ) Vgl. auch Leo , Beowulf s. 67. 80 fgg.
*J) Ich interpungiere und verstehe hier wie MüUenhoff Ztschr. f. d. a. XIV, 202
und nehme den in meinem lesehuch gemachten versuch , Hereraod aus der stelle ganz
zu beseitigen , zurück.
26*
400 H. BIEGER
drachenkampfe mit Siegfried in eine person vermischt ist,* sind Nibelonge,
Pi*anken , Burgunden , wie man will , nur keine riesen — und keine Jflten,
welche den herausgebem hier bereits herhalten müssen, wie den engli-
schen ganz folgerichtig schon 883 f. , wo es von Sigemund und Fitela
heisst: hrefdon ecdfela eofena cynnes
sweordum gestsged.
Aber unter diesen erschlagenen hat man sich doch wol Untertanen Sig-
geirs zu denken , der nach Völsunga saga über Gatdland und nicht über
Jotland herschte; mit Grein und Heyne an riesen zu denken fehlt jeder
anlass.
Ich komme endlich zu den stellen in der episode von Fin, die
durch die Übersetzung von eotenas mit Juten (die herausgeber sollten
wenigstens Eotenas schreiben !) in heillose Verwirrung gebracht wird. Die
beiden Völker, die hier auftreten, sind nach der meinung des dichter»
Friesen und Dänen oder Scildinge , für die Juten ist schlechterdings kein
räum. Denn dass Fin ausser den Friesen auch noch die Juten beherscht
hätte und dass in den woi*ten gewiton Mm pä — Frysland geseon ein
zweck- und sinnloser Überzug der scheinbar versöhnten feinde aus Jüt-
land nach Friesland ausgedrückt sei, ist eine jener wohlfeilen auskünfte,
mit denen man am ende alles ins geleise bringen kann; schade nur dass
1070 ausdrücklich gesagt wird, dass Hnäf in Frestocele gefallen sei.
Einer genaueren betrachtung ergibt sich nun aber auch , dass mit eotenas
wechselnd die beiden parteien bezeichnet werden. Heisst es 1071 f. dass
Hildeburg die treue der eotenas zu loben nicht Ursache hatte, so müs-
sen die Dänen gemeint sein , auf deren treue die Friesenkönigin begrün-
deten anspruch hatte, weil sie ihnen von geburt angehörte; dagegen
sind ohne zweifei 1088 und 1141 die Friesen gemeint, die ja der düni-
sche Sänger an und für sich Ursache hatte als feinde zu bezeichnen. Aber
wenn von Fins Schwerte, womit er den Hnäf erschlagen, und von ihm
selbst gesagt wird pces W(Pron mid eotenum ecge cMe, stvylee ferhd
frecan^ so ist hier offenbar wider vom friesischen Standpunkt aus gere-
det und mit eotenas die Dänen gemeint. Das gegenteil wäre in diesem
Zusammenhang allzu matt und unbedeutend.
Der volksname der Juten, von dem im Wandrersliede die form
Ytum, in der angelsächsischen chronik a. 449 Jotum, Jutumnni Jutna,
in Alfreds Beda 4, 16 Eota^ nach dem Cod. Bened. aber Ytena vor-
komt, konte allerdings, wie man aus Jutna und Yfena sieht, schwach
flectiert werden, und er komt so im Beowulf wirklich einmal vor: Oeatena
1) Wenn nicht, wie ich geneigt bin zu glauben, 884 Sigemunde nur durch
einen fehler der i\berlieferung für Sigeferäe steht.
ZUM BBOWULF 401
leöde = Itdarum getUües ist dem Schreiber 443 für Oeäta leöde in die
feder gekommen. Hieran siebt man jedoch, dass er den anlaut des
namens bereits consonantisch auffasste ^ und bei der form eotena nicht
an Juten denken konte. Ein weiter und durch nichts belegter schritt
ist dann aber noch von Eötan zu der hybriden bildung Eotenas, die
durch den dativ eotenum gefordert wird. Man müste sich dabei auf die
altnordische analogie von gumnar, gotnar, skatnar neben guniar, gotar,
skatar von gumi, goti, skati berufen; da aber im Altnordischen die
schwache flexion des plurals durch die starke verdrängt ist, so hat die
analogie wenig wert. Wir haben in jenen beispielen reste der schwachen
flexion, die sich dadurch erhielten, dass sie sich mit der herschend
gewordenen starken verbanden ; im Angelsächsischen war bei ungefUhrde-
tem bestände der schwachen flexion hiezu keine veranlassung.
28. 1247 f. ptet hie oft wtBron an wig gearwe
ge cet häm ge an herge ge gehwceder pära.
„Sowol zu hause als im felde als in jedem von beiden fällen": dieses
logische cuiiosum haben nach Ettmüller , der das störende dritte ge aus-
warf, merkwürdiger weise die herausgeber wider sorgfältig aufbewahrt.
Im gründe ist kein wort darüber zu verlieren. Man beachte nur den
unterschied des scheinbar ähnlichen falles 581 fgg., wo das auf Hunferdh
ilochmals zurückblickende tie gehwceder incer einen gewissen huraor hat.
29. 1278 hat schon Ettmüller die notwendige und auf der band
liegende emendation mit einem fragezeichen an den rand gesetzt; das
sprachwidrige compositum peodtvrecan hat sich aber bis jetzt in allen
texten und glossarien behauptet, obwol Gramm. 2, 582 fgg. das nötige
darüber zu finden ist. Zum überfluss verweise ich daher noch auf eine
stelle, wo die emendation ihre bestätigung findet: 2119 heisst es von
Grendels mutter stdode sorhfuU; sunu deäd fornam, mit andrer fügung,
aber deutlicher reminiscenz der werte sorhfulne siä, suna deäd wrecan,
30. 1290 f. heim ne gemunde,
hyrnan side pä hine se hroga angeat
Grein hat in seiner ersten ausgäbe die besserung pe für pä wenigstens
frageweise vorgebracht; in der zweiten und bei Heyne ist sie unbegreif-
licher weise nicht zu finden. Ohne sie hat gemunde kein subject und
der satz keinen sinn. Dieselbe relativische structur, die hier herzustel-
len ist und die jeder leser des Heljand aus dessen erstem vers im gedächt-
nis haben muss, begegnet auch 1436 J5e hine swyJt fornam -= quem nex
1) Wie schon Alfred, in dessen Beda I, 15 Geata Geatum und in dessen Oro-
sins GotlcMd steht, beides verschrieben für Geota Geotum und GeotJandj aber den
anlaut g bestätigend.
402 M. RIEOEB
consimipsit; ferner Wids. 133 sepe him god syleä=^ cui deus largitur, and
Wand. 10.
31. Dem vers
1903 yrfeläfc. (rcwät him^ on yiacan
fehlt die allitteration. Grein half ihm durch die ergänzung on [0J nacan aof
und fand darin Heynes beifall. Es ist aber nichts nötig als das auslau-
tende n von nacan zu streichen: (jewät him on naca ist einer der nicht
häufigen fälle von rein adverbialem on, wie man sie in Greins glossar 2,
339 verzeichnet findet. Ein andrer fall ist 2523 forpon ic me on hafu
hord aml bf/nian, wo man mc nicht als abhängig von on, sondern als
freien dat. commodi wie dort him fassen muss, wie man auch im alten
und neuen deutsch kleider nicht an sich, sondern an hat. Überflüssi-
ges n hinter dem auslaut a findet sich noch 375 und 2769.
32. In die episode von Thri/(to, der gemahlin Oifas, ist durch das
zutun mehrerer allmählich licht gekommen ; doch wird noch immer wider-
holte betrachtung einiges erhellen können.
Den vermeintlichen namen Mddprf/äo 1931 betrachte ich nach dem,
was MüUenhoif Ztschr. f. d. a. 14, 216 darüber gesagt hat, als abgetan.
Aber mod kann nicht , wie MüUenhoff meint , ohne weiteres für zorn oder
hochmut stehn. Es kann, an sich neutral, beide begriflFe vertreten,
wo sie sich aus dem Zusammenhang ergeben; ein solcher Zusammenhang
ist aber hier nicht vorhanden, und wäre er vorhanden, so würde sich
der satz mod pr(/do waeg doch mit nichts auf ilm beziehen. Er ist so
unmöglich wie ein lateinisches animnm habere ffir superbire, und der
unvermittelte anhang firen ondn/sne bessert nichts. Hier war Grein auf
dem rechten wege, als er, noch in der meinung Hygd sei subject und
mödprydo object, in seinem glossar das compositum fren-ondrysne mit
der bedeutung nimis ferribiUs ansetzte ; nur hätte er , statt firen mit dem
folgenden wort in wenig wahrscheinlicher weise zu verbinden, firenum »
lalde emendieren sollen. Da 3139 ganz unzweideutig hdm fQr helmum
steht, wie umgekehrt 2296 hlmvum für hlcbwy so darf man annehmen,
dass in einer vorläge -um sich öfter abgekürzt fand und der Schreiber
das zeichen sowol übersehen als zu sehen glauben konte. Man hat also
zu übersetzen: aninmm Thryda. habebat valde terribilem.
Aus fremu 1932 wird ein adjectiv frcme = fram, from entnommen.
Aber dieses beispiel, wie eine königin nicht sein soll, kann unmöglich
mit den werten uHlis po/ndi regina eingefülirt werden. Es ist etwas
ganz anderes, wenn Heremod, das entsprechende beispiel eines königs,
1715 mcere peoden heisst: damit wird nur seiner königlichen würde ehre
1) Bei (^rein steht in beiden ausgaben durch versehen Jte för hm des mior.
ZUM BEOWULF 403
erwiesen. Das einzige beispiel, das Grein ausser dem fraglichen für das
iiijectiv freme = fram , /ro/w verzeichnet, ist nur scheinbar : denn wenn Gen.
2828 fgg. gott von dem verheissenen Isaak sagt: ic päm magorince mine
sylle godcunde gife gästes miJdum, freöndsped fremtim, so hat man in
fremunu lediglich den instrum. plur. von fremu, heneficmniy conmiodum
zu erkennen. Nach 1949 fgg. und nach der erzählung des Matthaeus Pari-
siensis dürfte man fremde folces cwen zu lesen erwarten ; aber ich denke,
fremu ist ganz richtig, und verrät uns in freme^ got. framjis ein älteres
und einfacher gebildetes synonym von fremede, fremde y got. framapis,
das vielleicht Wörterb. 4, 125 mit einigen neuhochdeutschen beispie-
len bezeugt ist: denn wenn mitten in correcter Schriftsprache fremh mit
den cass. obl. fremem und frenieii vorkomt , so dürfte darin kaum mund-
artliches frcmm = fremde zu erkennen sein.
Was mit den werten cefter mundgripe gemeint ist, scheint mir noch
nicht recht verstanden zu sein. Wäre es etwa: nach dem handgriff der
Schergen, welche die fesseln anlegen, so begrifle man nicht recht, warum
der unglückliche, der die königin anzusehen gewagt, sich 1936 nur auf
fesseln und nicht gleich auf den tod gefasst macht. Oder wäre es nach
Heyne: zum zweck des ergreifens (des Schwertes), oder nach Greins
Übersetzung (die Sonderausgabe gibt keine erklärung) auf grund der frü-
hern conjectur gepiged: mit handgriff, so hätten wir in beiden fällen nur
ein überaus armseliges fullsel vor uns, während der interpolator , der sehr
oft (187. 885. 1149. 1606. 1680. 1943. 2030. 2052. 2060. 2066. 2261.
2463. 2581. 3005) das erste hemistich aus einer structur mit cefter bildet,
sonst immer einen bedeutungsvollen gebrauch davon macht, und gerade
durch dieses mittel seinem bedürfnis nach kürze des ausdrucks zu genü-
gen weiss. Ich glaube , es ist mit jenen werten ein neuer , noch stärke-
rer fall von Thrydhos grausamkeit angedeutet: wer sie ansah hatte fes-
seln, wer sie aber mit der band berührte, den tod durchs schwort zu
erwarten. Durch seoddan wäre dann hier, wie es bei temporalpartikeln
leicht geschieht, im sinne von „sodann, ferner," der leicht in „aber" über-
geht, nicht die zeitliche aufeinanderfolge der handlungen, sondern die
logische, mehr oder minder adversative anreihung einer sache oder einer
aussage an die andre ausgedrückt; wie z. b. Güdl. 465, wo der heilige,
nachdem er die anklage des teufeis zurückgewiesen, seine positive gegen-
rede begint ic edw söd siddon secgan wille.
Wie 1004 gesacan für gesecan, so steht 1942 onscece für otisece.
Angenommen der conjunctiv onscece von onsacan sei formell zulässig,
so muss doch erst auf grund dieser stelle für onsacan die bedeutung
„ bestrafen "• in anspruch genommen werden, da es sonst die der Zusam-
mensetzung mit and entsprechende bedeutung contradicere , negare
404 M. RIBGBR
hat. Eine stelle der Juliana sollte es wol ausser zweifei stellen , welches
wort der dichter wirklich gebraucht hat; es heisst dort 678 fgg.: p€kr
prUig was and fedwere eäc feores onsöhte purh wmges wylm.
33. 2029 fgg. Oft sddan htvdr
cefter leödhryre lytle htvüe
bongär Mged, peak seo hrOd duge.
Hier emendiert Bugge im anschluss an Heynes verschlag oft [n6es] sd-
dan, erklärt aber abweichend: det drcebende spyd vender sig et eXler
andet sted hen. Diese ausleguug wird wol der bedeutnng von bAged
gerecht; aber sie fordert noch immer, wie die früheren; för htadr die
bedeutung ohwcer (s. 1737. 2870), irgendwohin, da wir es docli nur als
fragewort kennen. Überdies ist der ausdruck, den wir so erhalten, zu
wenig treffend: denn was ist damit gesagt, dass sich der tötliche speer
irgendwohin wende ? Es könte ja also gegen einen dritten sein , wodurch
die geschlossene söhne gar nicht berührt würde. Hier muss doch wol
tiefer liegende Verderbnis im spiele sein. Grundtvigs einfall est sddan ^
liivcer usw. scheitert, wenn man auch das compositum seldan-hw^ sich
gefallen lässt, doch daran, dass est nicht amor, sondern favor, ffrcUia,
mtinificenfia ist, und dass es in diesem Zusammenhang nicht l^e,
sondern longe hwile heissen müste. Bis ein besserer komt, möge man
daher folgenden verschlag gestatten:
Oft nces seldan wcere
cefter leödhryre lytle hwUe
bongär briceä.
Vgl. 1100 p(et pcer cenig nian wcere ne brdbce. Für wdere Iftsst sich
anführen, dass der Schreiber mehrfach falschlich h vor consonanten in
den anlaut bringt: hncegan für ncegan 1318. 2916, hraäe^rra^ 1390,
hroden fiir roden 1151; ferner dass er das auslautende flexivische e vor
vocalen wie consonanten zuweilen unterdrückt: wen ic 442, edwer leode
597; ivylm 516, frofor 698, gi\d 1658, drillten 1830, peodm 2032,
cyning 2503, für wylme fröfre gude drihtne peödne cyninge.
34. 2035 drylitbearn IJena duguda biwenede, das heisst nach
Heyne : (während) ein edler spross der Dänen die ritter bewirtete. Schon
allein die incongruenz im tempus zwischen biwencde und gdä im vor-
hergehenden verse, zweien doch gleichzeitig zu denkenden handlung^en,
macht diese erklärung unmöglich. Es komt aber hinzu das& nicht Ingeld,
sondern das drtfhtbearn offenbar der ist, der 2034 mit der kOnigin in
den saal geht : denn er heisst 2059 se frenman pegn , und nur in dieser
eigenschaft, als persönlicher diener der königin, nicht als schenke, ist
ein Däne hier am platze; und nur so ist der Inhalt von 2034 plastisch
und bedeutungsvoll, ein verwirrender gebrauch von M aber bei diesem
ZUM BBOWULF 406
interpolator gewönlich. Man übersetze also : benefidis adsuef actus. Sowie
Fin im friedensvertrag vei-pflichtet wurde, dass er Hengestes heäp hrin-
gum wenede (1091) ebenso wie seine Friesen, so ist es auch Ingeld die-
sem nun in seinem dienste stehenden Dänen gegenüber, und das wird
hier hervorgehoben, weil dadurch der anblick des Schwertes, das er
trägt, den Headhobearden desto empfindlicher werden muss. Der gene-
tiv duguda darf nicht irren: es ist nicht schwer das object hier partitiv
statt instrumental zu denken (vgl. die verba mit instrum. gen. bei
Grimm 4, 673 fg.), und das Angelsächsische gewährt überhaupt dem
genetiv eine reichliche concurrenz mit dem ablativ. Die schwache form
des adjectivs ist in der apposition selten , aber nicht unerhört : vgl. Uon-
denfexa 2962. Greins emendation bi werede ist hiemach ebenso vom
übel wie Kembles und Thorpes bipenede.
35. 2076 pdr wces Hondscio hilde onseege,
feorhbealu fdeguni.
Hier verstehe ich nicht wie man unterlassen konnte , nach 2482 fg. Hted-
cynne weard güd onsdge zu bessern: schon die apposition berechtigt
hild zu lesen, wepn man nicht einen verzwickten Wechsel der construc-
tion nicht nur, sondern der bedeutung von onsdge gut heissen will.
36. Mit solchen decompositis wie eaforheäfodsegn 2152, sigehred-
secg 490, änmggearu 1247, geösceaßgäst 1266 sollten doch herausgeber
die spräche nicht bereichern. Sie würden die Überlieferung verdächtig
machen, wenn sie das einzige mittel wären, verstand in eine stelle zu
bringen; wie aber, wo sie zum Verständnis ganz unnötig sind? So lange
ein compositum etymologisch und begrifflich als solches lebhaft gefühlt
wird, widerstrebt es dem geist der alten spräche, es abermals mit einem
dritten wort zu componieren. Jeder muss den unterschied zwischen den
angeführten Ungeheuern und solchen Zusammensetzungen fahlen wie
ambehtpegn, agldcmf, ecddhläford mit entstellten bestandteilen , oder
rergestreon, mänfordddla, edmtlif mit untrennbaren partikeln.
Für bedenklich halte ich nicht minder, obgleich sie wirklich über-
liefert scheinen, solche composita wie wiggeweordad 1783, lyftgeswenced
1913, fcerbefongen 2009. Unsre moderne dichtersprache nimt sich die
freiheit , jede beliebige instrumentale structur des partic. praeter, in ein
compositum umzusetzen. Der alten spräche entspricht dies nur in weni-
gen fällen und nur mit der reinen (meist starken) participialform ohne
präfix, wie gilpMceden, bedghroden, gddhroden, handlocen (vgl. Gr. 2,
590 fg.). Über den häufigen Wegfall eines auslautenden e in der hand-
schrift vgl. § 33.
37. 2157 hatte Grein früher ganz richtig erkannt, dass man derist
mit der deutung origo für drest lesen müsse. Warum nun in der son-
406 M. BIEGBB
derausgabe und nach ihr bei Heyne die überflüssige ergänzung [or] vor
(er est, mit dem schwächlichen sinne, dass Beowulf, bevor er die rüstung
übergebe, erst ihren Ursprung sagen solle? Wir kennen cktist aller-
dings nur mit der bedeutung resurrectio; aber das präfix cc-, hochdeut-
schem ä in äJcust, ämaht usw. entsprechend, vor verben in unbetontes
ä' übertretend und mit ahd. ar-, ir- auf einem verschollenen as- = got
US- beruhend (Gr. 2, 819), hat von haus aus nur die bedeutung des
anfanges und gewinnt erst mittelbar die des wideranfanges. Die Wörter
(esprlnge und cewylm für fons heben für t^rist = origo jeden zwei-
fei auf.
38. Mit MüUenhoffs kritik des Beowulf im 14. bände der Zeit-
schrift f. d. altertum flnde ich mich der hauptsache nach und fast in
allen einzelheiten in voller Übereinstimmung. Den schluss der zweiten
fortsetzung glaube ich jedoch etwas anders bestimmen zu dürfen. Die
bemerkuug 2196 — 99: „ihnen beiden (dem Hygelac und Beovnilf) war
das reich angestammt, dem einen mehr, der der bessere (glücklichere,
vornehmere) war," ist in dem was vorausgeht durch nichts begründet
und wurde, ehe das lied vom drachenkampfe mittelst der einleitung des
zweiten interpolators angefügt war, nach meinem gefuhl einen sehr
befremdlichen schluss des gedichtes gebildet haben. Sie erscheint dage-
gen vollkommen im zusammenhange begründet, wenn noch zehn verse
mehr zu der fortsetzung gehören; und mit diesen erhält das ganze, soweit
aufgebaute werk zugleich einen sehr angemessenen schluss. Der dichter
wirft, nachdem sein gegenständ erschöpft ist, noch einen blick auf das
spätere leben seines beiden; er sagt, dass er nach dem erlöschen von
Hredhels mannsstamm noch könig geworden sei und lange rühmlich
regiert habe. Der satz ist freilich ein anakoluth: nxxt peef- geiode sollte
der subjectivsatz imt peet folgen, statt dessen folgt nach dem unver-
hältuismässig langen nebensatzo der hauptsatz 2207 mit einem sUtään^
das zu dem in 2201 correlativ gedacht ist; die herausgeber verschlim-
mern aber die sache ohne not , indem sie nacli 2206 einen punkt setzen.
Unerträglich ist nur der schluss wccspä frod cijuing: hier muss es gestattet
sein Jicet för ]iä zu setzen , wobei natürlich feöd im sinne von strenuus ver-
standen wird. Die legende von Andreas schliesst mit ähnlicher formel J!^
is cedele c^nhig; Beowulf 11 heisst es zum abschluss der erzählung von
Scili Jieef wcesgod cyning, und ebenso 2390 von Beowulf Aber auch im sinne
des weiterspinnenden interpolators taugt />« nichts und ist Ptef- zu verlangen:
denn wer hier pä brauclite und fröd für seticx nahm , muste nicht mit dA
p<et, sondern mit ponne fortfahren. Ebenso steht 2629 pä irrtümlich
für pa*!. Ein fall , wo pä ollenbar an die stelle von ^«pr getreten , ist
402 snyredon (etsonme pä secg tvisode; umgekehrt ist pä durch ptei
ZUM BEOWÜLF 407
verdrängt 2699, wo man, um nicht dem dichter ein migeheuerliches
satzgeschiebe zur last zu legen , mit Thorpe einen neuen hauptsatz begin-
nen muss mit pä he pone nidgcest.
39. Aus dem im mauuscript 2227 vorfindlichen wortrest syn . . sig
machen die herausgeber ein adjectiv synleäsig, das nach Grein culpae
expers bedeutet, nach Heyne aber für sinleäsig steht mit der bedeutung
„sich verbergend." Woher diese letztere kommen soll vermag ich nicht
zu ersinnen; die von Grein beliebte halte ich für unmöglich, weil leäsig
doch nicht von dem adjectiv leäs, expers, sondern nur von dem Substan-
tiv IcäSf mendacium abgeleitet sein könnte. Die bedeutung wäre also
vielmehr culpose fallax, was hier keinen sinn gibt. Man hat aber auch
keinen grund die bedeutung cmT/;^ expers zu fordern, noch über-
haupt ein neues unbezeugtes wort herzustellen. Man lese synhysig, was
den sinn gibt culpa lahorans, in folge einer schuld durch Verfolgung
bedrängt; vgl, Ufbysig, lahorans de vita 966. ngdbysig, viridis lahorans
Jul 423.
. 40. Thorpes emeudation leng für long 2240 ist von den deutschen
lierausgebern verschmäht worden. Hat aber das einen sinn: der letzte
besitzer wünschte es hinzuhalten , dass er eine kleine zeit lang die schätze
besitzen möchte? Allein wie er ist kann er sie nicht verteidigen; er
ist in gefahr sie alsbald zu verlieren; er verbirgt sie also, um sie noch
eine kleine zeit (nämlich den kurzen rest seines lebeus) länger zu
besitzen.
Dasselbe loos hatte Kembles emendation feä worda cwceä für fec
tvord äcwced. Auf die gefahr hin, dass dem unverstandnen fecword
statt der rater noch ein retter erstehe, wage ich auch hier die
emendation zu verteidigen. Wir finden die formel fed tvorda cwceäy
die auf den folgenden wortreichen erguss nicht besonders passt, 2662
wider, und wenn es im Hildebrandsliede heisst her fragen gishio}it'
föhem wort um, so wird es wahrscheinlich, dass sie im epischen gebrauch
eingebürgert war.
41. Mit recht verschmäht wurde Thorpes conjectur niwol für niwe
2243 , aber ohne dass die richtige erklärung des wertes gefunden wurde.
Heyne sieht darin mit Leo ein sonst unfindbares, mit niwol verwantes
Substantiv 7nwe = abschüssige stelle; Grein emendiert niäe == infra,
was man gleichfalls sonst nicht liest, als wäre der beorh auf flacher
seeküste am fusse des Vorgebirges gewesen. Niwe heisst aber bekant-
lich neu, und der dichter spricht ganz einfach von einem neu aufgewor-
fenen grabhügel. Warum, das ist im grund eine türwitzige frage; viel-
leicht nur um einen Stabreim zu gewinnen. Aber es Hessen sich auch
408
M. BIEGEB
wol gründe angeben: z. b. dass der neue hügel vor nachforschangen
sicherer war als ein alter eines längst vergessenen.
42. Sdedreäm ohne die nähere bestimmung heisst nicht die him-
lische, sondern die irdische freude. Sinnlos lesen wir daher 2251 fg.
pära pe J)is [Uf] ofgeaf^ gesäwon seledreäm. Es sollte swegles dream
oder swcgldreäm heissen. Aber vielleicht steckt auch der fehler in gesä-
won und sdedreäm hängt als apposition zu Uf von ofgeaf ab, wie es
2469 heisst gumdreäm ofgeaf. Dann dürfte man für gesäwon Yermuten
gesippa. Das nianuscript ist gerade in dieser gegend sehr viel verschrie-
ben oder sehr schwer zu lesen.
43. Der vers
2298 on pcbre westenne. Hwceäere hilde gefeh
ist ohne reim, und Greins emendation on hceäe westenne, durch die er
ihn herzustellen glaubt, hat nichts wahrscheinliches. Sie hilft auch nicht
dem sinn der nächstfolgenden worte auf: hwcedere hUde gefeh, hectdo-
iveorccs kann doch nicht von dem drachen gesagt werden, indem er die
Verfolgung aufgibt und zu seinem horde zurückkehrt. Nach 2298* ist
offenbar eine lücke von mindestens zwei halbversen, deren Inhalt etwa
so zu 2298** überführte: der dieb war entronnen, er gab nicht zu erken-
nen, hwceäer (ob er) hilde gefeh, headoweorces ; d. h. er hielt zum
kämpfe nicht stand. Mit hivilmn begann dann ein neuer satz, in dem
der drache wider als subject eintritt.
44. Ein überblick der composita mit hcoru (abzüglich derjenigen,
wo hearu mit here concurriert und für dieses nur verschrieben ist) lehrt,
dass die Wörter durch diese composition keineswegs auf den begriff
Schwert, sondern auf den begriff verderben, tod bezogen werden. Die
einzige ausnähme würde hiorodrync bilden, das zu 2358 von den heraas-
gebern als schwerttrunk erklärt wird. Ich leugne gar nicht, dass die
wunde als ein bluttrunk des Schwertes poetisch gedacht werden könne,
wol aber dass die hörer unsers werkes nach der sonstigien analogie von
heoro das wort so auffassen konnten. Hiorodrync ist nichts weiter als
2>otiis Idalis, und wenn wir lesen dassHygelac hiorodryncum sweaU, bitte
gebeäten, so sollten wir daraus entnehmen, dass er durch wunden ent-
kräftet bei dem versuche sich schwimmend zu retten ertrunken ist, wäh-
rend Beowulf glücklich davon kam und sogar seine beute davon brachte.
Nach den fränkischen quellen wartete bekautlich Chochilaich den aoslauf
seiner beutebeladenen schiffe aus der Bheinmündung ins meer am ufer
ab^ um mit der nachhut die letzten selbst zu besteigen, und vnirde hier
von Theodebert ereilt.^ Geschlagen muste er also notwendig nach sei-
1) Greg. Tnron. III, 3: rex eoram in littus residebat, donec nctvea aUnrnmare
comprehenderettt , ipse deitvceps seaUuriis. Gesta reg. Franc 19: Dani — piemoB
ZUM BEOWULP 409
nen schiffen fliehen; und die schiffe waren offenbar auch das ziel, das
Beowulf schwimmend erreichte, während unser dichter, wenn er ihn das
meer überschwimmen lässt eft to leoduni 2368 und fortfährt p(h' him
Sygd gebead usw., sagen will, dass er bis nach Gautland schwamm,
und so ein gegenstück zu dem siebentägigen Wettschwimmen mit Breca
herstellt.
Greins ergänzung von 2361 fg.
hcefde him on earme [an and] XXX
hüdegeatwä
wird von Heyne nicht ohne grund mit einem ausrufungszeichen mit-
geteilt. Eine zahlangabe wie einunddreissig ist in der poesie nicht zu
erwarten, ist geradezu stilwidrig. Da im manuscript nicht nur vor, son-
dern auch hinter XXX eine lücke ist (wonach sich auch Grund tvig
bei seinem sonst nicht glücklichen verschlag richtete), so wird man zu
lesen haben
Juefde him on earme [an] XXX[es]
hildegeatwa :
er trug schwimmend die brünnen von 30 erschlagenen Franken mit sich;
woran die folgenden verse mit ihrem Inhalt sich trefflich anschliessen.
Die physische Unmöglichkeit verantwortet die sage, die Beowulfs persön-
lichkeit noch sonst ins ungeheuerliche ausmalt.
45. Nirgends kann eine lücke deutlicher verraten werden als die
von Thorpe hinter 2395 angegebene durch den mangel des objectes zu
gewrcec. Dieses object ist Heardred, der von Onela beim gastmahl {on
feorme 2385), also verräterisch bei friedlicher Zusammenkunft, erschla-
gene gebieter Beowulfs. Aber lieber ergänzen Grein und Heyne aus der
luft ein hine oder hit, als dass Thorpe recht haben dürfte.
46. In dem satze 2435
wtes päm yldestan ungedefdice
mceges dcedum mordorhed stred
liegt eine kühne, aber nicht edle plastik. Man sieht das Strohlager
streuen, auf das die leiche bis zur bestattung gelegt werden soll. Ver-
gleicht man die andern in diesem werk erscheinenden composita von bed,
so sind sie ohne solche plastik in ganz allgemeinem sinne verstanden:
ic hine heardan dammum on wcelbedde wridan pdhte 964. P(er Ms
lichoma legerbedde fast (im grabe) swefed 1007. nü is dryhten Qeäta
naves de capHvis habentes, alto mare intranUs, rex eorum ad litiis moHs resedit.
Im 10. Jahrhundert wurden die angeblichen knochen des Hniglaucus auf einer au in
der Rheinmündung gezeigt (Zeitschr. f. d. a. 5, 10).
410 M. BIEOER
(leuäbcdde fcest 2901. fumlon pa an sande säwulleäsne Jilinhed hecUdan
;^034. Hier hat mau nirgends ein wirkliches bette vor äugen, es wird
mit hed nur der ort oder gar der zustand des liegens bezeichnet. Und
darum glaube ich, dass an unsrer stelle stißred = bestirnt, verordnet, för
strcd herzustellen ist , wie es Andr. 1094 heisst durupegnum tcearä hild-
hedd stf/red.
47. 2586 fgg. Nc ivres p(Bt ede sid,
pcet sc mcera maga Ecgpedives
grimdwong pone ofgijfan wolde,
sceolde [wyrmcs] mllan tvic eardian
dies hwergen.
„ Das war kein leichter weg , dass Beowulf dieses leben verlassen sollte,"
mit andern worten: „es war hart, dass Beowulf sterben muste"; diese
bemerkung , an und für sich trivial , ist hier mitten in der erzählung des
kämpf es so übel angebracht, dass verdacht entsteht. Die magerkeit des
hemistichs pcef se mcera unterstützt ihn : . prd als conjunction pflegt bei
seinem geringen tonwert, so oft es auch den vers begint, nur im auf-
tact zu stehen. Liest man [od] pcet se mdra, so ist dieses metrische
bedenken beseitigt und wir haben dann eine ganz passende und durch
viele ähnliche beispiele wahrscheinliche Zwischenbemerkung über die härte
des kampfes, die dem interpolator gelegenheit gibt, seiner liebbaberei
gemäss bei dem in den nebensatz verlegten gedanken des todes länger
zu verweilen. Auch 1911 hjit das manuscript unverkennbar ptßt för
öd pcet.
Noch muss ich hier die von Grein und Heyne beliebte ergäuzung
[tvyrmes] beanstanden. Die erwähnung der todesart gehört nicht in diese
allgemein reflectierende Zwischenbemerkung , und sie käme wenig geschickt
heraus. Das fehlende wort scheint mir ofer zu sein , also der sinn inri-
tus; vgl. 2409.
48. Die herausgeber nehmen 2633 — 46* für eine einzige periode,
zu grossem schaden der syntaktischen Schönheit, aber ganz ohne not.
Man setze nach dem ersten hemistich von 2638 einen punkt. Das pe,
mit welchem das zweite hemistich begint, wird sich dann nicht mehr
auf eine überlästige und schlotterige weise an p(et mdil in 2633 hänfnen,
sondernde, wie 1273. 2067 j&j^, demonstrativ an die spitze des satzes
treten und pe 2841 als relativ aufnehmen: darum wählte er uns zum
gefolge auf diesem wege , weil er uns für tüchtige krieger hielt
49. Bugges nachweis einer lücke von mindestens zwei bcmistichien
zwischen 2660' und ^ ist gewiss wol begründet; nur hat seine ergäu-
zung healdre forgtüden keine Wahrscheinlichkeit, da Imddor immer mit
ZDM BBOWULF 411
einem genetiv (gumena, wigena usw.) verbiuaden vorkomt. Die stelle
könte so gelautet haben:
sceai urum pat sweord and heim,
hyrne and h^wdu scrüd [beadwe for gülden;
hüru unc sceal hdles broga] harn gemmie.
Bcel vom feuer des drachen gebraucht s. 2308. 2322.
50. Bekant ist die construction von helpan mit dem genetiv der
person, und man liest 2879 mdeges helpan. Demgemäss haben Kemble
und Thorpe die stelle p(er he his meegenes healp 2698 emendiert, wozu
der umstand, dass wir 2628 denselben fehler mcegenes für nuBges fin-
den, noch ganz besonders berechtigte. Aber in den deutschen ausgaben
ist his tn^egenes gleichwol wider hergestellt und ihm, ohne beleg noch
analogie, in den glossarien die bedeutung „nach kräften" beigelegt,
unbekünmiert um die Überflüssigkeit dieser nebenbestimmung, während
helpan sonst niemals ohne persönliches object gefunden wird.
51. 2717 fgg. seah on enta geweorc,
hü ]}ä stänlogan stapulum fceste
ece eor^reced innan healde.
Von dieser schönen consecutio temporum haben sich nur Kemble und
EttmüUer anfechten lassen, die heöldon für healde setzten. In healde
treffen drei arten der Verderbnis zusammen, die alle in unsrer hand-
schrift ihre beispiele haben. Erstens die Verwechselung zwischen ea und
eoy die der zweite Schreiber in fealo für feola 2757, Eafores für Eofo-
res 2964, heold für heald 2247, heoldon für healdan 3084 sich zu
schulden kommen lässt. Zweitens die abschwächung der flexionssUbe zu
en, wofür sich frecnen 1104, reäfeden 1212 anführen lässt. Drittens
die Unterdrückung eines nasals durch übersehen des compendiums, die
inlautend erscheint in mine für mtnne 255. 418, herertc für -rinc 1176.
swecte für swencte 1510, äged für ägend 1883, lag fiir leng 2307,
auslautend in rt^swa 60, gcbolge 2221, während umgekehrt der nasal
irrig zugefugt wird in eaforan 375, nacan 1903, päm 2347, l^otnan
2769. Man dürfte heolde setzen als sing, verbi zum subject im plural,
wenn es nicht zu wenig angemessen erschiene , den abhängigen satz hier
überhaupt subjectiv zu fassen.
52. Das dem altsächpischen suigli entsprechende adjectiv swegle
scheint im Angelsächsischen genau betrachtet keine andere stütze zu haben
als die Überlieferung swegle searogimmas 2749. Denn was Grein sonst
dafür beibringt, swegle dreämas Fat. Apost. 32 sind sicherlich keine
lucida somnia, sondern, wie es anderwärts heisst, sioegles dreänias oder
swegldreämas, gaudia codi. Auch das von Grein angesetzte adverb swegle
412 M. RIEGEB
hält nicht stich: Cri. 393 ist es iustrumentaler , Cri. 1103 locativer abla-
tiv, bedeutet dort simphoniä (abhängig von weoräian, nicht von gehyr-
sie), hier coelo; und mit hat verbunden ist es als composition zu neh-
men wie stveglbeorht und swegltorM. Unter solchen umständen ist es
wol geratener, an unsrer stelle ein misverständiüs für die aus 1158
bekante Verbindung sigle, searogimnias anzunehmen.
53. Es ist schade um das erzgeschuhte schwort mit eiserner klinge
2777 fg.; aber ich furchte dass hinter beorhtost ein punkt zu setzen und
dann fort zu fahren ist Bill ehr gescod {ecg wces iren) ealdhlaforde ßäm
pära nmäma mundhora wces usw. Eine änderung ist ja hier unerl&ss-
lich, und es wird nicht gewagter sein ein auslautendes s zu streichen als
pe aus pä zu machen. Man vergleiche 1587 fg., wo es von Grendel
heisst swä him cbr gescod hild (et Hearote; und andrerseits 2828 oc
hine^ irenna ecgc foniamon.
54. Auch die interessante rection wceteres weorpan 2791 ist mir
zweifelhaft. Einen mit wasser werfen bleibt doch für aspergere im An-
gelsächsischen wie im Deutschen ein wunderlicher ausdruck. Sollte der
dichter nicht gesagt haben wceterc swcorfan? An den wenigen stellen,
wo dieses wort im Angelsächsischen vorzukommen scheint, bedeutet es
allerdings liniare, poUre; aber got. bimvairban Luc. 7, 38. 44, Joh. 11,2.
12, 3 alts. swerban E. H. 4508 bedeutet mit einem tuch abtrocknen,
got. afswairban Col. 2, 14 etwas geschriebenes ausstreichen; und wamm
sollte das wort nicht so gut von nassem wie von trocknem abwischen
gelten können? Wenn Wiglaf seinem herm die wunde aufs neue abwusch,
so war es das klügste was er tun konnte , und darüber mochte dem ster-
benden die spräche so gut widerkommen wie wenn er gesprengt wurde.
Der Schreiber verwechselt die ähnlich gestalteten buchstaben oft genug,
dass man ihm hier ein }> för /* zutrauen darf; gleich 2814 sezt er for-
sweof für forswedp, wie Kemble, Thorpe und Grein in der ersten aus-
gäbe richtig emendierten, während später die Überlieferung hergestellt
und das übele wort forswäfmi, pellere, ins Wörterbuch aufgenommen wurde.
55. 2844 fg. heefde dghwcedre ende gefered
Icemtn Ufes.
Hier emendierte Kemble dghwcecter, und man sollte meinen, damit wäre
die Sache abgetan. Grein aber fand es weniger gewagt, auf diese stelle
die annähme eines plurals von dghwceder, uterquc, zu begründen, und
Heyne interpretiert ihm nach ad utrosque pervetierat finis viiee.
1) So muss man für him lesen, wie Grein in der ersten ausgäbe richtig
erkannte. Der zweite schreiber unsres nianuscripts ist wahrlich am wenigsten die
autorität, um gegen einen herschenden gebrauch aufzukommen.
ZUM BEOWÜLP 413
56. Für fyran swUtor, wie 2881 in der handschrift steht, ist es
offenbar leichter, fyr unsmdor als ßr ran swiäor zu emendieren; beson-
ders da unswutor 2578 wirklich vorkomt. Gleichwol haben Grein und
Heyne jene in meinem lesebuch gegebene besserung ignoriert. Nur mit
ihr ergibt sich die einzig unanstössige Übersetzung: „immerhin war er
(der drache) desto schwächer, nachdem ich ihn mit dem Schwerte getroffen,
das feuer wallte weniger heftig." Dagegen wird durch das von den heraus-
gebern beliebte fffr ran stvidor erstens ein mutwilliger Widerspruch mit
2701 fg. hereingebracht, wo die von Wiglaf dem drachen beigebrachte
wunde zur folge hat pcet pai fyr ongon sweärian syääan; zweitens
irgend eine verkehrte auflfassung der worte synde tvcpfi py stemra bedingt.
Grein wagt nämlich hier zu übersetzen: „nur schlimmer war er, wenn ich
mit dem Schwerte traf den lebensbestürmer ," indem er für sdmra gerade
das gegenteil seiner wirklichen bedeutung in anspruch nimt; Heyne
bezieht, wie ich selbst ohne not fi-üher wolte, w(ps als erste person auf
Wiglaf und erklärt ,, immer noch war ich zu schwach," während py
srhnra nur „desto schwächer" heissen kann, was freilich keinen sinn
ergäbe.
57. Hygenueäum 2909 bedeutet nach (xrein „mit geziemender
gesinnung, aufmerksamer Sorgfalt" Mdit =^ condicio, fnodus, honor, ist ein
in der prosa übliches, der poesie fremdes, nur in dem späten Byrhtnodh
einmal begegnendes wort, das nie als zweiter teil von compositen
erscheint. Warum nicht hygemedum den geistmüden (vgl. 2412), d. i.
hier den toten? Der constructionswechsel „er hält den geistmüden die
hauptwache, des freundes und des feindes" hat nichts anstössiges ; ö» für
e findet sich in tvcelrcec 2661, Hrcedlan 454, Ilrcedles 1484, für e
öfter. Was Heyne von Grein abweichend hier zum besten gibt kann ich
mich nicht entschliesseu ernsthaft zu erörtern.
58. 2918 fgg. p(Bt se byrnwiga hugan sciolde,
feöll on fedan: nalles fraetive geaf
eahlor dugode.
Mit dieser angehängten, die erzählung beschliessenden negation weiss
ich mich nicht zu befreunden. Grein übersetzt zwar ganz gefällig „der
fürst gab nicht mehr schmuck dem gefolge"; aber „mehr" steht eben
nicht da. Es heisst einfach „er fiel: keineswegs gab er" usw., als solte
fallen und geschenke geben als gegensatz gedacht werden. Icli glaube
dass gar nicht vom besclieuken des gefolgcs die rede ist, dass duyode
nicht dativ , sondern geuetiv zu ealdor ist und dass der dichter von jener
frcetwe spricht, die nach 1207 Hygelac übers meer trug, als er den
unglücklichen zug nach Friesland unternahm. Da der sieger dem erschla-
genen vhmuck und waffen raubt, kann sine ealgian, wcdreäf werian
ZBIT8CHR. F. DBUT8CHB PHILOLOOIR. BD. III. 27
414 M. RIEGER
geradezu iils Umschreibung für kämpfen stehn, und nijihstan siäe, sid-
(tan l\r Wider scffue sinr, eaJijode, wrelrmf weredfi 1203 fgg. heisst nichts
andres als „das letzte mal, wo er in den krieg zog"; ein beweis wie
nah es dorn dichter liegen muste, bei dem fall eines beiden an das scliick-
sal seines schmuckes zu denken. Hier gibt uns nun den commentar die
stelle, wo es von dem von Heowulf erschlagenen Däghräfn heisst 2503 fg.
7i(dlcs he Jfä fraiwe Frcmfnimje,
hreostwcordmKje hrin(/an moste :
das ist doch ofienbar ein bekanter schmuck, den der dichter so ohne
weiteres mit <lem bestimten artikel in erinnerung bringt, und kanu kein
andrer sein als der, von dem er früher schon in Verbindung mit dem-
selben kam[)fe gesprochen hat. Wir erlialten durch combination der
verschiedenen stellen über Hygelacs Untergang mit ziemlicher Sicherheit
diesen Sachverhalt: Hygelac ward durch Däghräfn mit einem schwerthieb
(2;55ü) niedergestreckt, aber nicht beraubt, weil Beowulf ihm beisprang,
den Däghräfn ohne Schwertstreich mit der band (250G fg.) erlegte und
ilim das schwort Nägling (2680) abnahm, das er von da an immer
führte (2500 fg.).^ Der verwundete Hygelac verunglückte aber auf der
flucht im wasser (2;558) und so geriet endlich doch seine leiche mit samt
dem schmuck in die gowalt der Franken (1210 fg.).
59. Dass man 2921). 2972 wegen der allitteration nicht hmidslylUy
sondern omlsh/M, gegenschlag, mittelliochdeutsch widerswanc, zu lesen
hal)e, gibt Grein wenigstens als moglichkeit zu verstehn, während Heyne
durch mehrere wenig zutreffende beispiele beweisen will, dass spiritus
asper und spiritus lenis in der tat mit einander allitterieren. Mich
wundert dass ihm hiebei folgende drei verse unsres gedichtes entgan-
gen sind:
499 Ildnferä madelode Eq/Iafe.s bearn
1165 rcifhivplc ödrmn trt/nr. Hic^iflee pdr llunferä Pyle
1488 and J)ii Ilnuferd IrH ealdc läfe.
Andere werden aus ihnen freilich entnehmen, dass der held, der niemals
in allitteration auf h vorkomt, eigentlicli IJnferd hiess, ein name wie
Vnwen Wids. 114; vgl. Unfrid Unfrit Umfrid \m Forstemann 1214.
Ein drittes beispiel von misverständlich vorgesetztem h glaube ich in
handlcan neben andican (Jen. 22Gt, Cri. 832 zu erkennen:
1541 heo lihn eft hrade handleiin forgv<d<l
(irimman gr/ijmm
1) Dies liest man unschwer zwisclieii den /.eilen, wenn man nur nicht 250U
iiint^r (jeUpHie mit (irein einen ]iunkt setzt, wodurch die ful^^endc onahlang aus aller
Yerliinduiii^ ^cnonnnon und zum tot^'n anhän^sel >feniacht wird. ^
2üM BEOWULF 410
2093 hü ic päm hodsceactan
yfia geliivylces hondleän forgeald.
Beidemal wenigstens wird durch die vergröberung des andleän zu
Immllmn hinsichtlich der poetischen Wirkung nichts gebessert ; nur scheint
es fast, der dichter selbst habe sich und andern hier die wähl lassen
wollen , auf spiritus asper oder lenis zu allitterieren.
60. Der ausdruck hund püsenda landes and locenrn heäga 2994 fg.
liiitte uns wol in den glossarien erläutert werden dürfen; wenigstens
wird er dadurch noch nicht klar, dass Grein die seofon Jmscndo 2195
durch den beisatz „geldes" erklärt. Den Schlüssel gibt der im wandrers-
lied V. 90 erwähnte ring , ort päm siexhund wces smmtes goldes gesegred
sceatta scillingrinie. Man sieht daraus, dass die werteinheit, wonacli
Sachen berechnet wurden, der seeat war, der in den gesetzen Aedhel-
byrhts von Kent den zwanzigsten teil eines scilling beträgt (s. Schmid,
gesetze der Angelsachsen^ 594). Bei gegenständen aus edlem metall
mochte er unmittelbar als gewichtseinheit dienen, bei andern als einheit
des tauschmittels oder der münze gelten. Es ist also hier die rede von
einem wert von 100000 seeattas = 5000 seillingas an land und ringen:
eine königliche, aber för den geleisteten dienst nicht unverhältnismässige
belohnung. Beowulf erhielt nach seinen heldentaten in Dänemark von
seinem herrn 7000 seeattas = 350 seillingas nebst einem haus und flir-
stenstuhl 2195 fg.: aber es ist nur die anerkenuung eines dienstes, den
er einem fremden geleistet und den dieser bereits belohnt hat. Hienach
gewinnt es auch erst das rechte licht, wenn Hrodhgar 1685 fg. der seligste
heisst para pe on Seedenigge seeattas dcelde.^
61. 3074 fg. necs hc gold hwcete gearwor heefde
ägendes est dr geseeäwod.
Dieser stelle hat zuletzt noch Bugge einen sinn zu entlocken gesucht,
aber ich bezweifle ob er das rätsei besser gelöst hat als die herausgeber.
Wie kann man doch bei dgend an gott als den obersten eigentümer aller
schätze denken, ohne dass der Zusammenhang irgendwie darauf führt?
Oberall sonst ist dgmd, wo es auf gott geht, mit einem genetiv ver-
bunden , und an der einzigen stelle , die eine ausnähme bildet und daher
von Bugge citiert wird, Exod. 295, ist der Zusammenhang unzweideutig:
1) EttmüUer zu v. 2210 seiner Übersetzung des Beowulf denkt an tausende
landes, wovon eines 10 angelsächsische hundrede begriffe. Siebenzig hunderte wären
schon ein ganzes reich, tausend würden völlig ins märchenhafte fallen. Aber man
bedarf in obiger stelle einer einheit, auf die sich sowol land als ringe reduciereu
lassen. Schliesslich wissen wir gar nichts vom tausend als landmass; die einheit, die
über dem hundred steht, ist die scir, dem festländischen gau entsprechend, und hat
keinen systematisch geregelten umfang. «
27*
416 MAHLY
HÜ se ägend up ärcerde reäde streämas — der herr natürlich , dem das
rote meer gehört. Ist aber, wie nach dem Zusammenhang nicht anders
möglich, unter dem ägend der drache verstanden, so komt man wider
nicht mit est zurecht; und auf keine weise gewinnt man eine richtige
gedankenverbindung, sondern die verse schleppen fremd und störend nach.
Ich glaube durch folgende emendation wort und sinn richtig her-
zustellen :
n(PS he gold hwreäre gvarivor hrefde
[ofer] ägendes est cer gesceäwod.
Indem ich 3068 hinter sceolde einen punkt setze, gewinne ich nun fol-
gende Übersetzung: obgleich die alten eigentümer den hord mit einer
Verwünschung bis zum jüngsten tage belegt hatten, dass sein rauher
der hölle und ihren quälen verfallen solte , hatte doch Beowulf kein gold
vorher ohne des eigentümers gunst lieber geschaut (als dieses); d. L
hatte ihm kein erkämpftes gold jemals grössere freude gemacht. Die
verse enthalten eine deutliche reminiscenz des interpolators an die werte
des dichters 2748—51. Das aus diesen widerholte gearwor wie geor^
vor zu verstehen halte ich für ganz unbedenklich : diese bedeutung ergibt
sich unmittelbar aus der grundbedeutung parafns, promptuSy und es ver-
schlägt nichts, dass gearo 2748 oüenbar nicht „gern," sondern „voll-
ständig" heisst.
ALSBACII A. D. BERGSTRASSE, IM JINI 1870. M. RIEGER.
ZUR ALEXANDERSAGE.
IL
zu JULIl VALERII EPITOME.
(Vgl. b(l. I. s. lli)fKg.)
Wenn der herausgeber der Epitome des Julius Valerius — herr
prof. J. Zacher in Halle - s. XII der vorrede mit recht bemerkt, dass
man in bezug auf toxtesänderungen sich bei einem schriftdenkmale die-
ses Charakters immer gern beschriinkc, „zumal der herausgeber ohnedies
bestandig gefahr läuft, nicht die Schreiber, sondern den Verfasser zu cor-
rigieren," so tritt als zweites hinderndes moment, die conjecturalkri-
tik in ihrem vollen umfang anzuwenden, die verhältnismässig geringe
bedeutung des Schriftwerkes selber hinzu, welches, zudem dass seine
entstehung eine sehr späte und von den Jahrhunderten der classicität weit
abliegende ist, nicht einmal eine selbständige arbeit, sondern, wie der'
titel besagt, der auszug aus einem grösseren werke ist. Indessen wie es
ja nichts als billig und dem wissenschaftlichen bedürfnis angemessen ist,
zu J. VALEMl EPITOMB 417
dass jedes aus dem altertum überlieferte denkmal , sei dessen wert auch
ein höchst geringer, möglichst, und bis auf kleinigkeiten herab, in der
form erscheine , welche sein autor ihm gegeben hat , so möge es verstat-
tet sein , im folgenden eine anzahl von Vermutungen mitzuteilen , welche
ein aufmerksames lesen des Zacherschen textes erweckte. Sie treten ohne
weiteres rüstzeug, ohne gelehrten apparat von parallelstellen auf. Bei
einem autor, wie der vorliegende, wird dies auch kaum jemand verlan-
gen, besonders wenn, wie in diesem falle geschehen, die überaus fleis-
sige , gewissenliafte und erschöpfende arbeit des herausgebers ihre nichts
weniger als dankbare aufgäbe auf eine weise erfüllt hat, dass nur von
einer spärlichen kritischen nachlese die rede sein kann. Viel wird,
besonders in rücksicht auf die ziemlich grosse divergenz der handschrif-
ten , deren keine unbedingt das prinzipat beanspruchen kann , unentschie-
den, d. h. geschmacksache bleiben müssen. So würde ich, gleich zu
anfang, selbst ohne das massgebende criterium des bezüglichen griechi-
schen textes — Pseudo-Callisthenes — schreiben:
I, 1. p. 1. Aegyptii aniblfum codi sfellarumquc nume-
rum adseciäi, statt, wie Z. , Aegt/jdli ambitum coeli stellarum
nuniero adsecuti. Gleich darauf heisst es: Quorum omnium Nectana-
btis prudentissimus fuisse comprobatur, quip2)e qui, quod alii arniis ille
ore potuisse convincitttr. Ich würde, um das anacoluth zu vermeiden,
unbedingt schreiben: quij^pc, quidquid alii armis, ille orc potuisse con-
vincitur, selbst wenn nicht eine der handschriften qtiippe quicquid Uli böte.
I, 8. p. 3. Mox autem, raso capite et barba, collectis omnibus
quaeque sibi erant pretiosarum opuni , appulit Macedoniac, Ich meine
quaecunque sibi erant prctiosarmn opum.
I, 4. p. 4. Die ergo, quanam usus x)eritia adeo veri amicus cluis.
Der griechische text lautet: 7roi(^ oiv axeifm xgcof^ievog to dXrjd^eg e7ray''
yelXeig; wonach man vermuten darf, dass der Epitomator schrieb
veri nun eins cluis.
1 , 4. p. 5. Et cum verbo promit tabulas quas huius peritiae docti
pinacem nominant, Auro enim et ebore variatum pretium cum sui
operis admiratione contenderat. Völlig unmotiviert ist hier enim;
bedenkt man, dass das griechische original diesen Tilva^ i^ ilicpavTog
xat ißavov aal xQ^'^ov xai aQycQOv gearbeitet sein lässt, so möchte
man vermuten: auro ebeno et ebore variatum pretium (oder wol va-
riati pretium). Aber auch der schluss scheint verdorben; und ich
weiss mir denselben nicht zurechtzulegen, wenn nicht wenigstens cum
summi operis admiratione contenderat (contendebat ?) gelesen wird,
(was so viel heissen würde als: „der hohe preis wetteiferte mit der
bewunderung des vorzüglichen werkes, kam dieser gleich").
418 MÄIILY
I, 4. p. (>. Quin Necfanebus statim suam adhibet constdlationefn. —
Hier ist fiir die partikel quin durchaus kein platz und es ist, wie denn
auch eine pariser handschrift bestätigt, cui zu schreiben, dessen ver-
weclislung mit quin vor folgendem n (Nectanebus) so leicht möglich war.
1 , 1. p. 7. Nam fatale tihi est misceri te Deo getiituranigue
filiiim ultorvm omnium. Hier ist die copula que hinter f/ewi^tiraw uner-
träglich (vielleiclit entstanden aus dem schluss des cap. 5 : genituramque
filium vindicem). Wenn es ferner bald darauf heisst: Quare paraveris
tete velim, tit fcminis mos est et reginae dccorum, ad huiusniodi
nuptias, so scheint aus der lesart der mehrzahl der besten bandschiif-
ten feminas eher feminae herzustellen zu sein; vgl. reginae,
1, 7. p. 8. Insequenti igitur die locus destinatur mago, isque prth
uldit ex arte vellus arietis mollissimum simul cum cornibus. Ob nicht
2)rocudit?
I, 8. p 10. Sed Nectanabus accipitrem sibi sacratum parat. Hier
hätte, meiner ansieht nach, nach angäbe des Juretus, dessen mannscript
an dieser stelle secretim enthielt, letzteres adverbium statt des weniger
verständlichen* sacratum anfgenommon werden sollen; secretim pro sccreio
sagt Juretus richtig, und naheliegende analogieen lassen diese bildung
als ganz unzweifelhaft erscheinen.
I, 8. p. 11. Aegyptium igitur semen est qui couceptus est;
non tarnen humile sed }yraeclarum. Möglich ist es, dass qui conceptas
est (Alexander, als subject) neben humih und praeclarum (epitheta zu
dem prädicat semen) bestehen kann, aber nicht eben wahrscheinlich,
also eher quod eonee2)tum est. Ausserdem war nach den bessern hand-
schrit'ten nee tarnen zu schreiben. Bald darauf heisst es: Sed quofiiam
signaculum, quod solis forma visebatuTj subter leonis captd hastili suh-
jecto: is ipse, qui nascetur^ usque in orientis perceniet 2>osscssiof^efn.
Soll hier einige Ordnung in die syntax kommen, so wird zu schreiben
sein: sed quoniam in signaculo solis forma visebatur subter leafün
Caput hastili subjecto —
Im folgenden ist für enimvero quoniam dcum cajnte aridino
testaris keine berechtigung vorhanden, es wird dein vcro zu corrigie-
ren sein.
I, lu. p. 12. Nectanabus vcro praesens sed incisus agebai nee
vidcri sc ex arte magica concesserat. Ich vermag dieses coficcsseraf
nicht zu deuten und vermute confecerat,
I, 12. p. 15. Mane, inquit, quaeso, mi mulier ... quippe si
nunc fiat editus partus, servilem- quidem ... illum futurum astra
1) Psoudoc. 1, S: W()«x(t jnhtytar. vgl. J. (jriiimi, pesoh. d. deutsch, spräche
1. ausj^. s. 50. 51. Z.
zu J. VALERII EPITOME 419
minnntur. Der sprechende liatte kaum das recht, mea (oder mi) muUcr
zu sagen: überliefert ist beides; mulier allein wird richtig sein; unmög-
licli ist aber fiat editus partuSy wahrscheinlich fucrit cditns parttiSy
wie auch eine handschrift bietet.
Am ende des capitels nach Schilderung der wunder und zei-
chen bei geburt Alexanders, lesen wir: uti visercs, omni mundo
hac partitudine ciiram dabo rat am — ein sonderbarer ausdruck.
Pseudo - Calliöthenes drückt sich so aus: üütb tov oviinavia Y.6(5\.iov
ovyKivrjd^rjvai, Etwa omni mundo hac partitudine cur am et lahorem
natu m ?
I, 13. p. 15. Ergo ait et Vhilippus: „Utile, ^^ i)U[uit, „consilium
0 mulier, mihi profttehory non nutriendi quod natum estJ^ Hier ist ait
zu streichen als dittographie von et^ welches einige handschrift^n nicht
haben; ferner ist utile , das ganz widersinnig, mit f utile zu vertau-
schen; drittens glaube ich nicht, dass fuisse (hinter inquit ausgefal-
len?) entbelirt werden kann. Wenn bald darauf fortgefahren wird sed
cum videam sobolem esse divinam diis quoque aique elementis cordi fuisse,
votis educationis accedo — so ist sehr auffallend, nach divinam, diis
quoque^ um so mehr, da der offenbar übersetzte griechische text nichts
davon weiss : aXk' hteidt] ogco Trjv jtiiv a7toQaj' oiaar -d^eov , zöv de Toxe-
tov htior^^iov xoaiiUTtdv, Daraus könte man schliessen auf die fas-
sung sed cum videam sobolem esse divinam, edi quoque elementis cordi
fuisse, — Als leibliche und geistige pfleger Alexanders werden genant
(ibid.) nutrix Älacrinis, pacdagogus Leonides, liiteraiurae Folinicus
magister, musicus Alcipxms, gemuctriae Meneclcs, oratoriue Anaxime-
nes, philosophiae Aristoteles. Hier erfordert der parallelismus durch-
aus musices Aloippus. Dasselbe gesetz des parallelismus verlangt auch
gebieterisch eine textesilndermig im vorhergehenden: erat autem vultu
et forma pulcerrimus , subcrispa ptaulidum et flavente eacsarie et comae
leoninae, oculis egregii decoris, altero admodum nigro usw., wie
dies auch der Schreiber des cod. D. fühlte, welcher coma leonina corri-
gierte; allein diese änderung ist kaum richtig, da flavente eacsarie und
coma leonina nicht zwei verschiedene glieder bilden können. Der grie-
chische text lautet (.loqq^r^v (tiiv el^sv avO^Qi07COv ^ Tt]v de xaiTtjV XiovTog,
wonach wahrscheinlich herzustellen flavente eacsarie ut comae leoni-
nae. — Eine amme Älacrinis also! Welches monstrum hybridum! iimait-
ten acht griechischer namen! Irre ich nicht, so wird sie wöl in Eili-
crinis {EDj'AQivig^) umzutaufen sein.
1) oder EiXixQivtjg , so gut wie bei Homer die Nereiden NtjfitQTtjg und J'/i/^*i.'-
6r}g sich finden.
420 MÄHLY
Erat quidem — heisst es weiter ibid. p. 17 — ille ad omnes lii-
feras p crif u s. Etwa 2^ (^ ^ atus ? Vom ßuceplialus berichtet der aator
(ibid) , er sei gewesen armcnti regalis gcntis formatum 2)€dibus ad Fe-
gasi fahulam. — Glaubwürdiger ist ad Pegasi figuram oder Sta-
tur am.
I, 18. p. 22. In der antwort des jungen Alexander an Nicolaus:
qtüd , . . prodest tibi ista vana imperii jactatio de secundis crastinis
fluctiians ist ohne zweifei zu lesen fluctuanti {cod. B flucttuU).
1, 21. p. 24. Sed rex eff'ervesccnte ira j^^osiUetis in Alexandrum
cntrequc vnhierato lyrocnmhit. — Hier ist que zu streichen.
r, 22. p. 24. Quacso, lnquity 0 Philij>pe, quid tandeni rei est,
quod te averterit a coniugc'^ Hier ist unbedingt die lesart der be-
sten handschrift avertity welche sie mit noch zwei andern gemein-
schaftlich hat, aufzunehmen, und eben so nötig, ja wo möglich noch
nötiger hätte im folgenden die Verbesserung A. Mais aveocnitn scire
statt der handschriftlichen fi herlief erung habco platz greifen sollen. Fer-
ner hätte icli 1 , 24. p. 26 unbedingt der lesart der bessern handschriften'
Pausanias ... oplhus et delictis affluens den Vorzug gegeben (vor
divitiis). In demselben kapitel (p. 27 oben) lässt der herausgeber die
Olympias zu ihrem söhne sagen: Jaculare .. fdi! jactdare 7W duhites!
Es war aber zu interpungieren Jaculare! fili! jaculare! ne dubites!
,,Wirf! mein söhn! Wirf! Zögere nicht!*' jactdare darf nämlich nur
als imperativ des deponens jaculari, nicht aber als inlinitiv act. gefasst
werden. Ebenso muss, wie mir scheint, im folgenden capitel 1, 25.
p. 27 durch Veränderung der interpunction geholfen werden: En tenipus
est, ut , quicumquc Alerand ro cupit mUitare, focdiis inire cum illo festi-
vet. Ich meine En tempiis est, ut, quicumquc Alexandra cupit („wol
will**), militare foedus inire cum illo festinet.
1 , 3(3. p. 30. Tgro dehinc satrapam praeficit. Tumque Syriam
perrcxity accepitque litteras. Alexander war bereits längst in
Syrien (vgl. cap. 35 init.: Syriae per quascunquc sihi tramitus fuerat
civitates) und hatte schon Tyrus erobert; daher muss es heissen Tum
2) er Syriam pcrrccit cett.
I, 39. p. 33. Miramur adeo, rcx^ te hactenus talia latuissc, atquc
e multitudinis impetu tanta nostratihus sujyervenisse. Das ist kaum ver-
ständlich und darum auch kaum glaublich. Ich lese atquc multitudinü^
i mp ctu m tantae nostratihus su2>ervenisse.
I, 41. p. 34. Tandem repentino imhre procedcnte Persae^ c ac-
utus sihi adrcrsari dicentes, fugam capessunt. Wahrscheinlich ....
imhre procidcnte Persae coelites sihi advcrsari dicentes eqs.
zu J. VALEIUI EPITOME
töl
I, 46. p. 36. Bofii igitur consules et ab hac tarn sacrilega
actione quiesces. Das ist richtig, und darum muss auch zu ende des
39. kapitels gelesen werden Boni igitur consules (statt consulas) et
quam primum cum ex&icitu potentissimo eidem obviabis.
I, 47. p. 37. Alexander edici per praeconem iuhet^ reaedificari
Thebas esse permissum in honore (doch wol honorem) trium deorum,
Herculis, qui pug Hiatus invenerit, et Mercurii qui repertor luctandi
cluit (doch wol cluat), PoUucis etiam, qui cestihus sit niagister,
II, 1. p. 38. Der brief Alexanders an die Athener begint: Equi-
dem S2)erOy vos mihi fidos dextrosque futuros, quorum doctrina imbutum
me reminiscor, atque ideo mihi Europa omnis subdita est. Vor atque
idco scheint denn doch eine lücke angenommen werden zu müssen , denn
bei allem respect vor der gelehrsamkeit konte ein Alexander sich doch
kaum zu dieser behauptung versteigen. Im folgenden at, quia vos non
secus meum vdle sentire comperi, accipite usw. — muss etwas ver-
dorben sein; am einfachsten scheint die änderung at, quia vos secus vdle
sentire comperi; allein paläographisch wahrscheinlicher ist at, quia vos
non secundum me sentire comperi,
II, 1. p. 39. Quae res cum mox in curiam Universum coetum
contraxisset, percunctatus Äeschines orator in haec verba conciona-
tur. Nicht vielmehr haud cunctatus? Ich kann leider im augenblick
den griechischen text nicht vergleichen , zweifle aber sehr , ob er ftiad^aiv
öi ^iayjvr^g lauten wird. His dictis ab Aeschine canfestim Demades . . .
subsequens hinc exoritur. Hier war, mit der besten handschritt,
exorditur unbedingt aufzunehmen.
II, 3. p. 40. 0 cives viri , agitur haec curia, uti video, super
tractatu — doch wol hac curia.
II, 3. p. 41. Demades ita peroravit, ut putaret, fws olim feli-
cium gloriarum rcminisce^ites ... arma in hostcm esse sumpturos.
Ich denke felicium uictoriarum.
II , 5. p. 41. Idcirco prudentissimos vestrum convenire colloquio
mco m<ilui. Nicht mecum malui?
II, 6, p. 42. uti boni consulerent et navibus derdictis armisque
amissis amicitiae suae potius, quam armorum caperent experimentum.
Das richtige wird sein armisque missis („bei seite lassend**).
ibid. Ad quos rex ait. Scio me integris etiam rebus id consu-
lere voluisse. Alexander kann nichts anderes sagen als scitote (oder
wenigstens scite),
II, 8. p. 43. Quippe calente tunc .. corpore ineidens rigore
nervis tantam iniuriam perniciemque tradidit, ut vix expiabilis vide-
rdur. Hier wäre selbst ohne Vincent. Bellovac. traxit statt tradidit
•122 K. U. MEYKE
ZU schreiben geweson. Merkwürdiger weise tiiulet sicli bei demselben
Vincontius mox expirahllis statt vlx cjpiahilis. Die bildung expi*
rahilis widerspricht nun iillerdings der analogie, aber auch expiabi-
lis ist bedenklich, der bedeutung wegen. Hiess es ursprünglich im texte
ut m 0 X e xp i r a r c s u i s vidcretur .^
Verderbt muss sein (gleicli darauf) Philippus quidam nommCy
(loci HS urtis eins dem — denn ciusdam hat durchaus kein praecedens,
worauf es sich bezielien könte. Ist hinter fafigaretur eine lücke anzu*
nehmen, wo von der ratlosigkeit der medicl die rede war?
II, 8. p. 11. rexque Fanncnionem proiinus pocna capitis dcpen-
dlt Diese construction ist, so viel ich sehe, unmöglich; statt depen-
dit möchte mit cod. D dampitavit zu sclireiben sein.
II, 21. p. 51. Itahco tarnen grattam condignam rcpmderchis. —
Icli denke aveo tarnen us^v.
III, 2. p. 52. F<det qaippc uosse , quls die ego sim^ Porus , et
an ulll advcrstim nos liearrit ex furtltudute. Quare inhco usw. Hinter
fortitudine muss etwas ausgefallen sein, walirscheinlicli certare, wel-
ches dann durch das honioeoteleuton qnare verschluckt wurde.
III, 2. p. 53. Addis praeterea oprrae pretium cousidcrari
militantibns, ne frustya lahoretur. Es muss heissen op orter c pretium
considerari usav. (vgl. den schlussatz des Porus p. 52 unten).
III, 3. p. 53. Cain econfra Fersae sagdtis eos praevcnirei}^^
Macedones quoqae iaculis diversi gener is nee minus eos pracirent,
equus taudem- Alexandri usw. Etwa premerent:^
liASEL. J. MÄllLY.
ÜIJER (iKRIIAPtl) VON VIKNNE.
EIN BEITRAG ZUR RüLANDSSAliE.
Indem ich aus dem altfraiizösischen lUtman de Gerard de Viaue
neues licht über das wesen der llolandssage zu scliöpfen mich anschicke,
nmss ich leider gleich zu anfang bekennen , dass ich zu solcher arbeit
mehrerer notwendiger Werkzeuge entbehrte. Denn weder waren mir die
umfassenden untersuclmngen von P. Paris in der Histoire lit^raire de
la France. Bd. 22, von G. Paris in der Ilistoiro poetiquo de Charle-
magne, von L. Gautier in Les epopte franyaises zugauglicli, noch
konte ich Tarbes ausgäbe, Le Koman de Girard de Viane. Keims 1850.
benutzen. Meine betrachtung dieses teiles der altfranzösischen sage ruht
allein auf Imm. Bekkers ausgäbe in seinem Roman von Fierabras,
Cb£b gebhabd von vienne 423
provenzalisch. 1829. S. XII — LIII und s. 156 — 169, der nach W. L.
Hollands bemerkung nur die ersten 2600 verse fehlen.^
Unser Roman de Gerard de Viane gehört einem grossen geschlechts-
gedichte an, das nach seiner ersten abteilung gewöhnlich Garin de Mont-
glaive, von einigen nach seinem haupthelden Chanson de Guillaume au
court nez genant wird und aus folgenden meistens auch für die deutsche
litteratur wichtigen epen besteht: 1) Garin de Montglaive. 2) Girart de
Viane. 3) Aimeri de Narbonne. 4) Les enfances Guillaume. 5) Le
couroimement du roi Looys. 6) Le charroi de Nismes. 7) La prise
d'Orange. 8) Beuve de Comarchis. 9) Guibert d'Andrenas. 10) La
mort d' Aimeri de Narbonne. 11) Les enfances Vivien. 12) La cheva-
lerie Vivien und La bataille d'Aleschans. 13) Le moniage Guillaume.
14) Kainouart. 15) Bataille de Loquifer. 16) Le moniage ßainouart.
17) ßenier. 18) Foulque de Candie. Diese gewaltige geste scheint noch
im 12. Jahrhundert von Bertrand, einem clerc in Bar sur Aube, behan-
delt zu sein.^ Wir sehen hier vom hauptstoffe derselben, der anziehen-
den sage Wilhelms von Orange, ab und widmen unsere aufmerksam-
keit vor anderen der zweiten abteilung des gedichtes, dem Gerard
de Viane. Der inhalt ist folgender:
1) V. 1 — 48. Gerard von Viane ist mit seiner gattin Gui-
borc schon sieben jähre (v. 521 fgg.) lang von kaiser Karl dem
Grossen belagert. Ihn unterstützen seine brüder, namentlich ßai-
nier von Genes in begleitung seines sohnes Olivier und seiner toch-
ter Aude.
2) V. 49 — 347. Über einen falkcn, der dem Eoland über die
Khone hin entflogen und von Olivier aufgefangen ist, geraten beide
vor der stadt in streit, bis Olivier ihn herausgibt.
:^) V. 348 — 721. Bald darauf zu ostern lässt Koland für eine
quintaine mitten auf einer wiese drei pfilhle aufrichten, jeden mit
einem starken doppelpanzer bekleidet. Olivier, anfangs mit Aude dem
waftenspiele zusehend, reitet dann heimlich hinaus, durchbohrt unerkant
zwei Schilde und die panzer und wirft das ganze pfahlwerk über den häu-
fen. Nun entbrent ein kämpf zwischen Olivier und Roland, der
die Aude o le der vis, aufsein ross hebend, rauben will; doch
Olivier entreisst ihm die Schwester.
4) V. 722 — 1239. Lanbers, gi'af von Baris (auch Berri) et
Bourgogne, bietet, um Roland zu rächen, Olivier einen Zweikampf an.
Aude will ihn vergeblich verhindern, Lambert wird besiegt und geht,
1) Vgl. ühland, über das altfranzösiscbe epos, in: Schriften 4, 336.
2) ühland Sehr. 4, 334 fgg.
424 E. H. MEYER
von Audes Schönheit bezaubert, nach Vienne und versucht daraur mit
Olivier im lager der Franken zwischen Karl und Gerard frieden zu
machen.
5) V. 1240— 1884. Da ihre vorschlage abgevnesen werden, for-
dert Olivier den Roland auf die Khoneinsel unterhalb Yiane
zum Zweikampf. Siegt Koland, so soll Gerard die stadt ausliefern;
unterliegt er, so hat der kaiser die belagermig aufzuheben. Doch bei
Oliviers weggang entsteht neuer streit, die Vianer eilen herzu, Gerard
bläst das hörn zum rückzug. Karls beer bestünnt die stadt, von deren
mauer die von Roland bewunderte Aude einen stein her-
abwirft, der einen Gascoguer fast zu tode trifft. Schliesslich treibt
Oliviers ausfall das beer der stürmenden zurück.
6) V. 1885 — 3101. Karl träumt von einem falken, der ans
Viano geflogen mit seinem liabicht kämpft, dann friedlich sich schnä-
belt. Jener wird morgens auf Olivier, dieser auf Roland gedeutet
Vor dem Zweikampf auf der Rhoneinsel, der nun beginnen soll, stösst
Olivier dreimal ins Hörn und Roland setzt zu ross über den ström.
Nun ersucht Olivier Roland, den Vianeru beim kaiser frieden zu erwer-
ben, wofür ihm Aude zum weihe gegeben werden soll. Aber Boland
will Aude und Viane mit dem schwert erringen , sodass nun unter Audes
und Karls äugen der kämpf entbrent. Als Roland Oliviers ross geftUt
hat, sinkt Aude in Ohnmacht und Guiborc trauert. Dann zerhaut Koland
auch Oliviers schwert, erlaubt ihm jedocli sich ein anderes holen zn
lassen, heischt aber für seinen durst einen trunk. Als Olivier sich
mit einem neuen Schwerte versehen, wird er von Roland bei erneuerung
des kampfes zu boden gehauen. Aufgesprungen bedrängt er aber
Roland so, dass dieser aus müdigkeit um ruhe bittet. Da dies vorwei-
gert mrd, obgleich schon der abend hereinbricht, stellen sie sich von
neuem mit gezücktem Schwerte gegenüber. Da senkt sich eine wölke
zwischen sie, ein engel steigt heraus, mjihnt sie von weiterem kampÜB
ab und fordert sie zu gemeinsamem streite gegen die Sarazenen auf.
Nun versöhnen sich die beiden unter einem bäume, und Roland will
Aude zum weihe nehmen und den kaiser zum frieden bewegen. Nach
einem küsse gehen sie auseinander.
7) V. 3102 — 3955. Karl hält sich nicht dadurch gebunden und
setzt die belagerung fort. An einem maientag jagt er bei Viane in
Clermon, einem grossen walde, was ein böte dem Gerard meldet.
Nachts steigt dieser mit seinen rittern, unter andern mit dem Lombar-
den Desieirs de Pavie in einen unterirdischen gang, ein bau-
werk der beiden, und gelangt so zum hause des ßrsters Bertran.
Sie überraschen den kaiser, wie er an einer quelle einem erlegten eher
Cbbr gbbhard von vibnke 425
die haut abzieht. Gerard, der entweder sein land widerhaben oder zu
den Aral^rn gehen will, wird vom kaiser begnadigt und führt ihn durch
den geheimen gang mitten auf einen platz in Viane. Karl
bittet fiir Roland um Audes band und Quiborc ffihrt sie ihm zu. In<
gegenwart des erzbischofs reichen sich Boland und Aude die
band.
8) V. 3956 — 4060, In diesem augeublicke treffen boten ein vom
guten könig Ys von Qascogne, welche den einfall von vierzehn feind-
lichen königen melden , die Tarascon geschleift haben und Bordeaux
belagern. Seguins von Bordeaux fragt sie, ob sie die Wahrheit
sagen. Nach genauer meidung entbietet Karl sein beer zum kämpf nach
der Gascogne. Roland küsst Aude und übergibt ihr seinen
ring. Dann scheiden sie auf immer von einander.
Schon diese dürftige Inhaltsangabe führt zu der Vermutung, dass
in diesem gedichte geschichtliche und sagenhafte bestandteile mit ein-
ander verbunden seien, indem der erste, vierte, siebente und letzte
abschnitt einen mehr historischen, die andern vier einen sagenhaften
Charakter tragen. Den haupthelden, den aufständischen grafen Ger-
hard von Vienne, nennen nun auch verschiedene fränkische annalen
des neunten Jahrhunderts. Graf Gerhard von Paris, anhänger kaiser
Lothars , wurde nach der Schlacht bei Fontenay 841 durch Karl den Kah-
len seiner grafschaft beraubt, dafür aber durch Lothar zum herzog
oder grafen von Burgund erhoben. Nach Lothars tode residierte er
zu Vienne als allmächtiger vormund des schwachen königs Karl, von
der Provence und verjagte um 860 die Normannen aus der Camargue.*
Darauf entbrante ein krieg zwischen Gerhard und seinem alten feinde
Karl dem Kahlen, und ums jähr 870 übertrug dieser die grafschaft
Bituricum von Gerhard auf Acfrid, aber da es diesem nicht gelang den-
selben daraus zu vertreiben, so erschien Karl selber vor Vienne, das
Gerhards gattinBertha verteidigte, während Gerhard sich in eine andere
bürg zurückgezogen hatte. Als Karl die einwohner Viennes für sich zu
gewinnen wüste , rief Bertha ihren mann zu hilfe ; dieser kam auch her-
bei, aber nur, um die Stadt dem könige auszuliefern.* Er zog sich darauf
mit seiner gattin auf seine guter in der Bourgogne zurück.^ Nach einem
andern berichte wurde Gerhard von Karl gezwungen, geisein zu stellen,
und, mit seiner gattin auf drei schiffen die Rhone hinunterfahrend, Vienne
zu räumen, das Karl seinem schwager Boso übergab.^ Auf diesen aus-
1) Fauriel, bist. d. 1. p. prov. 3, 34 ff.
2) Pertz, Mon. 1, 476. 2, 491. 493.
3) Hist. d. Languedoc 1, 577.
4) Pertz a. a. o. 2, 491.
42n E. II. MKYEB
giiiig scheint auch sclioii unser godicht in den v. 3553 — 3555: de Im'
tnnmi ma ferro et mim pah, FA sil nel fait, par le cors S. Mori$.
ie m' en irai on raiijne as Arrahis anzuspielen.
Der provenzalische ronian, in welchem der held Gerhard von
iloussillon, nach einem bei Chatillon an der Mai'ne gelegenen schlösse,
sein königlicher gegner Karl M arteil heisst,' hat zum hauptinhaltc die
Irrfahrten Gerliards und seiner frau Bertha wälirend seiner verbannungs-
zeit, die auf 22 jähre angegeben wird/ aber in französischen gegenden
sich abspielt. In einem Koman de Roncevaux ist er ein Paladin Karls
des Grossen und wird von Marsilius erschlagen.'* In den späteren
italienischen heldenromanen erscheint er unter dem namen Gerhard von
Fratta als rebell und zugleich als renegat, dann wider auf der seite
der Christen im kami>ie gegen den heidenkönig Agolänte.*
Es zieht mich hier nicht an, die romanische Weiterbildung der
sage von Gerliard von Vienne zu verfolgen; icli will in der kürze nur
noch auf einige andere gcscliichtliche anhaltspunkto derselben liinwei-
sen. Die im vierten abschnitte unseres gedichtes neu auftretende , etwas
zweideutige gestalt Lamberts, des grafen von Berry und Bonr*
gogne, der auch im elften capitel Turpins als fürst von Beny mit
2()()o kriegern auftritt, deutet walirschchilich auf einen Zeitgenossen Ger-
hards, den herzog Lambert zurück, der zwischen Seine und Loire ein
herzogtum besass, sicli verräterisch mit den Bretanen verband und den
Franken unter Vivianus um 85u eine furchtbare niederlage beibrachte.^
Diese annähme ist um so begründeter, als auch der tragische untergaug
Vivians in die Rhonesage aufgenommen ist, und zwar in die der Ger-
hardsage innerlich verwante und durcli IJertnmd auch ausserlich mit ihr
vertiochtene Überlieferung von Wilhelm von Orange.
Der letzte abschnitt erwähnt den Seguin von Bordeaux , der
als Saguin oder Sanguin auch in den Keali di Francia vorkomt. Er ist
ohne zweifei dem geschichtlichen gi'afen von Bordeaux Saguins gleich za
achti^n, welcher den an deutsche hauskoboldsagen erinnernden beinamen
Mostellanicus trug und 815 oder 841) von den Normannen orschlageu
ward. •'•
1) tjhrij^cns lit'^'t auch «'in I^o ussil lo n diolit boi Vioniic mit ilon miiien
viiH's Schlosses, dessen schönhi-it ^'C^cii ende des 12. jahrbundertK der troubadour
Cjnillein von Saint -Didier preist. Mvlius. lussreise durch duH südliche Frankreich
II. 1,2. Diez, Lohen und werke der Troubadours s. 324.
:>) Fauriel, hist. d. 1. ijocsie prov. 2, 'M IV.
;j) W. (irimm, Holandslied s. LXXII.
•t) IJe^'is zu Hojardo s. 405. 127.
r») Pertz. Mon. 1, r»70. 2, 253. 3():». «;r»3.
()) Hist. d. liun^'uedoc 1, 513. Tertz, Mon. 2, 253.
ÜBER GERHARD VON VIENNB 427
Jüngere ereignisse als die augeführten haben in unserer Gerjiard-
sage keine spuren hinterlassen, so dass wir annehmen dürfen, dieselbe
ha])e am ende des neunten Jahrhunderts ihren abschluss gefunden. Wol
aber bemerkt man einige etwas ältere einwirkungen der geschichte. So
kann in dem Lombarden Desieirs de Pavie, einem gegner des kai-
sers , der unglückliche Langobardenkönig Desiderius , der feind Karls des
Grossen, nicht verkant werden. Überhaupt wird ein schärferer unter-
sucher leicht auch hier Verschmelzungen und vertauschungen weitentfern-
ter Personen, ereignisse und Völker des karolingischen Zeitalters nach-
weisen, wie ja in dieser gedichtgattung z. b. die drei bedeutendsten
Karle, Karl Martell, Karl der Grosse und Karl der Kahle, oft für ein-
ander eintreten und die heidnischen Normannen oft unter dem namen
der gleich furchtbaren Sarazenen vorkommen. Alle diese angaben über-
blickend , müssen wir allerdings einräumen , dass der Gerhard von Vienne
und die meisten karolingischen heldengedichte einen hauptteil ihrer nah-
rung aus den wilden kämpfen des Karolingertums gesogen haben, und
dass sie erst in einer zeit, wo die Germanen mehr oder minder roma-
nisiert waren, zu voller reife gelangten. Aber andererseits behaupte
ich, dass die meisten dieser sagen in einem weit älteren, echt germa-
nischen Zeitalter geboren und zu kräftiger Jugend emporgediehen sind.
Das, was Treitschke das „liömertum" der Franzosen nent, „diese
nationale verirrung ihrer phantasie," hat sich nicht nur seit der revolu-
tion ihrem staatsieben mitgeteilt, es hat sich früher, wie albekant, in
ihre schöne litteratur gedrängt und auch ihre geschichtsforschung wesent-
lich beeinflust, sowol die litterarische Fauriels wie die politische Gui-
zots. Einem Fauriel, der doch wenigstens in der derbheit der romane
des kärlingischen Sagenkreises eine erinnerung an den altfränkischen
cliarakter erblickt,^ wäre es sonst unmöglich gewesen, in der echt ger-
manischen Waltharisage den ausdruck einer galloromanischen feindschaft
wider das Frankentum zu finden. Unter solcher misgunst gegen deut-
sches wesen hat die Untersuchung aller jener chansons, in deren mehr-
zahl eine viel tüchtigere germanische heldenhaftigkeit steckt als in den
meisten mittelhochdeutschen rittergedichten , schwer gelitten, indem sie
sich gewönlich mit der romanischen schale begnügte, den germanischen
kern dagegen unberührt liess. Zwar unter den Deutschen hat schon
ühland in seinem klassischen aufsatze Über das altfranzösische epos
1812 2 gesagt: „Es darf zum voraus als wahrscheinlich angenommen
1) Fauriel, bist. d. 1. poesie prov. 2, 276.
2) In ühlands sehr. 4, 329 ff. durch W. L. Holland von neuem heraus-
gegeben und mit schätzenswerten anmerkungen bereichert.
428 E. H. MEYER
werden, dass mit den Franken, so wie später den Normannen, auch ger-
manischer gesang nach Gallien übergewandert sei, und dass, so wie
deutsche Verfassung, deutsche sitte, überhaupt deutsches leben in Gal-
lien Wurzel gefasst, so auch geist und weise des deutschen gesanges."
Aber von den Franzosen soll für den deutschen Ursprung des altfranzö-
sischen heldenliedes entschiedener erst L. Gautier in seinen oben ei'wähn-
ten Epopöes franfaises, 1865, eingetreten sein.^ Und doch gewint man
erst das völlige Verständnis für diese französischen sagengewebe, wenn
man ihren dunkelen grund enträtselt, den germanischen mythus. Denn
dann erst wird einem das ursprüngliche wesen des volksgeistes und seine
spätere entfaltung deutlich und zugleich die litterarische tatsache begreif-
lich, dass die kärlingischen romane weit populärer waren in Frankreich
als die Artusromane.
Den versuch zu einer geschieh te der deutschen sage auf französi-
schem boden zu unterstützen, möge die hier folgende betrachtung des
grundstocks unserer Vienner sage bestimt sein.
Sowie die eroberung Viennes durch Karl den Kahlen einen bedeu-
tenden wandel.der politischen läge hervorrief, indem auf sie die Stiftung
des arelatischen reiches durch Boso sich gründete, so spielt auch eine
frühere belagerung dieser Rhonestadt eine hervorragende geschichtliche
rolle. Denn der kämpf Gundobads und Godegisels, der beiden
burgundischen königssöhne, bei Dijon und Vienne im jähre
500 ist als der anfang des endes des altburgundischen reiches anzu-
sehen. Dieses ältere Vienner ereignis, das neben der historischen eine
tief tragische bedeutung hat , halte ich für den punkt der geschichte , an
den sich der germanische mythus ansetzte.
König Gundobad nämlich, von seinem bnider Godegisil und dem
mit diesem verbündeten Frankenkönig Chlodovech bei Dijon 500 geschla-
gen , floh bis nach Avignon hinab , raffte sich hier aber noch in demselben
jähre auf und rückte vor Vienne, den bruder zu belagern. Als nun fttr
die ärmeren in der stadt die lebensmittel zu fehlen anfieugen, da jagte
sie Godegisil nach Gregor von Tours II. c. 33 aus dem tore. Unter den
vertriebenen befand sich aber auch der aufseher über die Wasserlei-
tung, und im ärger über die erfahrene unbill verriet er dem Gundobad
einen unterirdischen gang, durch den dieser mit seinen leuten
mitten in die stadt hmeindrang. Nun ward die stadt erobert und Gode-
gisil in einer kirche erschlagen. Nach dem älteren berichte des
Marius aber erlag Godegisil dem Schwerte des eigenen bru-
der s; dagegen fehlt hier der eigentümliche zug von dem eindringen
1) Uhland a. a. o. 4, 3G3. 364.
ÜBER OEBHABD VON VIENNE 429
•
Qundobads durch die Wasserleitung. Mag das nun dichterischer Über-
lieferung oder geschichÜichor Wirklichkeit angehören, worüber selbst der
genaueste darsteller dieser ereignisse, Biuding,* kein entscheidendes
urteil abgibt, so viel scheint unzweifelhaft, dass die siebente abteilung
unseres Gerhard denselben zug diesem sechsten Jahrhundert entlehnt hat,
wenigstens meldet kein Jahrbuch von einer derartigen Überraschung des
Vienners durch Karl den Kahlen. Vielleicht war auch damals jenes
römische bauwerk, das erst im jähre 1820 widerhergestellt ist,^ schon
so schadhaft geworden, dass es nicht einmal zu solchen kriegerischen
zwecken dienen konte. Unsere ansieht von dem Zusammenhang unseres
gedichtes mit jenen altburgundischen ereignissen scheint auch noch bestä-
tigt zu werden durch einen blick auf Gerhard von Roussillon, ein von
Fauriel* ausführlich besprochenes gedieht. Denn in diesem flieht Ger-
hard zu pferde von Roussillon (bei Vienne?), nachdem Riquier Viennes
tore verräterisch dem kaiser geöffnet hat , nach Avignon , um dann gleich
Gundobad sein schloss wider zu erobern. Hier sind zwar die persönlich-
keiten verschoben, aber die hauptort« des Schauplatzes stehen genau in
demselben Verhältnisse zu einander wie in der sage, und die Übergabe
der Stadt durch einen Verräter hat sich noch aus altburgundischer zeit
erhalten.
Noch einflussreicher zeigte sich aber die andere tatsache der Bur-
gundergeschichte, nämlich der brudermord, von dem uns Marius mel-
det. Die Vita Sigismundi nämlich, die um das jähr 700 entstanden ist,
erzählt abweichend von Marius, Gregor und Fredegar, Gundobad habe
seinen bruder Godegisil samt seiner gattin verbrant. Mit
recht weisen die geschichtsforscher diese seltsame angäbe eines weit
jüngeren werkes zurück, wir aber glauben darin das walten der götter-
sage zu erkennen.
Bruderkämpfe und brudermorde stehen am anfange und in der
mitte unserer geschichte und gehören in unserer früheren wie späteren
litteratur zu ihi-en lieblingsstoffen. Ich erinnere nur an Wolfdietrich und
Parzival , an Julius von Tarent und Klingers Zwillinge , die beide gleich-
zeitig den brudermord zum gegenstände wählten, obgleich Schröder bei der
preisstellung nicht , wie man früher annahm , die behandlung gerade die-
ses Stoffes verlangt zu haben scheint,* und endlich an die Räuber und
die Braut von Messina. Ja die gewaltigste wendung des scliicksals der
germanischen götter wurde durch einen brudermord herbeigeführt; denn
1) Bin ding, Gesch. d. bürg. -rom. königr. s. 154 fgg.
2) K I ö d e n , Lehrb. der geogr. 2 , 502.
3) Fauriel, bist d. 1. p. prov. 3, 34 fgg.
4)'Kobor8tein, Grundr. d. gesch. d. d. nationallitteratur. 4. auil. 2, 1494.
ZBITRCHR. F. DEUT8CHB PHILOL. BD. III. 28
430 E. H. HEYEB
den Untergang des Asenreiches leitet der kämpf Balders und Hödurs ein.
Dasselbe geschick bereitete ein bruderkrieg dem Thüringerreiche, und
deshalb verschmolz das volk diese tragische menschengeschichte mit dem
kämpfe des tagesgottes Irmin und des nachtgottes Iring. Dasselbe ein-
greifen der göttersage in die geschichtliche künde von dem bruder-
kampfe der burgundischen könige und dem untergange ihres reiches,
der dem des thüringischen nach vier jähren folgt, gewahren wir auch
hier. Es ist bekant , dass Qundobads Verhältnis zu seiner nichte Hrothe-
hilde^ der gemahlin Hlodwigs, selbst in der mächtigen nationalsage von
den Nibelungen sich noch geltend gemacht hat.^ Wie sollte nicht des-
selben königs bruderfeindliche oder gar brudermörderische tat den stam-
mythus an sich gezogen haben? Dass dem so gewesen, dafiar bürgt
eben die lebensgeschichte des königs Sigismund, denn ihre angäbe von
der Verbrennung Godegisels und seiner gattin durch seinen bruder kann
nur aus dem sagenhaften volksbeiicht geschöpft sein und dieser widerüm
nur aus dem mythus. Eine der germanischen göttersagen aber meldet
uns, dass Balder und seine gattin vereint im feuer umgekommen seien,
und nach Saxo Grammaticus ist es der eigene bruder Hödur, der Qel-
ders d. h. Balders Scheiterhaufen in brand steckt.^
Weitere gründe für diese ansieht gewährt uns nun die sage von
dem doppelkampf der beiden Roland und Olivier, die ich in meiner
abhandlung über Koland dem Balder und Hödur - UUer sowie dem Irmin
und Iring gleichgestellt habe. Denn diese sage wird eben darum in die
Gerhardsage eingeschoben , weil sie auf einem in und um Yienne bekan-
ten d. h. burgundischen mythus beruht, der sich uns schon in der Vita
Sigismundi verraten hat. Die Vienner heimat dieser göttersage bezeugt
auch der ältere , hier aber viel ungenauere bericht der Turpinischen Chro-
nik. Turpin ist der erste berichterstatter über Rolands und Oliviers
Schicksale. Er verschweigt zwar ihren Zweikampf, aber auch nach ihm
sind sie die tapfersten Streiter wider die beiden, brüderlich verbunden
im tode. Nun halten Vossius, Gönin und Gervinus den papst Calixtus II.
1 1124, den bekanten feind unseres kaisers Heinrich V., der im jähre 1122
die Chronik Turpins für authentisch erklärte, für deren lügenhaften Ver-
fasser oder anstifter.* Calixtus aber hiess vor seiner papstwahl Guy von
Burgund und war seit 1088 erzbischof von Vienne, und bereits 1092
kündete Geoffroi, priester zu St. Andrö in Vienne, in einem briefe das
werk an, weshalb Gui Allard, Ciampi und Daunou diesen für den ver-
1) W. Müller, Versuch einer mythol. crklärung der Nibeiungensa^ 8,31 fgg.
2) J. Grimm, Mytli. s. 201. Saxo Gramm, ed. Müller 1, 11».
3) Gervinus, Gesch. d. d. nat. -lit. 1, 236.
ÜBER OERHABD VON VIENNE . 431
fasser halten,* nicht jenen papst. Es mag auch sein, dass verschiedene
bände an dem werke gearbeitet haben , wie G. Paris will , und die ersten
fünf capitel sogar von einem spanischen kleriker herrühren,* jedenfalls
muss menschlichem ermessen nach der hauptchronist aus Vienne stam-
men oder hier gewohnt haben. Darum lässt er cap. 31 den kaiser nach
der Schlacht von ßoncevalles zur erholung nach Vienne gehen, und in
einer Vienner kirche ist es auch , wo Turpin vor dem altar stehend den
schwarzen geisterzug nach Lothringen eilen sieht, der des sterbenden
kaisers seele rauben will , s. cap. 32. Noch ein anderes dichtwerk , der
provenzalische Fierabras, enthält einen einzelkampf Oliviers gegen den
genanten Sarazenen , der fast dieselben züge wie Oliviers kämpf mit Roland
trägt, und auch diese sage scheint aus burguudischer gegend zu stam-
men , denn neben jenen beiden tritt als hauptperson ein 6ui de Bourgogne
auf, der also den weltlichen namen jenes papstes führt und hier die
Floripar, die Schwester des Fierabras, samt dem halben Spanien erliei-
ratet, und in einem anderen, Gui de Bourgogne betitelten epos sogar
die hauptroUe übernommen hat.* So tragen denn verschiedene Überlie-
ferungen des Bhonethales , sowol gescliichtliche , wie poetisclie , die deut-
liehen spuren eines alten glaubens an einen Zweikampf göttlicher
beiden.
Oliviers und Rolands kämpf in den Bolandsgedichten habe ich aus
mehreren gründen auf das herbstliche ringen des sommergottes mit dem
wintergotte gedeutet, besonders auch deswegen, weil Roland hier dem
Schwerte seines freundes erliegt und gleich darauf Aude ihm in den tod
nachfolgt. Im Gerhard von Vienne dagegen haben wir die Frühlings-
schlacht jener beiden heroen vor uns, denn Roland siegt und gewint
hier erst Audes band. In meiner Rolandsabhandlung wagte ich noch
nicht dieser göttin näher ins antlitz zu sehen; jetzt aber, glaube ich,
muss gerade sie uns tiefer in das verständniss des burgundischen mythus
hineinführen. Schon nach den eben gegebenen andeutungen muss sie
eine frühlingsgöttin sein , welche der sonnengot den ihr verwanten mäch-
ten des winters entführt. Aude oder Aide, wie auch bei Turold, Kon-
rad , in den spanischen romanzen * und in den italienischen gedichten Ro-
lands braut oder gemahlin genant wird, woneben Strickers Alite kein
gewicht hat, trägt einen germanischen namen, der zwar spater auch noch
häufig vorkomt, aber schon durch seinen begriflF „vetus" wie die ähn-
lichen namen Ute, das Mömeken, Babia, Eische, Bermutter,
1) Ideler, Handb. s. 81.
2) Uhland, Sehr. 4, 354. 35G.
3) Holland in Uhlands Sehr. 4, 341.
4) F. Wolf und C. Hof mann, Primaver y flor de romances 2, 314.
28»
432 E. H. HEYEB
worüber ich anderswo sprechen werde , auf einen mythischen sinn hinzu-
weisen scheint. Dieser Alten begegnen wir nun aber auch mehrfach in
den deutschen Volksgebräuchen. So führten die Angelsachsen, Franken
und Alemannen zu anfang Januars den ccrvidus seu mtiila oder vetula,
d. h. vermummungen in hirsch und hindin oder in eine Alte auf, und
ähnliche spiele, wie der hirt und das wilde weib, wurden zur fasten-
zeit veranstaltet.^ Die göttin der schönen Jahreszeit entschlummert im
herbste gleich der Brunhild oder dem Dornröschen, oder sie zieht sich
alternd in die tiefe des waldes zurück, bis sie im nächsten lenze als
Alte (oder als wildes weib oder als hirschkuh) zu den menschen wider-
kelirt, um sich hier zu verjüngen gleich einer neugeborenen. Daher
gebietet das langobardische gesetz im siebenten und achten Jahrhundert:
Wer eine fremde oder eine Aldia (halbfreie) zur ehe nehmen will, soll
sie zur Wiedergeborenen machen und zwar durch die morgengabe,
falls die von ihr geborenen söhne als echt gelten sollen. Weder Bluhme
liat also recht, die langobardische aldia in eine haldia zu vei-wandeln
und das wort aus dem Zeitwert haldan halten zu erklären,^ nochUhland,
wenn er jene bestimmuug fiir eine märchenhafte ausrankung einer recht-
liclien sinnbildsprache liält, deren ältere form sich noch in den lango-
bardischen rechtsquellen erhalten habe.^ Umgekehrt — die langobardi-
sclie reclitssprache bedient sich hier einer mythischen ausdrucksweise,
indem ihr hier verliältnisso aus einer allbekanten göttersage vorschwe-
ben. Ahnlich stammen im Rigsmal von Ai und Edda, den urahnen, die
knechte, von den grosseltern Aft und Amma die bauern, dagegen von
vater und mutter die Edclen ab, so dass auch hier die begriffe alter und
Unfreiheit, Jugend und freiheit enge verknüpft erscheinen.
Beide langobardische rechtsausdrücke, die Alte wie die Wider-
ge boren e, finden sich nun auch in offenbar mit mythen zusammenhan-
genden sagen auf romaniscliem boden wider. So trifft in einer wallo-
nischen sage her Ameil bei der schattigen quelle von Lexhy eine schöne
frau, die ilire herkunft niclit angeben will, bei ihm auf dem schlösse
schläft und, nach ihrem namen gefragt, sicli teufel nennt, ihm das
reclite äuge ausreisst und verschwindet. Wie heilig sie trotz dieser grau-
samen tat war, zeigt der name der quelle, fontaine Sainte Oude.*
Dem zweiten namen, der Widergeborenen, begegnen wir in einer der
weitverbreiteten sagen von der aus Scheintod erwachenden frau, die seit
Chr. Petersens abhandlung über die pferdeköpfe als frühere mythen von
1) Kuhn in dieser zeitschr. 1, 110.
2) Pertz, Mon. Leg. 4, ()72. Ziivncke, Liter. Centralbl. 1809. s. 142r).
:i) Pfeiffer, Germ. 8, 71.
4) Wolf, Ndrl. S. H. 287.
ÜBER OBRHABB VON VIENKE 433
einer frühlingsgöttin anerkant sind. Eine französische sage des 16» Jahr-
hunderts nämlich nent die solcher weise auferstandene gattin Ronöe
Taveau.^
Eine solche befreite und verjüngte lenzgöttin ist auch unsere Aude
im Gerhard von Vienne. Zwar darf man auf ihre beinamen la belle
und 0 le clair vis kein gewicht legen, da diese zu den stehenden bei-
wörtern der frauen im altfranzösischen epos geliören.^ Aber in solchen
versen wie v. 1771: e vos Attdain la bde leschevie, vestue fuit (Tun paile
dematie, ä un fil d*or tressie pur rnaistrie, les oelz ot vairs, la face
coloric, und wie v. 3928 fgg., die Audes erscheinen in der maienzeit schil-
dern: Attde fut vestue (Vun paille sujnori, de sa biaute li palais rcsplandi,
mag noch etwas vom mythischen glänze erhalten sein, wie im Nibe-
lungenlied Kriemhilde echt mythisch der morgenröte verglichen wird.
Vielleicht lässt sich, wie für Olivier und Roland, auch für Aude
Vienne als heimat nachweisen. Die eben schon erwähnten schein-
toten frauen steigen aus dem grabe zu neuem dasein empor, wie
sonst die frühlingsgöttinnen einem türm, einer höhle oder einem walde
entrissen werden. Man hielt auch tiefe gruben , dornenbewachsene gra-
ben, unterij'dische gänge für ihre winterlichen wohnstätten, wie beson-
ders Panzer in seinen beitragen erwiesen hat. So finden wir in der Wit-
tenwiwerskule unweit Bochum zusammen mit drei weissen weibern eine
frau, die erst nach sieben jähren wieder zu ihrem manne zurückkehrt; "^
so mrd der Elpendrötsch oder Hilpentritsch , p]lfenkönig (auch die elfen-
königin?) hinter der Stadtmauer im Stadtgraben zu Hersfeld gejagt.*^ Das
letzte wesen, ob weiblich oder männlich gedacht, wird jedenfalls eine
frühlingsgottheit sein , denn auch jene Alte oder Hindin wird verfolgt , und
in demselben Osthessen komt auch als frühlingsspiel Häkel die Geiss
vor.^ Eine der bekantesten widererstandenen frauen ist aber die Kölnerin
Richmodis von Aducht, deren sage Petersen ausführlich besprochen, am
treuesten aber wol Firmenich ^ widergegeben hat. Vom habgierigen toten-
gräber, der ihr einen kostbaren ring rauben will, erweckt geht sie mit
dessen leuchte zum überraschten gatten zurück, der ihr aber nicht eher
das liaus öffnet, als seine zwei pferde ihren köpf aus dem giebelfenster
strecken. Sieben jähre lebt sie noch mit ihm, gebiert ihm kinder , lacht
aber nie, spint ein grosses flachstuch, das noch immer in der kirche
1) Pfeiffer, Germ. 13, 167.
2) ühland, Sehr. 4, 345. Lazarus und Steinthal, Ztschr. 4, 157.
3) Firmen ich, Germ, völkerst. 1, 370.
4) Vilmar, Hess, idiot. 168. 249.
5) Vilmar a. a. o. s. 145.
6) Firmenich, Germ, völkerst. 1, 448.
434 E. U. MEYEB
zur fasteuzeit aufgehängt wird und lässt bei ihrem begräbnisse den armen
eine ganze last stuten austeilen. Uns fällt hier besonders der name
Aducht auf; denn im Mittel- und Niederdeutschen bedeutet er einen mit
stein und dorn gefüllten graben.^ Er stamt aber ab vom römischen
aquaeductus. Dieser lateinische ausdruck ist nicht nur für die alte römi-
sche Wasserleitung bei Mainz nachweisbar, wo noch heute eine flur,
durch welche sie lief, das Addach heisst, sondern auch für- die weit
grossartigere, durch die Kömor von der Eifel nach Köln hergestellte
leitung, die der volksmund teufelskalle , d. h. teufelskanal, oder auch
in übereinstinmiung mit den Urkunden Aducht nent. Nun aber sieht
die sage dieser landschaft in diesem bauwerk einen Schlupfwinkel der
feen; zahlreiche fundstücke beweisen femer, dass die muttergöttinnen
hier in hohem ansehen standen , und zwar gerade in unmittelbarster nähe
der Wasserleitung. Denn mindestens sechs Ortschaften des Feybachstales,
über welche sie führt, tragen mythische namen, nämlich ürfey, Eiser-
fey, Burgfey, Katzfoy, Satzfey und Voynau. Dazu komt noch dem Bheine
näher bei Brühl Walberberg, der Walpurgisberg.^ In diesen namen wal-
tet sicherlich gormanische, nicht, wie das Bonner Winckelmannspro-
gramm von 1863 meint, celtische anschauung. Noch heute erbaut man
am fastensontag , dem schoofsoutag, in der Eifel eine sogenante hütte
oder bürg, die man abends in brand setzt, um dann einen Strohmann
hineinzuwerfen.^ Was also die Burgfei bedeutet, ist hiernach ganz klar.
Ebenso leicht erklärt sich auch die Katzfei, wenn wir uns des katzen-
opfers erinnern, das an mehreren orten gerade zu fastnacht gebracht
wurde.'* Ferner liegt südlich von Urfey, gerade am beginne des aqoae-
ductes , der Roscnbuschberg in der gemeinde Nettersheim. Unter diesem
finden wir die Kosenthaler mühle, deren namen anf ein rosenthal, d. h.
ein germanisches paradies, wie ich später beweisen werde, hindeutet
In der nähe der Groene Pütz, der vielleicht den grünen frühlingsbrun-
nen bezeichnet. Von der öden bergmasse der höheren Eifel, dem reiche
des winters, ist dieser sitz der göttin des neuen Jahreslebens umgeben.
Im lenz aber entrint sie (mit ihren beiden Schwestern) der haft, von ihrem
eigenen bruder Dagobert verfolgt.^ Aus dem geheimnisvollen gewölbe
der Wasserleitung, dessen inneres der krystallisierte kalksinter mit der
zeit so gewaltig umkleidete, dass marmorartige steine zum bau rhei-
1) Vilmar a. a. o. s. 4. F. Bech, Zeitzer progr. 18G8.
2) Mitthcil. d. ver. f. gcsch. in Frankf. a. M. 3, 140—154. Reymann,
Specialk. v. Dcutschl.
3) Leipz. illustr. zeitung 1870 s. 171.
4) Simrock, Myth.» s. 565.
5) Ebd. 8. 369.
ÜBEB GBBHA&D VON VIBMNE 435
üischer kirchen herausgehauen wurden,^ trat sie da und doii hervor, um
die Auren des Feybaches zu segnen , bis sie in Köln , städtischer gedacht,
als die widergeborene frau Richmödis, die Reichgemuthe, von Aducht
zum Vorschein kam.
Ich denke mir, ähnliche Vorstellungen knüpften die Burgunder der
Stadt Yienne an den dortigen aquaeduct. Vielleicht weiss noch heute
die ortssage näheres davon. Auch unser gedieht bewundert die durch
den niederschlag des kalkhaltigen wassers bewirkte pracht im Innern des
bauwerkes, die wir auch in der Kölner leituug trafen, in den v. 3467
bis 3469 :
an la crote antrent par desoß Ic terrier,
paiefn la firent lonc tans sai cn arier:
ansi est blanche come nois sor gravier.
Durch dies gewölbe komt Aude , die ja auch von ihrem bruder Olivier
zur fruhlingszeit verfolgt wird, nach Vienne in leuchtender Schönheit
vom Glairmont, dem klai'en Glasberg her, wie so oft in deutschen und
skandinavischen sagen das unnahbare, rings von kahlen felsen oder öder
haide oder düsterem walde umgebene paradies genant wird. Auch auf
französischem boden muss diese germanische anschauung wurzol geschla-
gen haben, finden wir doch einerseits im altfranzösischen Tristan ein
glasschloss in der luft* und andrerseits im Parzival den waldumwach-
senen Montsauvage.
Brunhildens wohnung ist der glasberg oder die Guitaheide, die vom
Myrkvidr umstanden ist^ und Rassmann ^ hat diesen namen glücklich
samt dem niedersächsischen gneterstdn und gneterswaii; und dem hoch-
deutschen Gneiss, wie auch die faröische Glitraheide auf den begriff des
glanzes zurückgeföhri Glänzende naturgebilde glaubte man, wie es scheint,
der obersten germanischen göttin zu verdanken. Hildas rosenbaum wächst
mitten im schnee ; „ frau Holle schüttelt die betten aus ,^^ sagen wir noch
heute in Bremen beim Schneefall ; viele kirchen wurden auf heidnischen
Verehrungsstätten der Maria im schnee geweiht. Ein glänzendes mine-
ralisches gebilde heisst bekantlich marienglas oder fraueneis. Schon der
name deutet mythische bezüge an, noch mehr aber der umstand, dass
da, wo westlich von Sondershausen ganze oft zu tage tretende marien-
glasfelsen sich finden, die Ortsnamen Klein-, Gross- und München loh ra
den namen einer alten göttin verraten, dass Gross- und Kleinlohra am
berge Himmelbette liegen, der alte Wallfahrtsort Müuchenlohra aber bei
der propstei Paradies. An der Marienkapelle des nahen Elende fanden
sich ausserdem 174 rosen in stein gehauen, denn hier waltete hilfreich
1) Mittheil. d. ver. f. gesch. in Prankf. a. M. s. 153.
2) Grimm, Myth. s. 781. 796. 1225. 3) Rassmann, HS. 1, 151 fgg.
436 E. H. MEYEB
statt der heidnischen Lohra später die mutter gottes, die in der not
rosen aus dem boden zu zaubern verstand.^ Auch die gänge der drei
Jungfern zu Mergenthau bei Augsburg verzweigen sich in festen weissen
sand, wie die zu Reichersdorf, Kockenstein und Almering.* Umgekehrt
weist man der schlafenden wintergöttin in Oberitalien die schmutzig gel-
ben kreideschichten zur lagerstätte an, die man dort Bett oder Nest
der Alten nent.^ Auch über den Zusammenhang, in welchem die Jah-
res - und paradiesesgöttin mit den kalk - und gipsbergen , den tropfstein-
höhlen und Salzquellen unseres landes steht, könte ich noch viele bemer-
kungen machen, riefe mich nicht von diesem umwege der wünsch ab,
unserer Vienuer sage tiefer ins herz zu sehen. Wir müssen zu diesem
zwecke Audes Schicksale im einzelnen betrachten.
Rolands und Oliviers Zweikämpfe bilden zwar den hauptstoflF unseres
gedichtes , aber der mittelpunkt derselben ist doch Aude und ihr wohnsitz.
Nun trägt schon gleich der anfang des Streites , der zank der beiden beiden
um einen falken, den uns der zweite abschnitt erzählt, mythischen anhauch.
Uralt deutsch , schon dem lieidnischen Zeiträume angehörig ist die jagd
mit dem falken oder dem habicht. Diese raubvögel genossen eines hei-
ligen ansehens, worauf der deutsche ausdruck wio für wtho, milvus^ d. h.
der heilige vogel, und der französische falkenname sacrc^ hinweisen,
vielleicht aucli nocli der sehnsüchtige anruf des vogels durch die geliebte,
wie er in unseren älteren minneliedern ertönt. Noch deutlicher aber
spricht die sage dafür. Sigurds habicht setzt sich in ein fenster von
Brynhilds türm und leitet so ihren bund ein; ^ Sigurd aber gleicht
Roland wie Brynhild der Aude. Ein über die Unstrut entwischter habicht
führt zum kämpfe zwisclien Irminfried und Iring,^ wie der über die
Rhone entflogene falke zu Rolands und Oliviers gleichbedeutendem streite.
Der falke scheint wie der adler ein bild des windes, und Windspiele
heissen noch heute falken.' In dem Zusammenhang unserer sage würde
er sich leicht als schneller morgenwind einfügen, den der lichtgott sei-
ner morgonroten göttin zum grusse zusendet. So neigt sich im Moior
Helmbrccht der raubritter Lomberslint dem winde, der von seiner lieb-
sten herweht,® wie vor einem grusse. Dass auch französische sagen von
1) Thür. u. d. Harz 1, 152. 7, 17 — 40. Schinaliug, Hohenstein. maga-
zin 1791 8. 279 — 321. Grimm, Kindcnn. 2, 557.
2) Panzer, Beitr. 1.
3) Ebcrt, Roman. -engl, jahrb. 5, 374.
4) J. Grimm, GDS. s. 4(3. 50. 54.
5) Völsungas. c. 24.
6) Widiikind 1, 10.
7) J. Grimm, GDS. s. 52. Myth. s. 600.
8) M. Helmbrccht, v. 1461. 1462.
ÜB£B GBRHARD VOM VIBMNE 437
der frühlingsgöttin diesen zug bewahrten, beweist der roman des Perce-
forest von 1528 — 1532. Ein vogel trftgt den Troilus ans ostfenster eines
turmes des Castel Jumel , in welchem die tochter des fursten Seeland
mit zwei muhmen gleich unserem Dornröschen (Brunhild) in tiefen schlaf
versmiken ist. Er steckt der freundin einen ring an den finger, den* er
früher von ihr erhalten.^ Ebenso flog im neapolitanischen Pentamerone
von 1637 einem jagenden könige der falke von der band in ein schloss,
in welchem er die in Schlummer verfallene Talia fand.*
Die schlafende königstochter ist der ixxr widergeburt bestirnten
Alda und der scheintoten frau gleich, und so ist es möglich, dass der
namo der wohnung zweier dieser frauen, die beide noch sieben jähre
nach ihrer voreiligen bestattung leben, auf denselben sagenhaften vogel
hinweisen. Denn eine widergeborene war herrin der Arnsburg d. h.
Adlersburg bei Buckeburg , und jene Kölnerin ßichmodis wohnte in einem
hause , das der Papagei von Aducht genant wurde. Durch diesen fremd-
ländischen vogel aber wurde auch wol in englischen Streitgesprächen
zwischen winter und sommer der heimische fruhlingsbote, der schlichte
kukuk, verdrängt,^ wie auf den frühlingsfesten älterer Schützengesell-
schaften der falke oder adler. Es lag nicht fern , den papagei mit seinem
frisch leuchtenden gefieder als lenzvogel aufzufassen, wird doch in der
goldenen schmiede Maria dem papagei verglichen , der sich nie beregnen
lässt und doch schöner grünt als eine blumige wieso. Hätte ich räum
genug, so würde ich auch die westfälische stadt Arnsberg und die thü-
ringische Arnstadt als sitze der frühlingsgöttin hier wahrscheinlich zu
machen suchen.
Auch der dritte abschnitt des gedichtes, den wir jetzt ins äuge
fassen , führt uns in altgermahisches frühlingsleben zurück. Das waflfen-
splel der Quintaine steht nämlich im engsten zusammenhange mit dem
kreise der lenzsagen. Die Quintaine, englisch quintain, mittellateinisch
quintana, ward nach Zeugnissen des dreizehnten Jahrhunderts in Frank-
reich und England viel geübt und wird von Ducange folgendermaassen
beschrieben:* Decursio equestris ludicra ad metam , hominis armati figu-
rain exhibcntem, ad umbilicum mobilem et versatile^n, sinistra dypeum^
dextra ensem aut haculum tefientem. Quae si alitcr quam in pedorc
lancea percutialur, statim qui a scopo dberrai, bactdo reperciUientem
ßguram soUit. Auf bUdern vom jähre 1344 zum roman d'Alexandre
wurde dies spiel abgebildet, und es ist bis in die neuere zeit hinein
1) Pfeiffer, Genn. 8, 74.
2) Herrig 8 Arcliiv 45, 25.
3) Pfeiffer, Genn. 5, 270.
4) Ducange, s. v. quintana.
438 B. H. MEYKB
draussen im freien^ oder in reitschulen aufgeführt worden.* Der fasten-
sontag war der haupttag dieser quintaine, so in der Picardie, und an
demselben tage werden oder wurden in der Provence und in Belgien
turniere gehalten, weshalb man diesen tn,g jour du bouhourdis oder
hour dich zon dag nante.^ Dies fastenspiel stimt nun aber einerseits
mit dem spanischen tahlado in der romanze vom Condc Guarinos
almirante de la niar^ und dem Jugar las tahlas der aus dem drei-
zehnten jahrlmndert stanmienden Cronica general von Alfons X. ^ überein,
andrerseits mit dem von mir beschriebenen Eolandsreiten der Nordalbin-
gier und dem Schildekenbaumspiel der Ostfalen.^ Obgleich die meisten
dieser deutschen feste auf pfingsten angesetzt waren und der Tablado
der Guarinosromanze sogar auf Johanni fällt, auch im Gerhard von
Vienne auf ostern die quintaine geübt wird, so wird doch die &stenzeit
als die ui*sprüngliche zeit dieses Spieles anzusehen sein. Denn auch
eines der bekantesten Bolandsreiten Deutschlands, das Meldorfer, hielt
noch 1827 am fastnachtsmontag fest. Und der romanische name des
Spieles weiset ebenfalls auf die fastenzeit zurück. Allen anderen künst-
lichen deutungen desselben zuwider erkläre ich nämlich einfach die quin-
tana als fastensontag , denn dies wort wird auch für quinquagesimae im
jähre 1202 gebraucht,' d. h. für den sontag, der der quadragesimae, fran-
zösisch careme, voraufgeht, und in Ponthieu heisst der erste fastenson-
tag dimanche de la Quintaine.^ Wer in Magdeburg bei diesem
spiele siegte, erhielt als preis ein schönes mädchen, frau Feie, in der
man, wenn man sich des alten namens der stadt, ihrer wappenrose und
ihrer sagen von der aus Scheintod auferstandenen frau erinnert, ebenso
wie in der Jungfer Phaie der rosenstadt Hildesheim unsere Vienner Ande
widererkennen wird, Rolands kampfpreis in unserem gedichto. Olivier
ist der starke, aber hilflose gott des winters, auf den der lenzgott stunn
läuft. Er ist der Mamuilus der Kömer, der am 14. märz als ein mit
einem lederpanzer bedeckter mann aus der stadt geprügelt ward, wäh-
rend Eoland mit Mars übereinstimt, Aude aber mit der buhlerin des
Mars, der Nerio oder der Anna Perenna, die alt und jung erscheint*
Noch verlockender ist es, das argivische frühlingsfest, das schildstechen
1) Brand und Ellis 2, 233. 234. 1, 103—105. 212.
2) Schwan, Dict. fran^.
3) Loipz. illustr. zcitg. 1870. s. 171.
4) Wolf und Hof manu, Primaver y ilor do romanccs 2, 322.
5) Lcmcke, Handb. d. span. lit. 2, 27. 28.
6) Koland s. 15.
7) Maignc d'Arnis, Lex. med. et iuf. latin. h. 1853.
8) Ebert, Roman. -engl, jahrb. 5, 385.
9) Prellcr, Köm. myth. s. 303—321. Haupt, Zeitschr. 5, 492.
ÜBER OBBHABD VON VISNNE 489
an den Heräen,^ zur vergleichung heranzuziehen, doch halte ich damit
hier lieber zurück. Soviel darf man aber vorläufig getrost annelimen,
dass alle, diese hellenischen, römischen und germanischen wafienspiele
einer einzigen quelle, einem uralten arischen frühlingsfeste, entspinm-
gen sind.
Einen namen des fastensontags, den die Dauphinö anwendet, dür*
fen wir hier aber nicht übersehen. Er heisst nämlich le dimanche de
la chanobiere, und grosse feuer entzündet man an diesem tage.* Ich
irre wol nicht, wenn ich das wort der schriftfranzösischen cheneviere^
dem hanfifelde , gleichsetze und weiter als einen elliptischen ausdruck für
epauvantaü de cheneviere, d. h. Vogelscheuche, Strohmann, popanz nehme.
Es müssen darnach auch in der umgegend Viennes zur fastenzeit Stroh-
puppen ins feuer geworfen sein, die verhassten götter des winters, wie
\m oben diese sitte auch in der Eifel fanden , in der ja auch , wie wahr-
scheinlich um Vienne , eine heilige scheu vor der römischen Wasserleitung
bestand. Ob endlich der name der hauptstrasse in Marseille , die Canne-
biere, mit jenem brauch in Verbindung steht, ist mir unbekant.
Yon hier aus blicken wir noch einmal auf die mehr kriegerischen
fastenspiele zurück. Ich habe in der vorliegenden Untersuchung wie in
der über Roland öfter diesen heros mit Irmin verglichen, seine säule
mit der Irminsäule.^ Ich glaube jetzt auch dem Bolandsreiten ein Irmins-
reiten zur seite setzen zu können. Den an einem feiertage im jähre 994
im regierungsbezirke Düsseldorf aufgerichteten pfähl, der oben ein rad,
d. h. ein sonnensymbol, und auf diesem einen in seide gehüllten und fär
einen abgott gehaltenen bock, d. h. Hermen, ein tier des Sonnengottes
Irmin, trug, habe ich dort für eine Irminsäule ausgegeben. Für diese
uiederrheinische aber war nur ein tanz , kein ritt nachzuweisen , wie ja
auch Kolandstänze ohne reiten vorkommen , z. b. in Halle a. d. Saale und
im liolsteinischen Bramstedt (a. a. o. s. 15). Ich kann jetzt aber auch ein rei-
torstechen auf einen solchen in niederrheinischer weise ausgestatteten pfähl
angeben. In England nämlich wird im dreizehnten Jahrhundert mehr-
fach das spiel arieteni levare untersagt; so 1233 an aliciü)i leven-
tur arietes vel fiant scotallae, 1240 nee sustineant ludos fieri de
rege et regina nee arietes levari nee palaestras public
eas fieri, und, msujyer interdicimus levationes arietum super
rotas et ludos, quibus deeertatur ob br avium exeque'ndum. Schon
Kennet verglich dies widderspiel mit der quintana.* An dem einen ende
1) Welcker, Griech. götterl. 2, 318.
2) Leipz. illustr. zeitg. 1870. s. 171.
3) Roland s. 18.
4) Ducange 1, 691 (1733).
440 E. H. MEYER
des wagerechten balkens, der auf einem senkrechten pfähl drehbar war,
fand sich ein mit asche und kot angefüllter widderkopf angebracht
und zwar auf einem rade, am anderen ein zapfen, gegen den der rei-
ter mit seiner lanze zu stossen, dann aber dem schlag des herum-
geschwenkten widderkopfes zu enteilen hatte. In der vom kühnen rei-
ter angegriffenen und mit asche um sich werfenden pfahlfigur erkent man
leicht den wintergott, im sieghaften angreif er den sommergott zur zeit
des frühlings. Vielleicht lassen sich noch heute derlei spiele, die auch
wol bei uns z. b. auf Schützenfesten getrieben werden, in Vienne nach-
weisen; jedenfalls wurde noch in unserem Jahrhundert in dieser gegend
ein ähnlicher brauch festgehalten, der hier ebenso mit dem schildstechen
zusammengehangen haben wird, wie im mittelalterlichen England das
oben mit der widdererhebung zusamraengenante spiel vom könig und der
königin mit dem widderspiele und dem aufrichten des maibaumes. Cham-
pollion nämlich führt aus dem Iseredepartement , also aus der umgegend
Viennes, an: ma'ie, ßte que les enfans celelrretü aux premiers jours
du mois de mai, en paratü un d'entre eux et lui donnaiü le türe de
roL^ Der winter wird verjagt oder abgesetzt, der sommer oder mai
dagegen zum könig gekrönt. Beide aber sind brüder, wie schon eine
S. Galler Urkunde vom jähre 858 zwei brüder Wintar und Sumar nent.*
Auch in einem niederländischen bühnenstücke treten sie als zwei feind-
liche brüder auf, deren kämpf frau Venus entscheidet.^ Zu diesem kreise
von Vorstellungen gehört auch Htidifie et Eglantine ou le Jugeniefif
d^Amour ou Florence et Blmieheflor, die Schilderung des Streites zweier
frauenzimmer mit einander, von denen die eine einen ritter (sommer),
die andere einen clerc (winter) liebt.* Die Verbindung zwischen jener
mythischeren und dieser moderneren einkleidung vermittelt ein altfran-
zösisches Streifgespräch des 14. Jahrhunderts zwischen dem pagen Luci-
fers, dem winter, und dem paradiesbeherscher , dem sommer.^
In rheinischen frühlingsliedern ^vird nun der sommer aufgefordert,
dem winter die äugen auszuschlagen,® also auch hier, wie im norden
Hödur und im Süden Olivier , wird der gogner des somraergottes als blind
oder geblendet aufgefasst. Am Laetaresontag pflegt dies kampflied
gesungen zu werden. An demselben tage hat der Italiener und der Spa-
nier den brauch, eine puppe zu binden, die das älteste weib des dor-
1) Grimm, Myth. s. 738.
2) Grimm a. a. o. s. 719.
3) Uhland, Sehr. 3, 21—23.
4) Grässe, Sagenkr. s. 277.
5) Uhland a. a. o. s. 22.
6) Pfeiffer, Germ. 5, 257 ff.
ÜBER GERHARD VON VIENNE 441
fes vorstellt, vom volke hinausgeführt und mitten entzwei gesägt oder
verbrant wird. Das heisst in Friaul arder la veccia, in Venedig
siegär la veccia, in Toscana segar la monaca, in Barcelona und
Sevilla aserrar la vieja.^ Nach einem in Barcelona gesungenen
kinderliede befreit ausserdem ein held eine taube alte frau aus dem
türme, während ihr gemahl (der winterriese) todt niedersinkt.^ Was
bei den Langobarden Italiens und den Westgoten Spaniens, wird auch
bei den Burgundern Frankreichs, welche ja ganz ähnliche gebrauche,
wie das schildstechen und das strohmannverbrennen kanten, im schwänge
gewesen sein. Aus der sterbenden alten wird im frühling eine jugend-
liche, aus der gefangenen eine freie göttin.
Im fünften abschnitte unseres gedichtes erscheint Aude als wun-
derbar geschmückte und als streitbare Jungfrau, auch darin anderen
germanischen göttinnen ähnlich, besonders den Hilden. Denn mitten
im kämpfe zeigt sich auch Kriemhilde im Rosengarten, Brunhilde auf
dem Isenstein, die Hilde in der Gudrunsage auf dem Wülpensando
und die gleich den Hilden mit der rose geschmückte Erka von Erke-
lenz, „das mannlich weib.**^ Gleich diesen göttlichen heldinnen betei-
ligt auch Aude sich am kämpfe und schleudert wie Brunhilde einen
stein. Im ersten lenze erscheint die frühlingsgöttin einmal verschleiert,
d. h. von nebeln noch verhüllt, und darauf deutet ja auch wol jene
widergeborene Renöe Taveau hin. Wie aus dem lateinischen caput , -itis
ein spanisches cabal entstand, kann auch aus tapes, -etis, decke, ein fran-
zösisches tabal und tabau sich entwickelt haben, das einen ähnlichen
begriff hatte wie das demselben werte entsprungene tabard,^ welches ein
wallendes kleid bedeutet. Mit jener anderen form hängt dann weiter
zusammen das französische tavaiolle, ein mit spitzen besetztes leintuch.
Renee Tabeau wurde nach ihrem kopQ)utze benaut, wie man nach dem
bavolct, dem schleier normannischer bauermädchen , auch diese kurzweg
bavolets zu nennen pflegt.'» Sie gleicht also etwa unseren verschleierten
weissen frauen, unseren schleierweiblen,® d. h. früheren göttinnen. —
Aber andrerseits kann das vom Sonnenlicht durchstrahlte nebelgewand
der göttin auch als goldene rustung aufgefasst werden, dann nimt sie
wie jene Hilden und Erka einen kriegerischen Charakter an , den wir also
im fünften abschnitte des Gerh. v. Vienne auch an Aude nachweisen können.
1) Grimm, Myth. s. 741. Ebert, Jahrb. f. rom. u. engl. litt. 5, 374 — 379.
2) Mannhardt, Germ, mythen s. 503. 510.
3) Eckertz, die chron. der stadt Erkelenz.
4) Diez, Rom. wb.' s. 405. 40G.
5) Schwan, Dict. fran9.
(>) E. Meier, Schwab, sag. s. 306.
442 E. H. MEYER
Nach dem siebenten abschnitte unseres gedichtes endlich gibt Karl die
schöne Aude dem Roland zum weibe , der ihr am Schlüsse desselben einen
ring schenkt. Dieser ring ist mythisch betrachtet doch wol derselbe, den
Olivier im Gallien restaurö sterbend dem Roland in Roncevall reicht. Dies
muss femer der ring sein, der die scheintote frau mit dem galten, dem
frühlingsgotte, aufs neue verbindet, den Troüus jenem französischen
Dornröschen an den finger steckt. Wie oben die göttin als hindin,
erscheint auch der gott öfter als hiisch, und zwar mit einer goldkette
um den hals.^ Und gerade in Magdeburg, welches die schon oben
erwähnten sagen von der scheintoten frau, im Wappen eine Jungfrau
(magd) mit rosen und das Rolandsspiel um die Feie in sich schloss,
stand vor dem Roland auf einer steinsäule ein hii-sch mit goldhalsband,
den kaiser Karl gefangen haben sollte.* Ein hirsch führt den Thomas
von Ercildoune nach sieben jähren zur feenkönigin, den Pipin zur Ber-
tha, den Odin zur Hulda.* Diese drei weiblichen wesen sind nur ver-
schiedene gestaltungen einer und derselben göttin , die wir auch in Aude
widererkant haben. Über Audes weitere Schicksale berichtet der Gurard
von Vienne, soweit ihn J. Bekker mitgeteilt hat, nichts, doch erfahren
wir aus einigen französischen Rolandsromanen , besonders aus der Turolds
text erweiternden handschrifl zu Versailles, dass sie nach der schlacht
von Roncevaux in den annen des kaisers und ihres oheims Girard von
Vienne gestorben sei.*
Überblicken wir das ganze, so glauben wir etwa folgende haupt-
punkte der sage aufstellen zu müssen: Alda, Ollers Schwester, sitzt
alternd im festen eisturme des wintergottes , ihres bruders, gefangen. Da
rauscht der frühlings wind, der falke, werbend in ihr gemach, den der
kühne sommergott Roland oder Rodo ihr sendet. Anfangs sträubt sie
sich heftig und Roland sucht sie vergebens den starken armen Ollers
zu entreissen , ja Alda selber schleudert einen stein auf den verwegenen
freier hinab. Oller zieht hinaus mit sehiem harten eisschilde, aber auf
der milden aue im ströme wird er durch Rolands lichtstrahlendes schwert
besiegt; doch dieser muss, ehe das eis in wasser sich wandelt, grossen
durst erleiden. Aber als Oller erlegen , springen fröhlich die quellen auf,
und leuchtend steigt Alda aus geheimnisvoll schimmerndem gange der
winterburg hervor, um von Roland den vermählungsring zu erlangen.
Dieser burgundische frühlingsmythus kehrt in hundert und aberhundert
formen wider, auf den schneefeldern des höchsten nordens, wie im blü-
1) Zacher, Zeitschr. 1, lOG, 107.
2) Grimm, DS.« iio. 445.
3) Simrock, Mytli. s. 354. 355.
4) W. Grimm, Ruolandes liet s. IJX. £ b e rt, Jahrb. f. roui. u. engl, litt 4, 213.
ÜBER QBBHABD VON VIENNB 44B
henden Arnotale und auf -den zacken des Monserrat. Er erhebt sich bald
zum grossen stile der Nibelungensage, bald sinkt er hinab zu dem ein-
fachen tone der Stadtgeschichten von der scheintoten frau, bald versteckt
er sich unter das liebliche geplauder des Volksmärchens. Die kinder-
turmspiele wie die Eolandsritte endlich stellen den mythus plastisch im
spiele der kinder und männer dar.
Dieser mythus bildet das gegenstück zu demjenigen, der uns in
der Rolandssage aufbewahrt ist, der den herbstlichen ringkampf zwi-
schen Olivier und Roland erzählt und nach meiner auffassung (vgl. Roland
s. 13) etwa folgendeimaassen gestaltet war: Nachdem Roland, Berthas
söhn , sich mit Alda verbunden , zieht er mit hörn und schwort in den
kämpf wider die im herbste von neuem herandringenden unholde des win-
ters, wird vom altfeinde der götter, Gamalo, verraten, von seinem bru-
der oder schwager OJler wider dessen willen tötlich verwundet, und endet,
nachdem er vergeblich sein schwort, den Sonnenstrahl, zu vernichten
gesucht, im domentale unter dem weltbaum. Die sonne bleibt nach sei-
nem tode stehen, die steine weinen über den verstorbenen, die geliebte
folgt ihm in den tod.
Es fragt sich nun , ob noch in andern Sagenkreisen des Rhonetales
diese alten gottheiten ihr antlitz zeigen. Ich glaube , dass bald die Par-
zivalsage, deren kern auch zu den Überlieferungen der Vienner grafschaft
gehört, eine kräftig bejahende antwort darauf geben wird. Ob noch
heute erinnerungen an Aude im dortigen Volksglauben zu entdecken sind,
weiss ich nicht. Doch scheint mir beachtenswert, dass vielleicht in kei-
ner gegend Frankreichs der Marienkultus so ausgebildet und so alt ist
wie im Rhonetal von Lyon herab bis nach Marseille. In Viviers , A vignon
und Yienne steht das bild der mutter gottes, weit über das tal schau-
end, auf beherschender höhe, freilich alle drei erst im zweiten kaiser-
reiche errichtet , ^ aber an alten statten des Mariendienstes. In Vienne ist
ihr als der Notredame de la Vie eine kirche in korinthischem tempelstile
geweiht, in deren heiligem schütze zahlreiche gräber lagen, wie um die
Madonna de Fourvieres in Lyon.* Und in Marseille und im felsumstarr-
ten Puy in ünterlanguedoc finden wir die schwarzen Marienbilder,^ die
auf schreckhaft freundliche gebilde des heidentums, wie deren Aude
eines ist, zurückdeuten.
Wenn wir endlich zur nordischen götterweit hinnberblicken, so
möchte keine gestalt in derselben der winterlichen Aude ähnlicher
1) Treitschke, Hist-polit. aufs. 2, 311.
2) Stark, Städteleben in Frankr. s. 20. 5. Mylius, Puasreise d. d. südl.
Frankr. I. 2, 265.
3) Grimm, Myth. s. 289.
444 E. H. METER
sein als Skadhi, keine der sommerlichen als Nanna^ beide zusam-
mengefasst in Freya- Gerda, die Freyr - Skirnir mit Schwert und ring
erkämpft, nachdem er ihren bruder Beli erschlagen hat. Skadhi näm-
lich, die eisen waldfrau , die schrittschuhläuferin des gebirgs, die nicht
lacht und mit dem bogen im walde jagt, die tochter des sturmriesen
Thiassi, der nach einer anderen sage Idun, die ja Iwaldis, des eibeu-
walds tochter ist, d.h. die verjüngte Skadhi , entführt, ist ohne frage eine
Wintergöttin und gleicht dem UUer, der in düstern eibentälem^ wohnt,
mit dem bogen umherschweift und über das eis auf Schlittschuhen dahin-
eilt, wie eine Schwester dem bruder. Und ein männliches seitenbild zu
Skadhi scheint es auch in Deutschland gegeben zu haben , nach dem hel-
denhaften althochdeutschen scado, zumal nach dem angelsächsischen
uhtsceaäa, einem namen des teuf eis, zu urteilen.^ Auch erscheint in
deutschen märchen nicht nur ein riesenweib, die räuberin Hansels und
G reteis, mit Schlittschuhen, sondern auch ein böser mann, mit gleichem
fusszeug versehen, tritt den beiden königskindem drohend entgegen.'
Wie dort der vater Tlüassi der eigenen tochter nachstellt, so entflieht
die nimmer lachende Beaflor den gelüsten ihres erzeugers zu Mai,* dem
frühlingsgotte. Endlich aber enteilt Skadhi ihrem gatten Niördr, um
sich einem andern, dem Odin, hinzugeben. So entfliehen in unsem mär-
chen frauen aus räubers band zum Roland,^ und die scheintote entzieht
sich dem angriffe des totengräbers , der in einigen sagen dem gemalile
gleichgesetzt wird.® Hieraus ersehen wir, dass der wintergott bald als
vater, bald als gatte, bald als bruder der verjüngten lenzgöttin aufge-
fasst wird. Solche sittlich bedenkliche Vielseitigkeit der gottheit stiess
auch noch in viel späteren christlichen zeiten nicht ab,' man denke nur
an die Inschrift auf dem portale der Certosa bei Pavia: Der Jung-
frau Maria, der mutter, der tochter, der braut gottes.
Auf Aldas ähnlichkeit mit der geliebten Balders und Hödurs , mit
Nanna, habe ich schon in der abhandlung über Koland s. 12 hingewie-
sen. Ein paar neue verwantschaftszüge mögen hier hinzugefügt werden.
Aus Hels reich sendet Balders gemahlin Nanna andenken herauf, der
Frigg einen schleier (ripti) und der FuUa einen ring (fingrguH). Und
gerade ring und schleier sind ja die wichtigsten abzeichen jener mit Alda
eng verwanten scheintoten frauen, Avenn sie aus der unterweit zurilck-
1) Uhland, Sehr. :{, 5Ü. 142.
2) Grimm, Myth. s. :U7. 941.
3) örimm, KHM. iio. 15. 113.
4) Germ. 1, 435.
5) Roland 8. 14.
6) S. unten.
7) Wackern agül, Wessobrunner gebet ». 39 fgg.
ÜBRR GBBHARD TOK VISNNB 445
kehren. Dann aber hat schon Quitzmann bemerkt, der volkstömliche
ausdruck Nandl für Anna habe mit letzterem nichts gemein und weise
auf Nanna zurück, wie auch im ganzen westlichen Deutschland Nannchen
und in Prankreich Nannette für Annette gebräuchlich ist.^ Nun aber
spielt in einem weitverbreiteten volksliede ein meist Anneli genantes
mädchen eine ganz ähnliche rolle, wie unsere Nanna -Alda. Bereits
Lütolf verspürte in diesem Anneli des bekanten Ulingerliedes eine nach-
wirkung des mythus von der Nanna,* und andrerseits erkante schon
Wolfg. Menzel im deutschen Ulinger und Ulrich den nordischen winter-
gott Ulier wider.* Die vom grausamen Ulinger (Ullrich, Olleger,
Olbert, Hilfinger usw.) geraubte Jungfrau Anna oder Odilia wird nach
sieben jähren* von ihrem bruder befreit und der räuber getötet. Dies
Volkslied schildert in der ersten hälfke den sieg des wintergottes, in der
zweiten den des lenzgottes. Dass uns dieser frühlingskampf in dem fünf-
ten abschnitte unseres gedichtes in den hauptzügen vorgeführt wird,
unterliegt nun doch wol nicht mehr berechtigtem zweifei. In derEonce-
valler schlacht, welche den herbstkampf darstellt, ist es Eoland, der
Aude besitzt, dreimal ins hom stösst, sein schwert einbüsst oder es ein-
zubüssen nahe daran ist und von Olivier besiegt wird; vor Vienne ist
es Olivier, der Aude besitzt, dreimal ins hom stösst, sein schwert ein-
büsst und von Boland besiegt wird. Von der zweiten form des Streites
zwischen dem winter- und dem sommergotte, Baidur und Hödur, wissen
die Edden allerdings nichts genaueres, wol aber kennt sie 8axo Gram-
maticus. Denn nachdem Hother sich Nanna errungen , besiegte ihn Bal-
der in neuer schlacht, in der er seinem dürstenden beere einen quell
aus der erde springen liess, der noch seinen namen trägt. Dann aber
wurde Balder so krank, dass er nicht mehr zu fiisse gehen konte, den-
noch schlug er Hothern noch einmal, bis dieser in unwegsamen wald
floh. Wer erkent nicht in Balder den siegreichen Boland wieder, der
um Aude streitet, nach wasser dürstet, und der, obgleich siegreich, plötz-
lich V. 2972 gesteht: je suix nmlaides , nd vos puis plus noier, si nie
vodr&ie un petit couchier por reposer: car fen ai grant niestier? Dazu
ist schon in der Bolandsabhandlung s. 14 auf die Bolandsquelle im amte
Apenrade hingewiesen, die also dem Baldersbrönd zwischen Kopenhagen
und Boeskilde,* dem Tisvelde, dem Tyrsquell, auf Seeland,^ der zu Johanni
von kranken besucht wird , dem Tyburn , an dessen free Londoner verbre-
1) Quitzmann, heidn. religion der Baiw. s. 133. Simrock, Myth.* s. 397.
2) Lütolf, Sagen aus d. Pünforten s. 75.
3) W. Menzel, D. dichtung 1, 151.
4) Uhland, Sehr. 4, 66.
5) Lex. myth. 8.29. 6) Lex. myth. s. 757.
ZEITSCITR. 7. DBUTSCHE PH1L0L0GIR. BD. III. 29
446 fi. H. KETBR
eher gehängt wurden , und am ende auch Koeskilde , wo Saxo wahr*
scheinlich propst war, d. h. der quelle Hrodos entspricht. Wenn Saxo
weiter erzählt, der besiegte Hother habe auf den rat von waldjungfrauen
dem Balder eine kräfte mehrende wunderspeise zu entreissen gesucht,
statt deren aber nur einen siegkräftigen gilrtel erhalten und dann Bai-
dem wirklich getötet , so erinnert Balders feind wider deutlich an Olivier,
der im Fierabras seinem gegner zwei stärke spendende balsambüchsen
raubt. ^ Dunkler bleibt das im frühjahr dem Olivier, im herbst dorn
Roland beigelegte hörn blasen. Bezeichnet es dort den brausenden lenz-
und hier den herbststurm? Oder steht das hom in Zusammenhang mit
Homung, dem uralten namen des februars, der den unechten söhn bedeu-
tet, dem ein nach dem echten sonnensohne benanter januarsnaroe Vol-
born des Herbort von Fritslar gegenüber stünde, in Niederhessen auch
wol b rüder Hartmann nach dem Hardemonat genant? Beim beginne
des nächsten, des lenzmonatcs, gerieten diese in kämpf um die göttin
des vierten monats, die Ostara.*
In allen diesen sagen sind die verwantschaftsgrade der gottheiten
bald so, bald so verschoben, und wie diese verwantschaftsgrade werden
auch ihre namen gewechselt haben. Das zeigt auch unsere sage, wenn
auch nicht unmittelbar durch Aude , so doch durch die frau ihres oheims.
Denn es muss auffallen , dass Gerhards gattin nur im Roussilloner gedieht
ihren geschichtlichen namen Bcrtha führt, dagegen im Vienner und in
einigen französischen Kolandsgedichten Guibor c oder Qu i bor'* und
im Agolante (Bekker s. 173a) Ameline heisst. Der frauenname Ber-
tha, den auch eine göttin trug, scheint hier durch andere namen der-
selben göttin ersetzt zu sein. Wenigstens Guiborc hat mythischen
klang und tritt auch in anderen sagen nicht nur als kriegerisches weib,
wie die gräfin von Vienne, auf, sondern auch mit unverkennbaren eigen-
schaften eines göttlichen wesens. Im Auhri li Borgonnon nämlich heisst
so eine Jungfrau, die, wahrscheinlich die tochter könig Auris zu Kaine-
borc (liegensburg), einen türm gcjgen Sarazenen standhaft verteidigt, wäh-
rend der gefangene Auri vor iliron äugen geblendet wird (Bekker LXVIIl).
Später cntreisst Aubri sie der liand der Sarazenen und heiratet sie« die
mit feengewande angetan ist. Dieser Aubri aber wird herzog vou Dijon
(B. lG9b) oder lierzog von Burgund und Genf (B. lG7b. 170a. vgl.
B. lG2b.) genant.^ Er gehört also dem burgundischcn Sagenkreise und
1) Fierabras v. Bekker. v. 13S5 fjrK-
2) J. Grimm, CJDÖ. s. 83 fg^.
M) W. Grimm. Ruolamlcs Hot LVIII.
4) Um nach forschem die müht; zu erleiohtorn , orduc idi hier die von Bekker
mitgeteilten hrnchKtücke Ides Aubri, die in seiner ausgäbe hier and .da xorstrcut
ÜBEB OXERABD VON YlBNNB 447
genauer der heiinat der Oliviersage an^ denn auch Olivier stamt nach
der älteren sage aus Vienne oder Genf. Eine dritte , den anderen widemm
ganz ähnliche Goiborc ist die gemahlin des berühmten Sarazenenbesiegers
herzog Wilhelms von Toulouse , dessen tapfere taten in der schlacht von
Orbie 793 ebenso vielen sagen, wie schon die Histoire g^n^rale de Langue-
doc 1730^ sagt, den Ursprung gab, als die niederlage von Eoncevall,
nicht nur weil die heldentaten von mindestens vier anderen kriegern
Frankreichs nach Jonckbloets nachweis auf ihn übertragen wurden , son-
dern weil auch hier, wie mir scheint, der göttermythus mächtig nach-
gfewirkt hat An andrer stelle werde ich diese in Deutschland durch
Wolframs Willehalm so bekant gewordene sage, ihre germanischen bestand-
teile und ihren Zusammenhang mit der Gerhardssage genauer untersu-
chen, hier beschränke ich mich darauf, auf die stiftungsurkunde der
abtei Gellone vom jähre 804 hinzuweisen, in welcher in der tat die eine
von Wilhelms gemahlinnen Guitburge genant wird.^ Wilhelms eine
Schwester heisst hier Bertha, seine mutter Alda. Alle seine nächsten
weiblichen verwanten tragen also namen , die in jener zeit gewiss noch
gleich Kolands namen mythische erinnerungen wachriefen. Und so Avird
sich auch die Guiburg der dichtung erklären. Nach Wolfram nämlich
war sie ursprünglich heidin und gemahlin Tybalts und hiess Arabel W. 7,
27 fgg. Sie wird durch Willehalm den Sarazenen geraubt und lässt
sich taufen. Um sie erhebt sich der doppelkampf auf Alischanze. Sie
trägt oft, als sie belagert wird, waflfen auf Orange W. 215, 7. 229, 26
und nimt die armbrust zur band, sie lehnt tote krieger an die zinnen
und weiss sie so geschickt in bewegung zu setzen , dass die feinde dieselben
wie lebendige fürchten W. 230. Sie heisst 403 , 1 eine heilige frau und
ist Schwester Kennewarts, dessen aschenhülle und wilde kampfeslust um
so mehr an Olivier erinnert, als auch Kennewart schwertlos seinen bru-
der erschlägt W. 442, 20. Man erinnere sich nur, dass in der verderb-
ten Wielandssage , die uns das gedieht von Friedrich von Schwaben
erhalten hat, Wielands geliebte, Angelburg, aber früher als heidin
Arvel (also Arabel) geheissen, ein halb geisterhaftes wesen, ihm an
einer quelle mit zwei gefährtinnen als taube erscheint Die erde berüh-
rend werden alle drei zu Jungfrauen , sie werfen ihre kleider ab und sprin-
stehcn , bei dieser gelcgenheit nach der folge der erzählten begebenheiten : blatt 1
steht bei Bekker s. 169a (dazu B. 175b. 167b.), bl. 9b. B 175b, bl. IIb. B. 175a,
bl. 21b. B. 152b, bl. 24b. B. 153b, bl. 45b. B. 167a, bl. 49b. B. l?4a, bl. 64b.
B. 154b, bl. 71b. B. 158a, bl. 90b. B. 167b, bl. 117b. B. 174a und LXVI, bl. 143b.
B. 169 a. Dann B. 182a zu Pierabr. v. 2948.
1) 1 , 454.
2) Hist. g. d. Langued. 1, 443. 446. 464. 705. PreuTes 31.
29*
448 E. H. METER
gen ins wasser. Wieland nimt sie ihnen, und gibt sie erst zurück, als
Angelburg ihm zur ehe sich anbietet. ^ Gerade ein solches göttliches wesen
unter dem namen Guiborc kante man also auch an der unteren Rhone, und
der mythische Charakter ihres namen, altgermanisch Wicburc lautend, steht
um so sicherer fest, als in den Nibelungen bekantlich eine der von
Hagen ihres gewandes beraubten schwanjungfrauen den gleichbedeutenden
namen Hadburc fuhrt. Das Verhältnis dieser einer Hilde gleich kampf-
bereiten und tote krieger belebenden Guiburg oder Wieburg zu ihrem
eigenartigen bruder Rennewart halte ich für ein im mythus begründetes.
Denn auch der riesenstarke Däne Haveloc , ein küchenjunge , wie Renne-
wart, bläst ein wunderhom, das auch im wappen von Orange, dem
Wohnsitze Guiburgs, vorkomt^ und im frühlingskampfeOlivier, im herbst-
lichen Roland gebührt, und veimählt sich mit Argentille, die, wie Gui-
burg belagert, ähnlich wie sie grosse pfähle in der nacht schneidet, die
dazu dienten, die gefallenen auf dem schlachtfelde lebenden ähnlich auf-
recht hinzustellen.* Nach den früheren bemerkungen können wir keinen
anstoss daran nehmen, dass Haveloc als der gatte und Rennewart als
der bruder der kriegsgöttin auftritt. Dann aber müssen wir auch Gui-
burg und Aude einander gleich stellen, obgleich die erste im Vienner
Gerhard die taute der anderen genant wird. Beide namen bezeichnen
ursprünglich eben nur verschiedene lebensstufen der einen burgundischen
göttin Bertha. Vielleicht wird diese ansieht auch durch den Agolante
gestützt, welcher, wie oben bemerkt, Gerhards gattin Ameline nent.
Die gattin oder Schwester eines germanischen gottes fQhrt öfter einen
mit dem seinigen wurzel- oder stammverwanten namen, wie bekant ist.
Ameline würde einem Amilo oder Amelius entsprechen, und wir geden-
ken hier wider jenes herrn Ameil , der an einer wallonischen waldquelle
die schöne und doch so gefährliche Oude findet und sich zur gattin
erwählt. Und ebenso wie hiemach Oude und Ameline, also auch Gui-
burg einander gleich zu achten wären, müste andrerseits Amelius die-
selbe person wie Olivier sein. Auch das scheint erweisbar, da die
'berühmte freundschaftssage von Amicus und Amelius höchst wahrschein-
lich aus einer germanischen Dioskurensage, also aus einer sage von
einem götterpaar, wie es nach unserer ansieht von Roland und Olivier
gebildet wird, erwachsen ist. Beachtung verdient hier vielleicht, dass
gerade im altburgundischen Genf im jähre 1482 Philipp Camus einen
lateinischen roman von der treuen freundschaft Oliv i er s von Gastilien
1) W. Grimm, HS. s. 401. v. d. Hagen, Germ. 7, 95.
2) Hist. d. Langncd. 1, 447.
3) Keller. Altfrz. sagen 1, 1—25.
ÜBBR OBRHABD YOV YIENNE 449
und Artus von Algarve übersetzte, der^« in den romanischen ländern
sehr beliebt, auch von Hans Sachs 1556 zu einer comödie von den
trewen gesellen Olivier und Artus verarbeitet wurde.* — Anfang und
ende dieser langen kette von folgerungen und Vermutungen fügen sich,
wie mir scheint , nicht übel zu einem mythenkreise zusammen , wenn wir
schliesslich von der schöneren hälfte der götterweit zu den männlichen
Charakteren derselben hinüberblicken. Wenn es wahr ist, dass um die
gattin des Vienner forsten der mythus sich spann, so wird auch der
gatte dessen einflusse sich nicht ganz entzogen haben, und da Guiburg
und Aude dasselbe göttliche wesen bedeuten, so wird auch Gerhard,
ihr genösse, dem genossen Audes, dem Olivier, gleich oder ver-
want sein.
Es ist nicht unmöglich, dass auch Gerhard zugleich name eines
gottes und eines menschen war, wie Guiburg. Simrock vergleicht die
bekante märkische redensart von dem herrgott, der Hermen heisst, mit
der niederrheinischen: „Du wellst mich wis mache, Gott hSsch Ger-
ret." Gerade in niederrheinischer sage heisst auch der schwanritter
Gerhard, und gerade in dieser kauft der Gute Gerhard eine königs-
tochter aus der gefangenschaft los.* Auch der burgundische Gerhard
von Vienne entstammt mythischem geschlechte. In der grossen chan-
son^ von der Girart de Viane nur einen teil bildet, wird sein vater Gue-
rin oder Garin de Montglaive genant.^ Dieser in Lyon wohnende
fttrst, der ebenso wie Gerhard von Vienne sein vorbild, so weit es
geschichtlich ist, in einem teilnehmer an der Schlacht von Pontenay 841
gehabt haben mag, in dem herzog Warin von der Provence, einem
hauptgegner Lothars,* herscht in unserem gedichte als herzog über
Aquitanien, bei Bojardo^ und im Aubri über Burgund.® Noch andere
beiden gleichen namens, Guerin Ilmesse und Guerino il Meschino, von
dem ausführliche reiseabenteuer erzählt wurden, gehören als bruder und
enkel Gerhards demselben hause an.'' Ja schon Tm*pin nent im elften
capitel einen lothringischen herzog Guarinus , der sich hier, wie im Aubri
Garin von Burgund , als ein verräterischer vasall Karls des Grossen erweist. '
Doch dieser herzog von Lothringen, von dem der grosse roman Garin
1) Grässe, Sagenkr. s. 350. W. Menzel, D. dichtung 1, 392.
2) Simrock, Myth.« s. 308. 478.
3) Ideler, Handb. 1, 97. Grässe, Sagenkr. s. 345.
4) Pertz, Mon. Scr. 2, 253. Hist. gen. d. Languedoc 1, 528 — 530.
537. 710.
5) Begis, Bojardo. Stammtafel zw. s. 448 und 449.
6) Bekker, Fierabras s. 175.
7) Begis, Bojardo s. 451. Grässe a. a. o. s. 368.
450 E. H. MEYBK
le Loherain geht, muss hier wol vorläufig wenigstens von enem geschieden
werden , obgleich auch er widor mehr mythisch der gatte einer Blanchefior
ist.^ In der chanson Bertrands nimt Garin die stadt Lyon den Saraze-
nen ab und heiratet die getaufte tochter des dortigen sultans. Also auch
seiner frau geschicke fallen im wesentlichen zusammen mit denen der
einen Guiburg im Wilhelm von Orange und ähneln jedenfalls denen der
andern Guiburg, der gattin Aubris. Möglich, dass auch Gerhards Gui-
burg, deren Vergangenheit mir bei mangelnden hülfsmitteln dunkel geblie-
ben ist, dieselben abentouer bestand. Auch hier waltet das mythologi-
sche gesetz ewiger widerholung derselben grundanschauungen. Wie um
einen ins wasser geworfenen stein sich viele ringe bilden, die ersten
klein, ebenmässig und kräftig, die späteren weit, aber durchbrochen und
.schwächer, bis die äussersten matt ausschwingen, so erzeugen sich um
einen grundgedanken des Volkes immer neue^ ähnliche, je grössere, desto
unklarere Sagenkreise. Auch die spätere volkssage von Garin bestätigt
dies. Petrus de Marca ^ nämlich erzählt uns von der Stiftung eines klo-
sters auf dem Monserrat um 800 folgendes. Auf diesem von drei sel-
ten unzugänglichen berge hatte der einsiedler Johannes Garinus eine
tochter des markgrafen von Barcelona, besiegt durch ihre Schönheit,
entehrt, dann getötet und in eine höhle geworfen. Sieben jähre tat er
darauf busse , nach wilden tieres art im walde lebend. Seiner bemäch-
tigte sich dann der jagende markgraf , und das noch stammelnde söhn-
lein desselben, als es den waldmenschen erblickte, rief plötzlich wunder-
bar aus: „Garin, deine Sünden sind dir vergeben!" Garin gestand seine
schuld und erhielt Verzeihung. Nun forschte man der leiche nach, aber
siehe! unverwest, in lebendiger schöne steigt die tochter aus der höhle
empor. — Nach einer andern sage gewahrten hirten nachts einen licht-
schein in dieser höhle und fanden hinzutretend ein schwärzliches bild
von der heiligen Jungfrau mit dem kinde. Darum wurde hier ein klo-
ster gegründet, in welchem man die gebeine Garins bewahrte, die noch
im dreizehnten Jahrhundert häufig von wallfahrorn besucht wurden.^ Nach
Ticknor ^ singen noch heutigen tages die spanischen maultiertreiber nicht
nur romanzcn von der schlacht bei lionceval, sondern auch vom Guari-
nos. In der von F. Wolf und C. Hofmann ^ mitgeteilten Guarinosromanze
1) Mo 11 e, HS. s. 204. 215.
2) P. de Marca, Marca Hispanica. 1688. ß. 336— 3;{i).
3) P. de Marca a. a. 0. 8. 339.
4) Ticknor, Gesch. der schönen lit. in Spanien. Deutsch von Jalios. 1867.
1, 120. Vgl. die ähnliche romanze vom Conde Dirlos, el salvajo, F. Wolf und
C. Hofmann, Primaver 2, 129 und Jahrb. f. rom. u. engl. litt. 4, 112.
b) F. Wolf und C. Uofmann, Primaver y flor de romances 2, 821.
ÜBBB GBJKHAIU) VON VIBNNE 451
fuhrt der Sarazeneufürst Marlotes nach der schlacht von Boncevall den
Guarinos gefangen hinweg, bietet ihm vergebens seine töchter zur ehe,
denn Guarinos will seinem glauben und gemahl treu bleiben. Dafür
muss er sieben jähre in feuchtem kerker sitzen, bis er an einem
Johannestage den T a b 1 a d o des försten niederwirft und nach Frank-
reich zm*ückfiieht. Guarinos siebenjähriges elend, seine Stellung zwischen
der Sarazenin und Christin, seine befreiung bei einem frühlings- oder
Johannisfeste , alle diese züge sind dem beiden dieser romanze mit jenem
älteren urbilde der volkssage gemein. Doch eine zu demselben weit
genauer stimmende sage, die auch den namen Johann Guarin hat, über-
liefert das Schweizer volk vom kloster fiinsiedeln mit seinem schwarzen
Marienbilde. ^ Nach dem einen berichte tötet hier Guarin die frau
aus gier nach ilirem kostbaren ringe, und nach dem dritten verwandelt
sich der schuldige selber nach einer busszeit von sieben mal sieben jäh-
ren in ein holdes knäblein, das sich dann als weisse taube auf zum him-
mel schwingt, und das grab der widererstehenden Jungfrau wird duich
eine wunderherliche blume mitten in abgehauenem gestände angedeutet.
Kein zweifei, dass diese klostersagen und diese geheimnisvollen Marien-
kulte ihren Ursprung germanischem heidentume verdanken. Ich sehe
hier davon ab , die wunderbar geformten berge Monserrat und den Pila-
tusberg in jener Schweizer gegend mit dem Montsauvage im Parzival zu
vergleichen, unseren Garin von Montglaive mit jenem Garin le Loherain
und diesen wieder mit dem schwanritter Loherangrin (f. Loheran Garin),
der im Parzival aus dem Montsauvage, im Loheugrin aus dem Sibillen-
berge des könig Artus hervorkomt, endlich jene Jungfrau und iliren plötz-
lich zur rede gelangenden bruder mit der mishandelten Kunneware und
Antanor zusanmxenzuhalten. Mir ist es hier wichtiger den catalonischen
brauch, eine Alte zu zerschneiden, und das Barceloneser kinderlied,
welches die befreiung einer Alten aus dem türme ihres gemahls durch
einen beiden verherlicht, ins gedächtnis zurückzurufen. Jene Jungfrau
von Monserrat und diese Alte von Barcelona sind ohne zweifei der bur-
gundischen Alda gleich, zumal da auch Barcelona die stadtsage von
einer Maria kent, die unglücklich vermählt verstarb, aber wider erwachte
und dem geliebten Don Juan ihre band schenkte.^ Der milde christ-
liche name des Johannes wird dem freundlichen sommergotte gegeben,
wie in dem einen schottischen ülingcr - oder Blaubartsliede der mordgie-
rige räuber des mädchens Pause John, der falsche Johann, in einem
andern ihr befreiender bruder John heisst;^ unter dem heidnischen
1) Lütolf, Sagen aus den Fünforten s. 534—587.
2) Germ. 13, 170.
3) Uhland, Sehr. 4, 63. 64.
452 £. H. METEB
Garin verbirgt sich avoI der in tiergestalt zum Vorschein kommende gott
des winters. Auch in der südfranzösischen Aucassinsage lässt ein Qa-
rin, graf von Beaucaire , die Nicolette samt einer Alten in einen türm
sperren. Sein angenommener söhn Aucassin aber heiratet schliesslich
dies getaufte Sarazenenmädchen Nicolette ^ das erst licht und schön in
der freiheit ist, dagegen schwarz aus der Verbannung heimkehrt.^ Im
Montglaiver roman ist es Garin selber, der das heidenkind aus der burg
erlöst.
Dies halb wilde, halb liebliche wesen Garins erklärt sich wie das
der Alda daraus, dass beide gottheiten dem frühlihg angehören und als
solche den wintergraus wie die sommerlust teilen. So berührt sich auch
der nordische frühlingsgott Freyr einerseits mit Skeaf-Wali, andrerseits
mit deren gegenbildern Skiöld-UUer.^ Eine skaldische bezeichnung des
winters ist „nacht des hären," des sommers „tag des hären,"' und so
erscheint an stelle des schön geschmückten maigrafen in Dänemark auch
der gadebasse^ der gassenbär, im frühling, ein frühliugsbär auch in Hal-
berstadt, Mainz und Strassburg,^ wie denn auch Garin als wildes tier
aus dem walde hervortritt. In einigen märchen, die offenbar dem lenz-
sagenkreise angehören, muss die bedrängte Jungfrau einen hären heira-
ten, der sich aber dann zu einem schönen königssohne entzaubert* —
Auch Garins name scheint mir auf einen lenzgott am ersten deutbar zu
sein. Der stamm des aufs deutsche Warin zurückführenden Guarin oder
Guerin ist vieldeutig. Man dachte bisher an althochdeutsch wari , wehr,
oder toaron, servare, oder war, wohnung, oder wer, mann, oder war, wahr.*
Allen diesen wenig befriedigenden erklärungen möchte ich hier eine neue
entgegensetzen. Es muss auffallen, dass von den drei Jahreszeiten, Win-
ter, frühling und sommer, welche die Germanen schon zu Tacitus Zeiten
kanten, die mittlere in unserer spräche nur die so nüchternen bezeich-
nungen des frühlings und lenzes aufweist, da doch die anderen arischen
sprachen ein sinnliches , naturfrisches wort dafür besitzen. Ob dem indi-
schen vasanta, griech. feaQ, lai ver, slav. wesna, litth. wasara^ wie
Grinma meint, ^ das got. jer, althochd. jär vergleichbar, ist doch zwei-
felhaft. Wie wäre es aber, wenn neben dem griechischen iaQtvog und
dem römischen v^r{i)nus ein gotischer Verina, ein althochdeutscher Wa-
rino, ein frühlingsgott sich einstellte, dessen haupteigenschaft sich in
einer adjectivbildung, tcarmy althochd. wäram erhalten hätte! Ja im
norden, der auch noch den altarischen ausdruck vär für frfihling, mit
1) Fauriel, h. d. 1. p. prov. 8, 186 fgg. 2) Simrock, Myth.« 8. 315.
3) Pfeiffer, Germ. 5, 273. 4) Grimm, Myth. 8. 736. 743.
5) W. Menzel, D. dichtung 1, 153.
6) Förstemann, Altd. namenb. 1, 1258. 7) Qrimm, Myth. 8. 718.
ÜB£B eEEHABD VON VIENNE ibS
welchem altn. vaerr heiter zusanunenhangen mag, und für den april den
namen värant bewahrt hat, finden sich auch noch spuren einer ähnlich
benanten gottheit. Den WcUs, den ahnherm der Wölsungen, setzt Sim-
rock dem Wali, einem germanischen Dioskuren, gleich. Dessen vater
heisst in der vorrede zur jüngeren Edda Waerir, den schon der genante
forscher durch Lenzer übersetzt.^ Waerirs gemahlin wird von Odin
heimlich geschwängert derart, dass ihr das kind ausgeschnitten werden
muss. Auch hier wider das nebenbuhlerische ringen eines winter- und
eines sommergottes um dieselbe göttin, auch hier die ewig sich neu
gebärende sage von dem Wechsel der Jahreszeiten, welche diese ganze
provinz der dichtung beherscht.
Gleich Yienne scheint auch Lyon eine hauptstätte burgundischer
sage gewesen zu sein. An beiden orten mündete eine römische Wasser-
leitung in der nähe eines altheiligen Marientempels, um den hier wie
dort ein alter fiiedhof lag. Und etwas weiter nördlich von dem hügel
von Four vieres, auf den ein 15 stunden langer aquaeduct das wasser
des Mont Pilat brachte,* erhob sich, einst wild und steil, aus paradie-
sischer gegend der burggekrönte fels, die Pierre scise, die Petra scissa
der Römer, die jetzt gröstenteils gesprengt und abgetragen ist. Dies
wird der Mont glaive , der aus einem germanischen Eccinperc oder Eckin-
stein^ übersetzte Mens gladii des mittelalters sein, der wohnsitz Garins,
zumal da ihm gegenüber liegt la tour de la belle Allemande, von der
folgende sage geht: Der geliebte einer schönen Deutschen wurde von
deren gatten in die Pierre scise gefangen gesetzt, während sie selbet in
einem hohen türm am anderen ufer eingesperrt wird. Da stürzte sich
der Jüngling vom felsen in den fluss, um den türm zu erklettern, aber
von den Schlosswächtern entdeckt wurde er vor den äugen der geliebten,
die auf dem türme stand, tötlich verwundet.* Ich denke, wir haben
hier wider nur eine Aldasage vor uns, und vielleicht ist die Allemande
nur eine spätere entstellung des unverstandenen Aide. Auch hier streit
zweier nebenbuhler um ein auf hohem türm stehendes weih, für das der
geliebte, wie auch Roland vor Vienne, den ström durchschwimt, während
Garin - Olivier ihm die Werbung verwehrt. Für die nahe berührung
Garins mit Olivier scheint auch der umstand zu sprechen, dass im Ger-
hard von Vienne (v. 19Y6) Oliviers schildhalter Garin heisst, ja im Fie-
rabras Olivier sich selber als Garin (v. 896) ausgibt. Und jetzt kehren
wir zur Gerhardssage zurück.
1) Simrock, M}i;h.«, s. 317.
2) Mylius, Pussreise d. d. südl. Frankreich I. 1, 278 fgg.
3) Forste mann, Altd. namenb. 2, 232. 1298.
4) Mylius, a. a. o. I. 1, 237. 301. 2, 84.
454
B. H. MEYEB
Von Garin von Montglaive also stamt Gerhard von Rousaillon
oder Yienne ab. Dass Gerhard am Khein för ein mythisches wesen gegol-
ten hat, ist oben angedeutet Seine verwan tschaft mit Garin wird noch
dadui'ch bestätigt, dass auch er als Schwanritter auftritt. Während Ger-
hard in dem mir bekanten teile des grossen gedichtes von Garin de Moni*
glaive hinter Bolaud, Olivier und Aude zurücktritt, zeigt sich sein mythi-
scher Charakter deutlich in dem von Fauriel widererzählten Gerhard von
Boussillon.^ Als sich kaiser Karl mit Gerhards geliebter, einer tochter
oder verwanten des kaisers von Constautinopel , vermählt, heiratet unser
held deren Schwester Bertha, erhält aber von der kaiserin zum zeichen
ewiger liebe beim abschied einen ring. Sein marschall Riquier öffnet
verräterisch die tore Yiennes dem belagernden kaiser, Gerhard flieht bis
nach Avignon, um dann seine stadt widerzuerobern. Nun kämpf, Ver-
söhnung und neuer stielt mit dem kaiser. Gerhard und Bertha müssen
22 jähre in der Verbannung in den Ardennen leben, er unter dem namen
Joland. Nach dieser zeit gibt er sich, in bettlerkleid gehüllt, an einem
charfreitag der geliebten kaiseiin in einer kiiche zu Orleans durch jenen
ring zu erkennen und erhält durch ihre hilfe sein schloss wider. Doch
von neuem entbrent der kämpf gegen Earl^ bis endlich ein siebenjähri-
ger Waffenstillstand geschlossen wird.
Gerhards doppelliebe, sein durch den ring an die eine geknüpftes
leben, sein waldleben mit der andern, seine rückkehr aus dem elend anir
frühlingszeit, die frist von sieben Jahren, die den einen kämpf vom andern
trent, den herbstlichen vom lenzlichen, dies alles sind zügo, die auch
der Garinssage eigen sind. Jene verräterische auslieforung Viennes mid
Gerhards flucht von Yienne nach Avignon, und die siegreiche Umkehr
vou hier nach Vienne sind, wie schon oben bemerkt, wahrscheinlich der
altburgundischen geschichte entlehnt, ebenso wie die durch ein wunder
gestillte Schlacht, die Karl und Gerhard sich bei Vaubeton liefern,* an
einen ähnlichen wunderkampf vom jähre 537 erinnert.^ Vielleicht hat
der name Joland den sinn von Ivolant , d. h. Eibenbewohner , wie ja auch
der winterliche Ulier nach nordischer Überlieferung in den Eibentälern
haust Hierzu passt auch die Wildheit, die dem Gerhard im Agolant
beigelegt Avird, wo er in Viane im marmoi*palast sein stahlmesser auf
Karl wirft.* Ja im italienischen Aspramonte erscheint er als wütender
renegat, der das cruciflx zerbricht, und wird von seinen eigenen kindern
in einen türm gesperrt, wo er stirbt.^ Auch auf Gerhard, wie auf Alda
1) Fauriel, bist. d. 1. p. prov. 3, 35 fgg.
2) Fauriel a. a. o. 3, 4;3. 3) Gregor. Tur. 3, 28.
4) Bekker, Fierabras s. 173.
5) liegiSy Bojardo s. 427.
ÜBER nBRHARD VON VIBNNE 455
und Garin, wirft die spätere christliche sage helleres licht Vienne ist
nämlich einer der hauptsitze der Pilatuslegende, und diese scheint nicht
viel mehr als eine Christianisierung des Gerhardsmythus zu sein. Vor
der kirche der Notre dame de la vie in Vienne kent Zeiller ein Bicht-
haus des Pilatus. Nahe dem landungsplatze am kai zu Vienne sah
Mylius 1812 den platz, wo einst ein alter türm stand, der türm des
Pilatus genant, weil Pilatus, auf Caligulas befehl eingesperrt, sich hier
erhenkt hatte. Nach einer anderen sage sass Pilatus im fort Salo-
mon bei Vienne gefangen. Ferner erhebt sich bei Vienne mitten im
grün eine 72 fuss hohe, auf einen Janusbogen gesetzte pyramide,
Aiguille genant. Hier ruht nach der sage Pilatus," der, nach sei-
nem aufenthalt in Jerusalem auf der Vienner bürg ansässig, sich hier
vom felsen in die Bhone gestürzt haben soU.^ Dass dies bauwerk, das
wahrscheinlich ein grabmal aus der späteren kaiserzeit ist, auf einen
germanischen mythus und auf eine biblische figur bezogen ward^ darüber
darf man sich nicht wundern. Wird doch einerseits auch in Arles eine
ganz ähnliche steinpyramide , die auf dem amphitheater sich befindet,
nach einem andern germanischen heros derSolandsturm genant,^ und
werden doch andierseits nach Vienne ausser Pilatus auch Herodes und
Herodias und Archelaus von der christlichen legende versetzt,* lauter
bösartige Charaktere des evangeliums, die doch wol auf den höhen Vien-
nes nur die sitze verdrängter älterer gottheiten eingenommen haben.
Wie mächtig gerade in dieser Bhonelandschafb der alte Germanenmythus
von christlichem geiste erfasst und durchdrungen wurde , dafür legt kaum
eine litterarische Schöpfung ein so herliches zeugnis ab wie die Parzi-
valssage. Ja ich glaube nun weiter, dass auch die klassische kunst eine
engere Verbindung mit der germanischen sage und der christlichen reli-
gion an diesem orte eingieng, vielleicht nirgendwo so innig als in Vienne
und etwa noch in Trier, wodurch eine seltsame färbung über die bau-
werke , sagen und dichtungen dieser beiden städte ausgegossen ist. Nörd-
licher schwächt sich der antike, südlicher der germanische einfluss zu
sehr ab. Ein Sinnbild dieser dreieinigkeit ist die schon oben erwähnte,
im korinthischen tempelstil erbaute kirche der Notre Dame de la Vie, die
über Burgundergräbern waltete , wie einst die göttin des frühlings und des
lebens. Ähnlich räumte die Diana ihren tempel in Jilarseille der St Marie
Majeure ein , von dem aus ein unterseeischer gang nach den katakomben
von St. Viktor führen soll, in denen der sarazenischen habgier das hei-
1) Zeiller, Topogr. Galliae. 1661. 13, 24. 25. Stark, Stadteleben inFrankr.
s. 21. Mylius, Fussreise d. d. südl. Frankr. I. 2, 257 — 271.
2) Stark a. a. o s. 74.
3) Lütolf, Sagen aus den Fünf orten s. 18.
456 E. H. MEYER
lige bildnis der Vierge Noire entgieng. Auch hat die in Vienne stark
fortwirkende griechisch-römische kunst sich nicht gescheut, nach ihrer
alten Überlieferung auch fremde gottheiten zu gestalten. Wie wir im
Bheingebiet so oft die muttergöttinneu klassisch dargestellt finden, so
hat sich uns auch in Vienne ein grosser sitzender torso mit vollen brü-
sten erhalten, dessen vorgestreckter rechter arm die sachverständigen
auf eine mütterliche thronende göttin hinweist. Zwei andere bedeutende
bruchstücke des Vienner museums gehören ebenfaUs einer weiblichen
ortsgottheit an. Ausserdem hat man noch in einem Weinberge bei Vienne
eine gruppe von zwei knaben entdeckt, von denen der eine mit einer
taube davoneilen will , während der andere ihn in den arm beisst , wobei
als Symbole der durch die sonne widererweckten erdkraft eidechse und
schlänge erscheinen.^ Doch wird es richtiger sein, in diesem bildwerk
einen kämpf zwischen Eros und Anteros als einen antik aufgefassten
streit des germanischen winter- und sommergottes um den frühlingsvogel
zu erkennen. Wir kehren auf etwas festeren boden zurück , wenn wir uns
wider der Vienner Aiguille nahem. Sie schien wol in alter zeit nur ein
kleines abbild des nahen gewaltigen dreiköpfigen Mont Pilat, der süd-
westlich von der stadt aufragt, zu sein. Auf ihm aber liegt ein see,
aus dem ungewitter entstehen , gerade so wie aus dem see des Schweizer
Pilatusberges. Ich will hier auf die geschichte der bis ins vierte Jahr-
hundert zurückreichenden Pilatuslegenden , die Lütolf ausführlich bespro-
chen hat,* nicht näher eingehen. Nur das verdient hier hervorgehoben
zu werden, dass nach der deutschen fassung der Pilatussage aus dem
zwölften Jahrhundert Pilatus der söhn eines königs und einer einsam im
walde wohnenden müllerstochter war und der mörder seines eigenen bru-
ders wurde. Wir bewegen uns hier offenbar in dem Sagenkreise von
Pipin und Bertha, d. h. in einem fränkischen, dem burgundischen von
Garin, Alda und Gerhard nah verwanten.» Jener bruder wäre Karl,
dessen leben ja auch von seinem vetter Gerhard mit dem messer
bedroht wird, verjüngt aber Roland, dem der bruder Olivier nachstellt.
Mir scheinen die Pilatusberge, vielleicht auch der Montpellier romani-
sierte Beleben und Bilsteine zu sein, die von ganz ähnlichen sagen
umgeben sind und ihren namen einem mythischen Bil verdanken, der
im wesentlichen mit Garin, Gerhard und Olivier, vielleicht auch mit
Beli, dem bruder Gerdas, identisch ist. Diese bergnamen wie die ähn-
lichen des Montsauvage und Monserrat gedenke ich an einem anderen
1) Stark, Stödteleben Frankreichs s. 576. 577.
2) Lütolf, Sagen aus den Fünforten s. 4 — 2<>. Rochholz, Naturmythen
8. 3. 6. 175.
3) Lütolf a. a. o. s. 19.
ÜBEB GEBHABD VON VIBNNE 457
orte im zusammenhange mit den entsprechenden deutschen zu besprechen.
Jene andeutung gebe ich schon hier nur deswegen, weil Olivier, dessen hei-
mat auch nach Vienne oder nach Genf gesetzt wird, nach Turpins berichte
cap. 29 in der villa Beiini bestattet wurde. Dies wird das heutige
Belley sein, das im mittelalter auch Belisium und Belica genant wird
und in der südlichsten Khonekrümmung liegt, ebensoweit von Vienne
wie von Genf entfernt. Etwas weiter nördlich im Juradepartement finden
wir am Ain das Städtchen Condes, in dessen nähe unzugängliche berge
sich erheben, wo baren hausen und die ruinen eines Schlosses von Holo-
fernes liegen sollen, der hier noch nach dem Volksglauben als wilder
Jäger jagt^ An dieser stelle aber lag im fünften Jahrhundert in der
enge des Juragebirges ein hochangesehener heidentempel, Jsarnadori
genant,* ein name, der nur dem eingang in die germanische unterweit
gebührt. So leitet uns auch dieser hinweis Turpins auf Oliviers grab-
stätte in eine landschaft Burgunds, in der die gottheiten der unterweit
hohes ansehen genossen. — Im italienischen Aspramonte taucht Olivier
noch unter andern namen auf. So heisst er nicht nur mit geringer
ab weichung auch Uliviero, sondern auch Don Chiaro oder Donclair.'
Auch hat Olivier nach Bojardo die zwillingssöhne Aquilant den Schwar-
zen und Grifon den Weissen, jener von schwarzer, dieser von weisser
fee erzogen, jener schwarz, dieser weiss gewaffhet und beritten.* Wider
und wider spaltet sich also der doppelseitige gott in zwei besondere göt-
ter. Oliviers söhn Galien le Kestor^ endlich scheint bloss ein langweiliges
erzeugnis litterarischer erfindung zu sein.** Solche fortgesetzte Zersplit-
terungen lassen sich auch bei Roland wahrnehmen; aber indem ich
glaube, Aldas, Rolands und Oliviers Stellung innerhalb unserer mytho-
logie vorläufig genügend gesichert zu haben, verzichte ich hier darauf,
die schon so weit ausgesponnene Untersuchung noch mehr zu ver-
längern.
Nachdem Ad. Kuhn in dieser Zeitschrift mein Rolandsprogranmi
besprochen, hat auch herr G. Paris demselben in der Revue critique
12. F^vrier 1870 eine eingehende kritik gewidmet, für die ich ihm den
wärmsten dank sage. Herr Paris hat einspräche gegen die herleitung der
französischen Rolandssage aus einem germanischen mythus erhoben ; aber
ich bin überzeugt, dass die schaar seiner einwände bei näherer betrach-
tung stark zusammenschmelzen wird. Auf eine solche leiste ich hier
verzieht, weil ich abwarten will, ob er nicht in diesem neuen beitrage
1) Klöden, Handbuch der geogr. 2, 498.
2) Grimm, Myth. s. 70.
3) Regis, Bojardo s. 427. 405.
4) Regis a. a. o. s. 376. 5) ühland, Sehr. 4, 339.
458 SUPHAN
zur Kolandssage einen vollkommen ausreichenden beweis meiner froheren
ansichten anerkennen wird. Auch unterdrücke ich hier , so sehr sie mich
reizt, eine allgemeine betrachtung der geschichte des Burgundermythns,
die sich besser einer Untersuchung der Parzivalsage anzuschliessen hat
BREMEN, MÄRZ 1870. ELARD HUGO MEYER.
HERDERS VOLKSLIEDER UND JOHANN VON MÜLLERS
„STIMMEN DER VÖLKER IN LIEDERN."
Die „Volkslieder" erschienen 1778 und 1779 in zwei bändchen
ohne Herders namen (Leipzig, in der Weygandschen buchhandlung). Von
den beiden redactionen, die heutzutage Herders namen tragen^ ist die
ältere von J. v. Müller für die Cottaische ausgäbe der sämtlichen werke
Herders (1807) unter dem titel „Stinmien der Völker in Liedern" gelie-
ferte eine gänzliche Umarbeitung der Originalausgabe;^ die jüngere, von
Johannes Falk 1825 im auftrage der Weygandschen buchhandlung besorgt,
bleibt im texte der lieder der Originalausgabe treu, während sie in der
textconstitution des anhanges abweicht.
Die MüUersche redaction behauptet sich als vulgata in allgemeiner
anerkennung, wiid sogar nicht selten bei litterargeschichtlichen arbeiten
wie eine Originalausgabe gebraucht; um so nötiger erscheint es durch
eine vergleichung derselben mit der ausgäbe von 1778/79 auf ihre abwei-
chungen und änderungen aufmerksam zu machen.
Die Originalausgabe enthält im L teil zwei und siebzig lieder in
gleicher zahl auf drei bücher verteilt; der zweite band enthält in eben
solcher dreiteiluug^ neunzig lieder. Das princip der anordnuug ist ein
ästhetisches, der zweck derselben befriodigung des Schönheitssinnes
und moralische erhebung.^ In der Müllerschen redaction ist von der
öconomie der ersten ausgäbe nur die teilung in sechs bücher beibehal-
ten; es herscht aber ein ganz anderes, ein wissenschaftliches prin-
1) Dio jüngste (1846) in Cottas vorlag erschienene specialausgabo ist bis auf
geringfügige berichtigungen eine widerbolung der ausgäbe von 18()7. Wir citieren
nach der verbreiteteren taschenausgabe (1827 fgg.). Die „St. d. V." nehmen B. VII.
Vm (Zur seh. liit. u. K.) ein.
2) Diesem ebenmass zu liebe hat Herder das lied „Jörra" in die cinleitiing
des II. B. im II. teil der VL. eingerückt, da durch die aufnähme unter die lieder
das bucli einunddreissig nnmmem erhalten hätte. Deswegen ist wol auch das „ krie-
gerische lied dos Hybrias von Kreta" in den anhang des I. teihj der VL. (s. 227)
verwiesen.
3) Siehe Herders Adrastea V, 271 fgg. 277. 287 fgg.
ZUB TEXTKRITIK VON HBlU>BBS V0LK8LIEDBBN 459
cip der anordnung (geographisch und historisch); die samlung soll dem-
nach zu beförderung culturhistorischen wissens beitragen. Müller
gibt also die harmonie des ganzen und das äussere ebenmass auf und
bringt in das I. buch: vier und zwanzig „Lieder aus dem hohen Nord "
in buch II: acht und dreissig „Lieder aus dem Süd"; in buch ÜI (mit
dem der VIII. teil der sämtlichen werke begint) fünfzig ^ „ Nordwestliche
Lieder"; das buch IV enthält vierzehn „Nordische Lieder"; buch V vier
und dreissig „Deutsche Lieder"; buch VI zwölf „Lieder der Wilden";
zusammen also: hundert zwei und siebzig.
Unter dieser zahl sind vier und zwanzig lieder, welche die Origi-
nalausgabe nicht enthält; dagegen sind fünfzehn, die sie enthielt, aus-
geschieden. Jene sind nach mitteilung des herausgebers (in der „Vor-
erinnerung") aus Herders handschriftlichem nachlass; diese sind als
„neuere und eigene lieder Herders" entfernt.
Aber unter den hinzugekommenen finden wir einige bereits von
Herder selbst in späteren Schriften (Zerstreute Blätter, Adrastea) veröf-
fentlichte lieder; und von den ftmfzehn fehlenden sind allerdings sechs
als „eigene lieder,"* zwei als „sehr freie Übersetzungen" (also halb-
eigen) * abgesondert und unter Herders gedichte (teil IE. IV der gesamt-
ausgabe) verteilt; zwei andere kann der herausgeber nur aus einer fal-
schen rücksicht auf den anstand unterschlagen haben;* eins scheint aus
persönlicher abneigung gegen den dichter beseitigt zu sein;^ drei viel-
leicht als lieder weniger wertvollen gehaltes;^ eins ist etwa, weil man
1) Das buch enthält freilich ein und fünfzig stücke; aber unter nuramcr 17
verbirgt sich eine prosaische einleitung an statt eines liedes.
2) Diese sechs und die zwei folgenden befinden sich sämtlich im II. T der
VL. (Daher der titel desselben: „VL. Nebst untermischten andern stücken."). In
der vorrede (II, 29) erklärt Herder, er habe (aus rücksicht auf die artigen leser und
kunstrichter) „den ton dieses teils ganz geändert und hie und da stücke geliefert,
die freilich — nicht Volkslieder sind, meinethalben auch nimmer Volkslieder werden
mögen." Die sechs lieder sind: Nothund Hoffnung VIj. II., 274. Werke (z. seh. L.
u. K.) m, 119. Das lied vom Bache, VL. ü, 73. W. m, 137. Abendlied. VL.
U, 78. W. m, 140. Der einzige Liebreiz. VL. H, 152. W. HI, 223. Das Lied
vom Schmetterlinge. VL. U, 281. W. HI, 120. Der Eistanz. VL. II, 287.
W. IV, 39.
3) Klaglied über Menschenglückseligkeit. VL. 11, 46. W. III, 130. Der Lor-
beerkranz. VL. II, 48. W. in, 211.
4) Bettlerlied. VI.. II, 264. Der entschlossene Liebhaber l, 276.
5) Goethes Lied vom Fischer , dem Herder den ehresplatz zu anfang des zwei-
ten teils angewiesen hatte. Die „neueren lieder'* anderer dichter sind beibehalten.
Vgl. Von und an Herder HI, 346. brief 24.
6) Das strickende Mädchen. VL. II, 21. Ulrich und Aennchen VL. I 16.
(hat in zwei Strophen lücken). Vom verwundeten Knaben. VL. I, 118.
460 SÜPHAN
V
es nicht für ein lied im eigentlichen sinne , sondern für ein dramatisches
stück ansah, ausgelassen.*
Mit besonderer freiheit hat der herausgeber die prosaischen zuga-
ben behandelt, die einleitungen, nach werte und anmerkungen.
Die Originalausgabe bringt (I, 5 — 11) als einleitung „Zeugnisse
über Volkslieder," (I) empfehlungen also von der art der testimonia in
alten classikerausgaben.^ Der teil schliesst, wie mehrere- unter den fro-
hen Schriften Herders, mit einem nachwort (II) s. 331 — 333. Erst der
zweite teil hat ein längeres vorwort (III) s. 3 — 36 über volkspoesie
und über methode und zweck der samlung. Vor dem zweiten buche
dieses teils steht eine einleitung (FV) ethnographischen Inhalts (s. 83 —
95), vor dem dritten buche, das einige historische Volkslieder enthält,
eine aphoristische Vorbemerkung (V) über historischen wert der Volkslie-
der. Auch der zweite teil schliesst (s. 313 — 15) mit einem apologe-
tischen nachworte (VI). Ausser dem IV. und V. stücke tragen alle diese
prosaischen zugaben den apologetischen Charakter, und nur mit rücksicht
auf ihren zweck — publicum und kunstrichter auftnerksam zu machen
— kann form und Inhalt derselben genügend gewürdigt werden.
Statt dieser einzelneu stücke finden wir in der vulgata eine „Vor-
rede der Volkslieder," welche aus stück II und HI zusammengesetzt ist,
stück V als anmerkung unter den text mitnimt und eine stelle aus stück I
interpoliert enthält.^ Zur bindung so disparater teile bedurfte es einiger
auslassungen, änderungen und zusätze. Stück VI fehlt ganz;* stück V
dient, in fünf teile zerlegt, zu einzeleinleitungen im ersten buche der
neuen ausgäbe, wo sie jedoch auch nicht ohne änderungen und kürzun-
gen aufgenommen sind.^
Der text der lieder erscheint in der ersten ausgäbe fast durchweg
rein von anmerkungen, wie Herder grundsätzlich bei Veröffentlichung
poetischer stücke verfährt. Alles, dessen es zur erläuterung bedurfte
(bemerkungen über fundort und dichter, über frühere Übersetzungen und
rechtfertigung eigener änderungen , endlich wenige ästhetische und moras^
1) Einige Zauberlieder. Aus Shakespeare Sturm. VL. 1 , 146.
2) Voran stehen auf zwei getrenten blättern (nach Herders sitte) zwei mottos.
Den schluss des teils bilden widerum zwei getrent gedruckte poetische stellen aus
Shakespear.
3) Die meisten übrigen bestandteile des ersten stücks bildea nummer 17. des
in. buchs.
4) Auch Falk hat dasselbe nicht aufgenommen.
5) Die ,, Einleitung" zu den Litthauischon liedcm (Buchl. stück 11) ist zusam-
mengesetzt aus dem zugehörigen abschnitt von stück V (YL. II, 92), aus einem
der ,, Zeugnisse'* (VL. I, 10 fg.) und aus einer anmerkung, die dem „Verzeichnisse'
(VTi. I, 316) — und zwar übel verstümmelt — entnommen ist.
ZtTB TEXTKRITIK VON RBBDEBS VOLKSLIBDBRN 461
lische beobachtungen), wurde in dem „Verzeichniss " (T. I, 315 — 330.
T. II, 299 — 312) zusammengestellt
Da Müller eine neue reihenfolge der gedichte einführte, konte er
auch die an den alten index angeschlossene Ordnung der anmerkungen
nicht bestehen lassen. Er versetzte diese also sämtlich „an gehörige
stelle/' d. h. unter den text. Dadurch kam er mit ihrem inhalt und
ausdruck nicht selten in collision^ am empfindlichsten bei denjenigen, die
zur begründung der alten anordnung dienten. Am schluss des zweiten
teils z. b. fand Claudius, wie am anfang Goethe, eine ehrende crwäh-
nung. Als letztes lied war „Abendlied. Deutsch" (von Claudius) auf-
genommen. Bei Müller steht das lied als XXY im Y. buche. In den
„Stinmien d. V." aber wie in den „Volksliedern" (11, 312) lautet die
zugehörige anmerkung: „Von Claudius. Das lied ist nicht der zahl
wegen hergesetzt, sondern einen wink zu geben, welches Inhalts die
besten Volkslieder seyn und bleiben werden." In der vulgata hat die
erste hälfte der bemerkung keinen sinn mehr. Andere der neuen anord-
nung ¥riderstrebende bemerkungen sind ausgelassen. Im II. buch des
II. teils z. b. sind zwischen esthnische (1. 2), ein litthauisches (4) und ein
lappländisches lied (5) eingeschoben als nr. 3: „Hochzeitlieder. Grie-
chisch." Dazu ist bemerkt (11, 304): „Die griechischen lieder sind ein-
gemischt, um zarte griechische seelen über die barbarei der vorhergehen-
den und folgenden zu trösten." Zwischen nr. 5 (lappl.) und nr. 7. 8
(lettisch) sind eingereiht als nr. 6: „Fragmente griechischer lieder der
Sappho," mit der bemerkung (11, 305): „Sie stehen hier zu entschuldi-
gung der folgenden fragmente." Dergleichen hat Müller getilgt; anderes
Hess er als unnütz aus, wie die notiz (I, 316): „Die litthauischen Dai-
no*s, die in diesem theile vorkommen, sind dem Sammler von herrn
P. K. in K. worden." Überhaupt aber erlegte ihm der neue ort, den er
den anmerkungen angewiesen hatte, die pflicht auf, möglichst an ihnen
zu kürzen , und seine eigene verliebe für knappen ausdruck auch in abän-
derung des Wortlauts^ walten zu lassen. Dagegen sah er sich veran-
lasst die wenigen und sehr kurz gehaltenen sachlichen bemerkungen, die
schon Herder unter den text gesetzt hatte, dui'ch eine anzahl (etwa zwan-
zig) eigener anmerkungen gelehrten, meist historischen inhalts* zu ver-
mehren.
1) In die knappheit seines Schweizerdeutsch hat Müller sogar viele Überschrif-
ten eingezwängt. Die ächten Überschriften sind in der Cottaschen ausgäbe der St.
d. V. wider eingesetzt.
2) Auch in den index hat Müller zwei bemerkungen ^ die persönliche empfin-
dungen aussprechen, eingeschoben. Diese sind in der neuesten Cottaschen ausgäbe
entfernt.
ZEIT8CHR. P. DEUTSCHS PHILOL. DD. III. 30
462 SUPHAN
Die oben (s. 460) erwälmte „Vorrede der Volkslieder" steht in der
vulgata an dritter stelle. An erster und zweiter hat Müller, „um die
geschichte seiner (Herders) ansieht solcher gedichte vollständig vorzu-
legen ... die briefe über Ossian ^ und eine abhandlung über brittische
und deutsche dichterei ...^ (s. 9 — 46. 49 — 66) vorausgeschickt," einen
Zuwachs , der freilich dem Inhalte nach mit der vorrede nahe genug ver-
want ist, aber --- wenigstens in anbetracht des ersten aufsatzes — seine
stelle anscheinend nur dem umstände zu verdanken hat, dass man mit
dem material der Volkslieder für zwei bändchen ausreichen wollte. Man-
cherlei ist auch hier am ausdruck verändert; besonders sichtbar ist das
bestreben , veraltetes und dem fortgeschrittenen Zeitgeschmack nicht mehr
zusagendes (und dessen ist bei der an Idiotismen reichen Schreibart der
frühesten Herderschen aufsätze nicht wenig) durch modernen aosdrack
zu ersetzen.
Es ist klar , dass auch durch die behandlung der prosaischen stftcke
die vulgata einen von der Originalausgabe abweichenden Charakter ange-
nommen hat. Die schweren demente, die Herder möglichst zu vertei-
len gesucht hatte, sind hier zu eiuer compacten masse zusammengerou-
nen und um das doppelte vermehrt, und gegen Herders absieht haben sie
sich auch zwischen und neben den poetischen stücken eingedrängt
Auf die dreifache prosaische einleitung folgt in der vulgata unmit-
telbar vor dem ersten buche eine „Zueignung der Volkslieder," ein gedieht
in vierzehn distichen, das aus Herders handschriftlichem nachlass schon
im letzten bände der Adrastea (1804, VI, 159 fgg,) Herders ältester
söhn, W. G. V. Herder, veröffentlicht hatte. Dieser Veröffentlichung ist
die bemerkung beigefügt (159 a.): „Der Verfasser wollte einen au&ats
über das deutsche Volkslied und den Charakter der Deutschen schreiben,
dem diese Zueignung vorangehen sollte." Offenbar beruht diese angäbe
auf irtum; denn das gedieht bekundet sich deutlich genug als versudi
einer dedication der Volkslieder. Auffallend stimt dieses gedieht in gedan-
kengang und wörtlichem ausdruck überein mit einem prosaischen -stflcke«
das Herder selbst im jähre 1808 (Adrastea V, 269 — 273) veröffentlicht
hat. Ohne zweifei liegt uns im gedichte die frühere fassung der gedan-
keu vor ; der prosaaufsatz ist flüssiger und umgeht manchen eckigen aus-
druck des gedichts. Dieses scheint mir ein ziemlich früher , wahrschein-
lich schon für die ausgäbe von 1778 bereit gewesener, dann zurückgeleg-
ter entwurf zu sein, dem abrundung und letzte feile fehlt Schwer-
lich würde es Herder selbst, nachdem er einmal in der. prosaischen fas-
1) Aus der schrift Von Deutscher Art und Kunst: ,,Aubzu{^ aus einem Brief-
wechsel über Ossian und die Lieder alter Völker/' (gröstenteiis schon 1769 getehrieben).
2) Hierüber siehe unten s. 460. 468.
2üB TBXTKBITIK VOK BEBBKRS VOLKSLIBDERK 46^
sung einen adaequaten ausdruck gefunden hatte, nachträglich dem publi-
knm vorgelegt haben.
Jener aufeatz aber , mit dessen Inhalt der jüngere Herder die Zueig-
nung in Zusammenhang bringt , oder wenigstens ein aufsatz gleicher ten-
denz war schon von Herder selbst veröffentlicht (Adrastea V, 274 — 77.
287 — 92) als fortsetzung des eben angeführten prosastücks, und in dem-
selben heisst es s. 275: „In Deutschland wagte man im jähr 1778, 1779
zwei samlungen Volkslieder verschiedener sprachen und Völker herauszu-
geben; wie verkehrt die aufnähme sein würde, sah der samler , vorher.
Da er indess seine absieht nicht ganz verfehlt hat, so bereitet er seit
Jahren eine palingenisierte samlung solcher gesänge, vermehrt, nach län-
deiTi, Zeiten, sprachen, nationen geordnet und aus ihnen erklärt als eine
lebendige Stimme der Völker, ja der menschheit selbst vor, wie sie
in allerlei zuständen sich mild und grausam, frölich und traurig, scherz-
haft und ernst, hie und da hören liess, allenthalben aber für uns
belehrend."
Wir entdecken in dieser äusserung grund und anlass zu allen den
durchgreifenden änderungen der MüUerschen redaction. Widerholt fin-
den wir zur motivierung der änderungen, welche die herausgeber der
Herderschen werke für notwendig erachteten, die angäbe, dass Herder
selbst eine neue redaction beabsichtigt habe, und dass man Herders
Intentionen, so weit es tunlich sei, ausfQhren wolle. ^ Wenn aber die
herausgeber in dem gi'undsatze einig waren, nicht mit kritischer treue
die Originalausgabe aufzunehmen, sondern mit rücksicht auf die Schick-
sale der einzelnen werke (ihre aufnähme beim publicum , ihre bekämpfung
durch die kritiker) eine teilweis neue und verbesserte gestalt herzustel-
len: so muste dieser grundsatz um so ausgedehnter wirken, wenn ein
plan zur neugestaltung von dem autor selbst überliefert war.
Der vorarbeiten zu der ausgäbe der Volkslieder unterzog sich bald
nach Herders tode sein ältester söhn, der „den poetischen teil" unter
der beihilfe Knebels (Knebels Literarischer NachlassH, 353) und seiner
mutter, einer ffir beui-teilung und anordnung poetischer stücke mit fei-
nem Verständnis und geschick ausgestatteten frau,* för die gesamtaus-
1) Von und an Herder HI, 335. (br. 5), 337. (br. 9), 341. (br. 13), 348. (br.29).
Vorrede Heynes zu den Fragmenten und den Krit. Wäldern, Johann Georg Müllers
zu der Ältesten Urkunde und zur Metakritik. Die i)läno zu durchgreifenden ände-
rungen wurden aber meistens aufgegeben und man begnügte sich mit einzelnen ände-
rungen. Am tiefsten gehen die änderungen in den Kritischen Wäldern, die um ein
drittel verkürzt sind.
2) Ihr werk ist zum grossen teil die anordnung der gedichte in den Zerstreu-
ten Blättern (Vorrede der II. samlung. 1785. s. Ul). Knebels Lit. Nachl. II, 236.
Hamanns Schriften VII, 262. 271. Herders Reise nach Italien (1859) s. 61.
30*
464 SÜPHAN
gäbe besorgen wollte. Seine arbeiten gelangten indess zu keinem abschlnss;
er starb (mai 1806), ehe es zur sichtung sämtlicher poetischer werke
crekommcn war, die noch einen erheblichen zuschuss zu dem mateiial
der neuen aufläge geliefert haben wurde. Wahrscheinlich aber hatte er
oder Caroline Herder, die mit Herders planen genau vertraut, und, so
weit es ihre fahigkeiten gestatteten, unermüdlich für die neue ausgäbe
tätig war, schon eine Zusammenstellung der vorhandenen gedichte nach
den von Herder angegebenen kategorien begonnen, als J. v. Müller die
ausführung der redaction übernahm. An mancherlei unrichtigem und
willkürlichem ^ in der anordnung möchte man eher einen samler von
weniger tiefer gelchrsamkeit als J. v. Müller erkennen; wahrscheinlich
hat also Müller, der über Herders plan sich aus nachrichten Caroline
Horders unterrichtet hat,* sich mit der vorgelegten anordnung im gan-
zen begnügt, und nach leichter revision nur einzelnes geändert; ähnlich
wie sein bruder Johann Georg bei herausgäbe der eigenen gedichte Her^
dcrs eine Vorarbeit Carolinens benutzte, an der er nur selten zu ändern
fand. (Vorrede des III. teils der W. z. seh. L.)
Zu dem handschriftlichen material, welches J. v. Müller zur Ver-
fügung stand , gehörte auch ein bändchen mit der aufschrift : Alte Volks-
lieder. I. Theil. Englisch und Deutsch. Altenburg 177(3)4.3 „Vielleicht
ists Ihnen nicht uninteressant zu sehen, wie der vater die nachmalige
ausgäbe verändert hat," schrieb Caroline Herder bei der Sendung, um
dem gelehrten freunde einen wink in betreif der anordnmig, für die er
sich zu entscheiden hatte, zu geben. Schon Gervinus (IV, 430) erwähnt
(wahrscheinlich nach einer stelle in den briefen an Merck, s. 56), dass
Herder im jähre 1774 beabsichtigt habe die Volkslieder herauszugeben;
ausreichenden aufschluss darüber gewährte erst die von Düntzer veröf-
fentlichte correspondenz Herders mit seinem Verleger Hartknoch. (Von
und an Herder II). Im September 1773 bereits stellte Herder seinem
Verleger „ein bändchen alte Volkslieder, englische und deutsche, jene,
versteht sich, übersetzt" zur Verfügung (Von und an Herder II, 45).
Nachdem indes der anfang des druckes sich bis in den sommer des fol-
genden Jahres hinein verzögert hatte, ^ zog Herder im december das
manuscript zurück. Über die gründe persönlicher art enthält der brief-
1) Eine „böhmische gcschichte*' steht unter den „Deutschen liedcm" (B. V.
N. 32); die Morlakenliedcr bilden den schluss der „Lieder aus dem hohen nord*'
(B. I. 21 - 24) u. a.
2) In der Vorerinnerung wenigstens druckt er sich unbestimter ans als Her-
der in der Adrastea.
3) Die 3 in der jahrzahl hat Herder selbst ausgestrichen und eine 4 darüber
geschrieben.
4) Dies ist der grund der Veränderung der Jahreszahl auf dem titeL
ZTJB TBXTKBITIK VON HBBDEBS VOLKSLIEDEBN 465
Wechsel das nähere.^ Zusamt dem druckfertigen manuscript ist auch
der erste druckbogen erhalten, über den hinaus der druck nicht vorge-
rückt ist.* Dieser enthält: I. Lied vom jungen Grafen, II. Die schöne
Kosemunde. Es begann also diese redaction genau wie die vom jähre
1778. Die redaction von 1774 bringt aber vor jedem der beiden Heder
eine kurze Vorbemerkung und bei dem zweiten liede den englischen text
vollständig neben dem deutschen. Dasselbe verfahren (wie es der zuerst
angeführte brief angibt) ist bei allen aus dem englischen übersetzten
Volksliedern in dem bändchen eingehalten.
Dieser erste teil zerfällt in vier bücher ; jedes buch hat eine eigene
vorrede. I. Buch. Englisch und Deutsch, n. Buch. Lieder aus Shake-
spear. Vorrede : Wäre Shakespear unübersetzbar ? III. Buch. Englisch
und Deutsch. Vorrede: Von Ähnlichkeit der mittlem Engli-
schen und Deutschen Dichtkunst. IV. Buch. Nordische Lie-
der. Vorrede: Ausweg zu Liedern fremder Völker.
Also schon hier ist eine gliederung nach ethnographischem princip
versucht Dass dabei englisch und deutsch als äste eines Stammes
betrachtet und gemeinsam aufgeführt werden, rechtfertigt Herder eben
in der vorrede des dritten buchs. Geschickt sind die lieder der nor-
dischen Völker (von „hohem nord," einem wunderlichen begriflf, weiss
Herder nichts) den englisch -deutschen als bindeglied für die lieder fernerer
Völker angereiht. Die Ordnung also, die für die palingenisierte samlung
in aussieht genommen war, war die ursprünglich beabsichtigte. Da es
Herder — aus einem gründe, den wir unten ermitteln wollen — für
rätlich hielt, diese Ordnung für die ausgäbe von 1778 nicht beizubehal-
ten, so veröffentlichte er eben die vorrede des dritten buches abgeson-
dert im Deutschen Museum von 1777 (november. II, 421 — 434, vergL
Von und an Herder I, 51). Die Überschrift hat hier den zusatz erhal-
ten: „nebst verschiedenem, das daraus folget,** und die anläge wie der
ausdruck des ganzen aufsatzes zeigt deutlich genug, dass er aus einem
organischen zusammenhange herausgerissen \m\ in den jähren des Stur-
mes und dranges geschrieben ist. In diesem programm^ erklärt sich
Herder über methode und zweck seiner samlung folgender massen. „Eine
1) Von und an Herder H, 45 — 47. 50—52. 57. 60. 65. 69. 70 fg. Brief 48
gehört vor nr. 46.
2) Schon im februar 1774 schreibt Herder , dass er sein manuscript auf kurze
zeit zurückgenommen habe , „ wegen der grässlichen druckfehler . . . auf dem ei^fen
.. zugeschickten bogen** (52). Im juni: „Die VL. lasse mir zurückkommen; ich
muss noch ändern und den druckfehlem vorkommen; sonst ists ein greuel."
3) Am Schlüsse des aufsatzes steht eine von Boie verfasste (B signiert) empfeh-
lende hinweisung auf eine „ ganze samlung solcher Volkslieder ... die bald . . -
erscheinen wird."
466 SUFHAN
kleine samlung solcher lieder aus dem munde eines jeden volks, ober
die vornehmsten gegenstände und handlungen ihres lebens, in eigner
spräche (I), zugleich gehörig verstanden (11), erklärt (EU), mit masdk
begleitet (IV) : wie würde es die artikel beleben . . . von denkart and
Sitten der nation! von ihrer Wissenschaft und spräche! von spiel nnd
tanz, musik und götterlehie!'' Mythologie, fahrt Herder fort, geschichts-
und Sprachforschung würden hieraus am meisten nutzen ziehen. Als
erfordernis der samlung führt er noch einmal auf: (I) Ursprache • . . mit
(11) genügsamer erklärung (uiigeschimpft und unverspottet, so -wie unver-
scliönt und unveredelt) * wo möglich (HI) mit gosangweise und (IV als
culturhistorische zugäbe) „alles, was zum leben des volks gehört"*
Dem ideal einer volksliedersamlung, welches hierin aufgestellt war,
steht die bearbeitung von 1773 viel näher, als die ausgäbe von 1778,
und aus einzelnen belegen lässt sich erkennen, dass Herder bei einer
^späteren ausga))e es versucht haben würde, sich diesem ideal widenun
möglichst anzunähern; an eine in allen vier kategorien vollständige lei-
stung liess sich freilich im jähre 1803 fast ebenso wenig denkejn als im
jähre 1773. Auf den ersten punkt z. b., dessen notwendigkeit Herder
sich schon bei der früliesten aufnähme seines planes, in Königsberg 1764,'
klar gemacht hatte, scheint er auch für die letzte redaction geachtet za
haben.* Wir finden den Originaltext der Übersetzung vorangestellt nicht
nur in dem sicilianischen schiiferliede , das Müller aufgenonunen hat
(W. VII, 152, Stimmen d. V. 1846 s. 144), sondern auch bei der ersten
1) Hier begreift punkt II » was oben in II und III aus einander gehalten ist.
2) Diese letzte fordoruug formuliert Herder später (in dem oben angeführten
aufsatzo der Adrastea) : ,, die lieder sollen aus länderu , zeiten , sprachen , uationen
erklärt sein."
3) „Frühe ficng ich an, zu einer geschichte des lyrischen gcsanges zu sani-
len und vorschmähete nichts, was dazu diente. Auch dieser zweig (volkBÜeder)
gehörte dazu ../' berichtet Herder. VL. II, 314. Sanüungcn und erster entwnrf
zu dieser schrift sind in dem jalirc 17G4 gemacht. (Herders Lebensbild I, 3, 1, s. XV.
()1 fgg.). Eins von den gesammelten stücken veröffentlichte Herder in den Königs-
bcrgschen Gelehrten und Politischen Zeitungen von 17G4. (Stück 37 s. 146) mit einer
kurzen einleitenden bemerkung als „Beitrag zu unbekanten anakrcontischen gesän-
gen noch roher Völker/* Es ist das aus Kelchs Liefländischer Kriegs- und Friedens-
goschichto entnommene esthnische lied ,,Jörru/' Zuerst der Originaltext widergege-
ben, darunter „Eine alte deutsche Übersetzung" (paraphrase) , die Herder bei seiner
Hp|teren eigenen Übersetzung (Volkslieder II , 84. vgl. s. 83) benutzt hat. Auch zu
dem „Litthauischen Brantliedo" (V. L. II, 104) kent Herder ,,eine schöne umschmel-
zung nach dem sylbenmasso eines alten deutschon liedes/' aus der zeitscbrift „Der
Hypochondrist** (s. 304).
4) In der ausgäbe von 1778 ist der Originaltext (ohne Übersetzung) nur bei
einem liede (II, 35.) gegeben.
ZUB TBXTKBITIK VO» BXBi>£RS VOLKSLIEDE&N 467
publication des siciUanischen liedchens „Sage, sag' o kleine biene'' in
der Adrastea IV, 254 fgg. , das MfiUer nicht von dieser stelle (sonst
hätte er auch den italienischen text mit hinüber genommen), sondern
nach einer abschrift hat drucken lassen. Wahrscheinlich indessen gedachte
Herder nur dann, wenn der Originalausdruck dem höher gebildeten ver-
ständlich war, sein princip vollständig in anwendung zu bringen; bei ent-
legenen sprachen würde er sich mit sprachproben begnügt haben, etwas
ausführlicher als die vor dem zweiten buche des zweiten teils gegebenen
(s. 83 - 95).
Die dritte Forderung — beifugung der gesangweise — hat Herder
in der ausgäbe von 1778 in so weit berücksichtigt, als er möglichst oft
den Charakter der melodie in kurzem ausdruck beschreibt. Hätte er
selbst eine neue ausgäbe veranstaltet, so wäre wahrscheinlich häufiger
die weit angemessenere beifugung der melodie in musiknoten zur anwen-
dung gekommen.^ In den „Stimmen der Völker" zeigt eins von den
neu aufgenommenen liedern, das sicilianische scbifferlied, die neue, voll-
'konminere methode. Freilich nimt es sich nun als das einzige seiner art
sonderbar genug unter den übrigen aus. Fand oder suchte Müller nicht
mehr proben dieser neuen methode, so hätte er wenigstens nicht unter-
lassen dürfen bei den neu aufgenommenen liedern die ältere methode da,
wo Herder ihr treu geblieben war, beizubehalten. Dem aber hat er »ich
entzogen. Das neunzehnte der „lieder aus dem hohen nord," „klage
um eine gestorbene braut, ein tartarisches lied" hat Herder selbst
in der VI. samlung der Zerstreuten Blätter (1797) s. 192 fg. bekant
gemacht als ein lied der Eamtschadalen.^ Er bemerkt dabei: „Von der
ente Aanguisch, einem singenden seevogel, der sich in grossen schaaren
auf ihren gewässern versamlet und die accorde c, e, g und c, f, a in
chören anstimt, haben sie die musik erlernt; nach seinem ton machen
sie Aanguischlieder. So z. b. klagt der liebende über seine gestorbene
braut , die er jetzt in einen solchen singevogel verwandelt glaubt . . ." ^
Hierauf folgt das lied. Bei Müller fehlt die bemerkung.
1) Auf die beigäbe der noten legte Herder schon früh wert. (Aus Herders
Nachlassl, 29).
2) Jedenfalls hat Müller auch hier nur eine abschrift benutzt und der ange-
führten stelle nachzuspüren unterlassen. An dieser lautet die erste zeile:
Auf den blanken see bist du gefallen.
Bei Müller: „Auf dem . . see." Letzteres ist eine übel angebrachte correctur Müllers.
3) In den St. d. V. hat das lied die kurze bemerkung erhalten: ,,Sie glauben,
dass die verstorbeneu see-enten würden; darauf beruhet die idee des liedes." Die
aUgemeine bemerkung aber, die Herder s. 192 über die unterweltsvorstellungen der
Kamtschadalen (Itälmenen) machte ergibt etwas andres: die ente ist eins von den
468 SUFHAN
Audi in dem zuletzt angegebenen punkte würde Herders neue aus-
gäbe nach dem aufgestellten kanon sich gerichtet haben, und gerade in
dieser richtung scheint Herder in den letzten jähren für seinen plan tätig
gewesen zu sein. Die oben genanten aufsätze (s. 462 fg.) „über das deut-
sche Volkslied und den Charakter der Deutschen'^ sind in diesem sinne
geschrieben; so auch der aufsatz „Romanze" (Adrastea V, 243 — 263),*
und die „Gemähide aus der Preussischen Geschichte" (Adrastea III,
106 fgg.), die (s. 110 — 112) über Volkslieder und volkscharakter in der
provinz Preussen schöne und durch die folgezeit köstlich bestätigte bemer-
kungen enthalten.
Für einen herausgeber also, der auf neugestaltung und neue aus-
stattung nach des autors absiebten ausgieng und darin seinen hauptsäch-
lichen beruf sah, fehlte es weder an antrieb noch an material. Müller
ordnete nach massgabe des manuscripts von 1773 die widervereinigong
des aufsatzes über die mittlere englische und deutsche dichtung mit der
samlung der Volkslieder an und sah sich zur annähme der neuen anord-
nung ermächtigt. Die ausführung ist freilich oberflächlich genug; sie
hält sich nicht einmal genau an Herders einzelne angaben. Im dritten
buche sind als „nordwestliche lieder" gerade diejenigen vereinigt, die
Herder hatte trennen wollen, nämlich gälische und englische lieder
(D. Mus. 1777. n. 421. Von Deutscher Art und Kunst s. 17): englische
und deutsche lieder wurden dagegen wider getrennt Die sonderbare
Zusammenordnung der Völker nach himmelsgegenden,^ die der heraus-
geber beim sechsten buche * als unpraktisch wider verwerfen muste , war
ein sehr dürftiger ersatz für die von Herder beabsichtigte „Ordnung nach
ländern, zeiten, sprachen, nationen.'i Überhaupt aber war eine neue
Ordnung ohne Vermehrung des poetischen bestandes der samlung ein arger
misgriff und nichts weniger als eine besserung der ersten ausgäbe.
Mit gutem gründe hatte Herder 1778 die schon ethnologisch geord-
nete samlung aufgelöst und sich zu einer nicht mühelosen (Von und an
Herder I, 51. 53) neuen anordnung bequemt Sein material war noch
ticren, in welche die seelen der verstorbenen übergehen. Die bemcrkung mag mit
der fehlerhaften Verkürzung von demjenigen, der das lied für den herausgeber abschrieb,
zugesetzt sein.
1) Dieser aufsatz schliesst sich an die s. 167 — 240 veröffentlichte Übersetzung
der ersten zweiundzwanzig Cidromanzen an (vgl. s. 275).
2) Die kategoricn „lieder aus dem hohen nord/* ,,nordwestlicfae/' „südliche"
sind eine ungeschickte nachbildung der misverstandenen aufschrift des vierten buchea
der samlung von 1773.
3) Die Madagassen , die hier als „Wilde '' in einem besondern bezirk abgezäunt
sind , verdienen nach Herder diesen namen nicht mehr als die Grönländer, die Sohot-
ten, die Letten usw.
ZUB TEXTKRITIK VON HBBDBBS VOLKSLISDEBK 469
m
viel zu dürftig, als dass es auch nur in bescheidenem massstabe zu einer
„karte der menschheit" ausgereicht hatte, zu einem werke, wo „die
Völker sich selbst schilderten, wie naturgeschichte kräuter und thiere
beschreibt." (D. Mus. a. a. o. 432). Herder verstand es aus der not
eine tugend und durch die neue anordnung sein werk einem zwecke
dienstbar zu machen, der ihm nicht minder am herzen lag als der cul-
turhistorische , der hebung vaterländischer poesie. Dieser zweck trat somit
in den Vordergrund. (VL. II, 27. 28. 313. 314). Sollte die samlung
hauptsächlich ästhetisch anregend wirken, so muste auch ihrem bau ein
ästhetisches gesetz zu gründe gelegt werden. Verbindung des in Stim-
mung und Wirkung gleichartigen, geschicktes überleiten von gegensatz
zu gegensatz , auf ausgleichung und läuterung der geffihle berechnet , ist
die kunst des Ordners , der , selbst mit hoher feinheit des gefuhls begabt,
durch den sicheren tact einer kunstsinnigen gehilfin unterstützt ward.
Um ein lied, in dem sich der höchste grad einer empfindung darstellt,
sind lieder verwanter stinmiung gruppiert; bisweilen folgt, wenn in einem
liede schon die woge des gefähls , der leidenschaft den höhepunkt erreicht
hat, sofort der ausgleichende, beschwichtigende gegenschlag. Sorgsam
abgewogen ist nach diesem grundsatz auch der Inhalt der einander fol-
genden bücher , was besonders deutlich sich am ersten und zweiten buche
des ersten teils beobachten lässt. Nur spärlich und wo sich von selbst
die gelegenheit bot, ist auf den andern zweck, vergleichung der „ab-
drücke der seele der nationen " ^ und damit beobachtung des volkscha-
rakters, rücksicht genommen.
Die gewählte anordnung steht also im engsten zusanmienhange mit
wesen und aufgäbe der samlung, und da diese von ihrem erscheinen an
nicht anders aufgefasst worden ist, denn als aufruf zu einer Verjüngung
der nationalen poesie, und diese ästhetische und poetische mission auch
über die periode, für die sie bestimtwar, hinaus zu erfüllen wol geeig-
net ist, so hätte Müller, der den inhalt nicht wesentlich erweitern konte
oder wollte, bedenken tragen sollen die form zu ändern. Denn schon
in dieser form lag ein unveräusserlicher wert. Ein gleiches gesetz der
anordnung, hervorgegangen aus der beobachtung, dass „aus Vereinigung
des entgegengesetzten die schönsten Wirkungen folgen," hat Herder in
den Zerstreuten Blättern befolgt; Goethe wollte diese deshalb „besser
, gesammelte' Blätter nennen" und Hess sich diese samlungen „zur Stel-
lung (seiner eigenen) verschiedenen kleinen gedichte zum muster dienen."
(Ital. Reise. An Herder 5. oct. 1787. 1. märz 1788). Über die anord-
1) Herder rät (II, 318), der leser soUe „jedes stück an seiner stelle und ort
betrachten , es als das ansehen , was es för sich ist nnd sein soll , also auch nicht in
einem fort lesen noch sich schwindelnd ans Völkern in Völker werfen/'
470 8DPHAN
nimg der Goethischen gedichte lässt sich aber nach Danzels urteil man-
che gute bemerkong machen, es hätte eben so wenig dem sinnigen leser
von Herders eigenen und übertragenen gedichten verwehrt bleiben sol-
len, an der aufreihung der bluten zum kränze die kunstgeübte band za
beobachten.
Ganz anders, wenn Herder selbst in späteren jähren seinen plan
ausgeführt hätte. Lebhaft genug hat ihm der erste zweck seiner sam-
lungen vor äugen gestanden« „Weit vor ihm, im schooss der blauen
Thetis, schwimme sein eigentliches eiland vor ihm,'' sagt er in dem
nachworte des zweiten teils (U, 315), und das programm der neuen aus-
gäbe knüpft hieran an, indem hervorgehoben wird, dass mit der ersten
der samler „seine absieht nicht ganz verfehlt habe.'' Die neue ausgäbe
solle also eine „vermehrte'^ sein; erst nach diesem prädicate wird von
der umordnung geredet Um Vermehrung des materials hat sich Herder
schon, als er noch an der ersten ausgäbe arbeitete, bemüht. Auswär-
tige freunde waren für ihn tätig, ^ er selbst sammelte etliches in Italien,
und hat später eifrig aus reisebeschreibungen und andern werken, selbst
aus handschriftlichem material zusammengetragen. Einiges von dem
gesanmielten ist in den Zerstreuten Blättern und der Adrastea zum Vor-
schein gekommen.^ Wie viel von diesen samlungen Müller bei sorgfäl-
tiger nachlese und durchsieht hätte veröffentlichen können, entzieht sich.
unserer beurteilung , das aber können wir mit Sicherheit feststellen , dass
er mit der neuen anordnung seine absieht, etwas voUkoummeres als die
erste leistung des autors darzubieten, verfehlt hat.
Auch den neuen titel der samlung scheint Müller, indem er mis-
verständlich Herders absiebten ausführte, eingeschwärzt zu haben. Er
fand den geschmückten ausdruck „stimme des volks" für „Volksdich-
tung" schon in dem aufsatze über die mittlere englische und deutsche
dichtung von Herder gebraucht. Als vorzug der englischen poesie führt
1) Von und an Herder II , 84. Lessings Briefe (B. XII der Lachm. aasg.)
8. 521. Auch Goethe, der schon 1771 för Herder sammelt, (Aus Herders Nachlass I,
29. 153 fgg.) ist auf der italienisclien reise in Herders interesse auf samlung von
Volksliedern bedacht.
2) Zerstr. Bl. V, 167 fgg. s 240 anmerk. Von der hier erwähnten „samlimg
der meistersängersprüche'* hat Müller (Buch V. 27. :^8) nur einige aufgenommen.
Goethe hat diese samlung von Herder im sommcr 1788 zum durchlesen erhalten.
(Herders Reise nach Italien s. 35. Aus Herders Nachl. I, 95.). Adrastea IV, 89.
(Grönländisches lied), 261 — 270 (mittelhochdeutsche poesie). Müller scheint in kei-
ner der gedruckten schrifton nachgeforscht zu haben. — Dem gleichen oultarhisto-
rischen zwecke als die samlung der Volkslieder sollte auch eine samlung der „ reinen
naturfaheln . .. aus allen nationcn und sprachen" dienen, die Herder (2<er8tr.Bl. III,
172) veranstaltet zu sehen wünscht.
ZUB TEXTKSITIK VON HBBDBBS V0LK8LIEDBBN 471
Herder an, sie sei „national geworden; stimme des volks ist genuzet
und geschäzt^^ (D. Mus. a. a. o. 428); die deutschen stamme fragt er:
„die stimme eurer väter ist verklungen und schweigt im staube?*^ (430).
In der vorrede des zweiten teils der Volkslieder (s. 11 fg.) heisst es von
Deutschland: „Hie und da hat sich eine stimme des volks, ein lied, ein
sprüchwort, ein reim gerettet," und s. 27: „die deutsche harfe war von
jeher dumpf, und die volksstimmen niedrig und wenig lebendig/' So
heisst es nun auch in der „Zueignung der Volkslieder^*:
„Euch^ weih' ich die stinune des volks,* der zerstreueten menschheit,**
und denselben ausdruck gebraucht Herder mit leichter änderung in dem
aufsatze , der (s. 463) paraphrasierend den Inhalt der poetischen dedica-
tion widergibt: „eine lebendige sünune der Völker,^ ja der menschheit
selbst.'* Es liegt nahe anzunehmen, dass Müller, oder wahrscheinlich
schon Caroline Herder,^ die dann jenem die beobachtung mitteilte, in
den angefahrten stellen den ütel der neuen ausgäbe entdeckt zu haben
glaubte. Indessen schwerlich hätte Herder den titel der neuen ausgäbe
verändert, um einen titel einzufahren, den er schon 1778 far untaug-
lich gehalten hat. Die ütel der Herderschen Schriften sind fast alle
einfach und prunklos; dagegen liebt es Herder auch sonst mit
einem geschmückteren ausdruck auf den titel anderwärts anzuspielen.
Die Übertragung des Hohen Liedes hat Herder gleichzeitig mit dem
ersten teile der Volkslieder herausgegeben unter dem titel: „Lieder der
Liebe. Die ältesten und schönsten aus dem Morgenlande." In der Adra-
stea (UI>»329) erwähnt er das gedieht und anspielend sein buch. „Die
Salomonischen lieder (das Hohe Lied genant) sind ein concert wechseln-
der und doch gebundener stimmen der liebe. In Ordnung gestellt wür-
den diese stimmen ein frühlingsfest, ein nachtigallenconcert geben, wie
es der Orient in tönen und gesängen liebte." Nicht anders verhält es
sich jedenfalls mit dem ausdruck „ stinune des volks ," „ stinmie der völ-
1) Angeredet sind die strafenden raehegottinnen.
2) Das durch den sinn erforderte konuna (vgl. die dem texte folgende pro-
saische paraUelstelle) steht richtig im ersten dmcke (Ädrastea); Müller hat es aus-
gelassen.
3) „Volksstimme , Gottesstimme hiess es einst" begint der aufsatz von dem
ethischen werte des Volksliedes , Ädrastea V. 287 fgg. Herder hat den ausdruck aus
Luthers Bibelübersetzung (z. b. I. Sam. 8, 7).
4) Man findet viele Herder eigentümliche ausdrücke in ihren briefen wider.
„Dem vater waren seine gedichte stimme gottes" (Von und an Herder 3, 343. br. 17.
febr. 1806). Die predigten Herders nent sie „ stimmen des himmels." (Ebendaselbst
s. 334. br. 3).
472 SÜPHAN
ker/' ^ Der ütel der gesamtausgabe „Stünmeu der Völker in liedern,
gesammelt usw/^ erfreut sich indessen eines bedauerlichen beifalls und es
wird Schwierigkeit haben ihn zu beseitigen.
Es zeigt sich also im kleinen wie im grossen , wie mislich der ver-
such, im sinne und nach Intentionen des autors zu ändern, ausgefallen
ist. Nicht glücklicher war Möller im Verständnis des Sinnes Herders,
indem er mehrere gedichte des unbedeutenden Inhalts^ oder der moral
wegen ^ ausliess. In betreff der letzteren hatte Herder ausdrucklich im
einzelnen falle seinen eigenen Standpunkt dem Inhalte gegenüber klar
gelegt (VL. n, 268 anmerk.); über den poetischen wert oder unwert
des textes eben so offen erklärt, dass nicht dieser vornehmlich, sondern
„ton und weise des liedes^^ über die aufiiahme zu entscheiden habe;'
„ist diese gelungen, klingt sie aus einer andern in unsre spräche rein
und gut über ; so wird sich in einem andern liede schon der Inhalt geben,
wenn auch kein wort des vorigen bliebe." (VL. H , 34 fgg.)
Wie Müller im einzelnen bei constituierung des prosaischen textes
verfahren ist, ist schon oben (s. 462) angegeben. Er stellte sich dabei
die aufgäbe, die auch die mitarbeiter an der gesamtausgabe im aage
behielten, die spuren der veraltung den äugen des neuen publicums,
welches für die gesamtausgabe gewonnen werden sollte, zu entziehen.
Daher wurden nicht nur alle veralteten ausdrücke, sondern auch alles
dasjenige entfernt, was an ephemere Streitfragen erinnerte. (Hejne in der
vorrede zu den Fragmenten. 1805. I, XXVI mit bezug auf die „ankün-
digung" der „sämtlichen Schriften.") Auch im texte der poetischen
stücke befinden sich mehrere, zum teil erhebliche abweichungen vom
Wortlaute der ersten ausgäbe. Auf diese näher einzugehen lohnt es sich
erst nach vorangegangener genauer vergleichung der handschriften , die
1) Zu beachten ist der collective gebrauch des singulars, eine eigentümlich-
keit der Herderschen diction. An Prediger s. 17. r)8. „ Die tradition wirkte Jahrtau-
sende . . . und söhn und enkel stand doch nicht da . . die gottcsstiinnie mit seinen
obem kräften zu prüfen. — AUe stimmen des wertes gottes . . zu welchen kraften
sprechen sie?'' Aelt. Urk. (1774) I, 20. „Die hibel ... die heilige stimme gottes aus
morgenlande." Teil IV Vorrede s. I. IV. Zur Rel. u. Theol. II, 132 (ausg. v. 1805).
2) C. Herder an G. Müller d. 26. juU 1807. „Bei der rovision der gedichte
beschwöre ich Sie nochmals, jedes zweifelhafte stück auszuscheiden^ Sie werden in
des vaters briefen aus Italien eine stelle ünden, wo er Goethe sehr tadelt, dass er
so viele stücke in die sämtUchen werke aufgenommen habe, die des druckes nicht
werth seien." (Von und an H. III, 345. Herders Reise nach Italien s. 273).
3) Allerdings ist auch der Verstoss gegen die moral schon für Herder in der
I. ausg. ein grund gewesen lieder abzuweisen (VL. U, 24 fgg.) wie die mehnahl
der von Goethe gesammelten elsässer lieder (Aus Herders Nachl. 1 , 154 fgg.) ; gerade
deswegen aber hätte Müller sich hüten soUen eins von denjenigen auszumerzen, die
Herder unbedenklich aufgenommen hatte.
ZTJB TBXTKBITIK VOH HESDEBS VOLKSLIEDERN 473
MüUer benutzt hat. In einer hinsieht hat er — soviel lässt sich schon
jetzt erkennen — sich um die bessere texl^estalt seiner ausgäbe nicht
eben verdient gemacht.
Wir haben mehrere male bemerkt, dass die von Müller neu auf-
genommenen lieder auch dann nach einer handschrift oder copie abge-
druckt sind, wenn schon eine von Herder selbst veranstaltete publica-
tion hätte benutzt werden sollen. Michael Bernays hat dieselbe beobach-
tung viel reichlicher an den übrigen poetischen werken Herders gemacht,
und weist auf diesen übelstand, durch den jene (epigramme und gedichte)
an vielen orten auf das traurigste entstellt sind, nachdrücklich hin.
(Grenzboten IV, 1869. anmerkk. s. 414 — 418). Eine auffallende Ver-
schiedenheit des MüUerschen textes von dem texte der ersten publica-
tion lässt sich bei einem der neu aufgenommenen lieder^ beobachten.
Das lied „ Balto's Sohn " (Buch II , 38) , eine freie Übersetzung eines fran-
zösischen Stückes, steht bereits als ein beitrag Herders in den Eönigs-
bergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen (1765. St. 75.).* Der
MüUersche text hat einige erhebliche kürzungen ^ erfahren , enthält einige
einschiebsei, und weicht in den meisten Zeilen von dem der Königsberger
1) Von einer vergleichung der lieder, die sich gemeinsam in den „Volkslie-
dern** nnd den „Stimmen d. V.** finden, sehen wir ab. Eine gewaltsame Umfor-
mung und kürzung, die unmöglich von Herder herrührt, zeigt in der neuen ausgäbe
das „Aennchen von Tharau** (B. V, 19) vgl. mit VL. I, 92. 319.
2) Titel: Der Vater, ein Mörder des Sohns, der Sohn, ein Vatermörder. Eine
Erzehlung. — Nach der anmerkung der gesamtausgabe tibersetzt aus Burigny th^ol.
payenne. Paris 1753.
1) Bei Müller heisst es von z. 13 an:
— da tbat in Einem beere,
Ein junger held sich, wie ein gott, hervor.
Auch unterm helme sprühte geist empor;
Trophäen von leichen sah man seine schritte messen,
In den Eon. Zeitt. :
— hier that im -feindesheere
Ein junger held sich, wie ein gott, hervor.
Aus seinen äugen sprühte geist empor.
Der auf den wangen, wo noch Jugend blühte
Mit heldenroth, so wie ein morgen glühte
Der auf der stime schalt, im arme wunder that.
Und vor ihm fiel der feind, wie saat,
Trophan von leichen usw.
Müller, z. 22: Der sieger, mitten in dem spiel
Des Sieges, kann den Jüngling nicht vergessen,
Der feldher, der ihn feind gefaUt,
Will kennen ihn, den er geföllt,
Und ehrenvoll begraben, einen held!
Man bringt ihn schon —
474 SüPHAN
Zeitungen ab. Einige von den ändernngen liessen sich allenMls ßlr bes-
serungen ansehen; bei den meisten ist kein grund der abweichung vom
ersten texte ersichtlich. Herder hat also den französischen text zweimal
zu übertragen versucht; die als weniger gelungen zurückgelegte Über-
setzung hat Müller nach beseitigung einiger veralteten ausdrücke ^ auf-
genommen.
Unter den poetischen werken Herders sind es die Volkslieder, die
in der gesamtausgabe die stärkste umarbeitmig erfahren haben ^ unter
den prosaischen die Kritischen Wälder.^ Jene sind daher auch am mei-
sten dazu angetan, im einzelnen die principien, denen die arbeiter an
der gesamtausgabe gefolgt sind, darzulegen. Sie nahmen gegenüber den
ihnen anvertrauten werken eine Stellung ein, die mehreren von ihnen
(Heyne, Wieland, Knebel) durch langjährigen Umgang mit dem autor
natürlich geworden war, die Stellung von freunden, die vom autor selbst
vor herausgäbe eines werkes um besserungsvorschläge angegangen wer-
den. Sie fahrten diese durch mit rücksicht auf die bedürfnisse eines publi-
cums von gebildeten laien, welches, von dem ersten publicum Herders
durch drei oder vier Jahrzehnte getrennt , noch einmal die werke mit dem
eindrucke der neuheit gemessen sollte. ♦
Nur an dem massstabe dieses Zweckes dürfen wir, wenn wir nicht
ungerecht sein wollen, ihre zum teil mit redlichem eifer durchgeführte
arbeit messen. An dem vorliegenden werke zeigt sich allerdings, dass
der herausgeber, auch nach seinen eigenen principien beurteilt, seiner
aufgäbe wenig genügt hat.
Eine andere frage ist es , ob eine nach solchen principien angelegte
ausgäbe den bedürfnissen unseres gelehrten und gebildeten publicums
In den Kon. Zeitt. :
Der feind, auch mitten in dem siegesspiel
Kann dieses Tyndariden nicht vergessen.
In ihn bezaubert weinet ihm der hcld,
Der ihn^ als feind, gefallt
Als menschenfreund die ehrenvolle zähre.
Wer held ist, sprach der alte Balto, höre!
Wenn so ein leichnam, der so edel fallt
Im tode sich zum niedern beer gesellt
Macht das uns siegem ehre?
Nein! kennen will ich ihn, defi ich gefällt,
Und ihn begraben, als ein held.
0 kommt —
Man bringt ihn schon.
1) Z. b. Müller z. 17 „wie einen dämon.'' Kon. Z. ,,wie einen satan." M.
z. 28 „entpanzert ihn.*' Kön. Z. „entlarvt, entpanzert ihn."
2) Siehe s. 463 anm. 1.
ZT7B TBXTKBltIK VON HBBDBB8 VOLKSLIBDEBN 4715
genüge. Verneint ist sie schon mit vollwichtigen gründen im namen der
wissenschafÜichen litterarhistoriker von Michael Bemays; es darf aber
auch eben so entschieden vom Standpunkte des gebildeten laien aus die
forderung einer neuen kritischen ansgabe erhoben werden. Die werke
Herders müssen mit historischem sinne gelesen werden; wer es nicht
verstände sich beim lesen auf den Standpunkt des ersten publicums zu*
rückzuversetzen , dem würden audi in der gestalt der „sämtlichen werke"
viele, vielleicht die meisten Schriften Herders ungeniessbar sein. Die
fähigkeit in historisdiem sinne zu lesen und zu verstehen wird aber um
so mehr gemeingut der gebildeten, je weiter die zeit der schöpferischen,
classischen periode hinter uns liegt. Je mehr aber diese fähigkeit sich
ausbildet, um so dringender wird das bedürftiis, die werke in ihrer histo-
risch allein berechtigten gestalt kennen zu lernen. Die änderungen der
herausgeber empfindet man als entstellungen , die Vorenthaltung des ori-
ginalen textes besonders in den poetischen werken als eine willkür-
liche Schädigung des wahren und schönen. Auch vom Standpunkte des
gebildeten lesers aus muss man Bemays beipflichten: „Keiner unserer
grossen autoren ist einer kritischen widerherstellung so bedürftig, wie
Herder ; keiner hat durch eine solche widerherstellung so viel zu gewin-
nen, wie er."
Schon Johannes Falk , wol erfahren in der kunst misratenes in Ord-
nung und geschick zu bringen, hat die mängel der Müllerschen ausgäbe
erkant und ist zu anordnung und text der Originalausgabe zurückgekehrt.
Eine neue kritische ausgäbe würde auch dem anhange die ursprüngliche
form zu wahren haben. Die von Müller aufgenommenen und die unge-
hörig unter Herders eigene gedichte eingereihten Volkslieder , endlich ein
Verzeichnis der unter Herders übrigen Schriften verstreuten volkspoesie
müste in einem nachtrage zu finden sein.
BERLIN, SEPTEMBER 1871. B. 8ÜPHAN.
GOETHIANA.
I.
In seinen dankenswerten mitteilungen über das Tiefurter Journal
in nr. 34 der diesjährigen Grenzboten hat herr archivar Burkhardt das
„Todeslied eines Gefangenen" aus dem 88. stücke des genanten
Journals zum ersten mal durch den änxck bekant gemacht und zwar als
ein Goetheschcs gedieht. Herr dr. Burkhardt hat nämlich unter
andern im nachlasse der herzogin Anna Amalia befindlichen originalcon-
476 REINHOLD KÖHLEB
cepten von beitragen für das Tiefurter Journal auch ein blatt gefunden»
auf welchem von Goethes eigner hand geschrieben dieses and
ein in demselben stücke des Journals erschienenes „Liebeslied eines
amerikanischen Wilden" stehen. Letzteres lied hat herr dr. Burk-
hardt nicht abdrucken lassen , mir aber auf meine bitte abschriftlich mit-
zuteilen die gute gehabt.
Goethe hat diese beiden lieder zwei brasilianischen liederfragmen-
ten nachgebildet, welche Michel Montaigne im 30. capitel des 1. buches
seiner „Essais," welches „De Cannibales" überschrieben ist und von den
wilden Brasiliens handelt, in französischer prosa mitgeteilt hat
„ Tay une cJianson " — sagt Montaigne — „faicte par un prison-
nier, oü il y a ce traixi: Qu'üs viennent liardiment trestous, et s'os-
semblent pour disner de luy^ aar üs niangeront quant et quant leurs
per es et letirs ayetdx, qui ont servy d'aiiment et de nourriture ä son
Corps: ces musdes^ dit-il, cette chair et ces veines, ce sont les vostres,
pativres fols que vous estes: vous ne recognoissez pas que la substance
des mernfyp'es de vos ancestres s'y tient encore: savonrez-les bien, vtms y
trouverez le gmist de vostre propre chair."
Und weiter unten sagt Montaigne : „ Chäre celuy [traict] que je vien
de reciter de Vune de leurs chansons yuerriereSj fen ay une autre amou-
reuse, qui commence en ce sens: Couleuvre^ arreste-toy, arreste-'toy,
couleuvre, afin que ma soeur tire stir le pairon de ta peinturCy la fagan
et Vouvrage düun riche cordon , que je puisse donner ä nCamie: ainsi
soit en tout temps ta beaute et ta disposüion preferee ä tous les autres
serpens"
In der zu Leipzig 1753 — 54 erschienenen Übersetzung der „Ver-
suche" Montaignes von Job. Dan. Titius sind diese stellen so übersetzt:
Ich habe einen Gesangs welchen ein Gefangener verfertiget hat»
in welchem diese Stelle vorkömmt. „Sie sollten nur alle kühnlich kom-
men, und sich versammeln um von ihm zu schmausen. Sie würden zu-
gleich auch ihre Väter und Großväter mitfressen, die seinem Leibe zur
Nahrung und Speise gedient hätten. Diese Muskeln, sagt er, dieses
Fleisch, und diese Adern, sind von euch, ihr Narren. Ihr wißt nicht
daß das beste von eurer Vorfahren Gliedern noch darinnen ist Kostet
sie nur recht : ihr werdet euer eigen Fleisch schmecken." (Th. 1, s. 383.)
Außer dem gedachten Kriegsliede habe ich noch ein Liebeslied
von ihrer Art, welches sich so anfängt „Schlange, warte, warte,
Schlange, damit mir meine Schwester nach der Zeichnung deiner Haut
ein schönes Band für meine Liebste machen kann. So mag deine Schön-
heit und deine Bildung der Schönheit aller andern Schlangen vorgezogen
werden." (Th. 1, s. 385.)
GOBTHIANA 477
%
Man vergleiche nun Goethes bearbeitungen.
Todeslied eines Gefangenen.
Ko7nmt nur hühnlich, kommt nur alle
TJnd versammdt euch zum Schmause,
Denn ihr werdet mich mit Dräuen,
Mich mit Hoffnung nimmer heugen.
Seht, hier hin ich, hin gefangen,
Aber noch nicht iiberwunden.
Kommt, verzehret meine Glieder
Und versehrt zugleich mit ihnen
Eure Ahnherrn, eure Väter,
Die zur Speise mir geworden.
Dieses Fleisch, das ich euch reiche,
Ist, ihr Thoren, euer eignes,
Und in meinen innern Knochen
Stickt das Mark von euren Ahnherrn,
Kommt nur, kommt, mit jedem Bisse
Kann sie euer Gaumen schmecken.
Namentlich die beiden ersten Zeilen scheinen mir entschieden für
die benutzung der Übersetzung von Titius zu sprechen. Zeile 3—6 sind
von Goethe eingeschoben und durch folgende , einige selten vorher stehende
Worte Montaignes über jene wilden veranlasst, die ich nach jener Über-
setzung (th. 1, s. 379f.) hier folgen lasse: „Sie verlangen von ihren Gefan-
genen weiter keine andere Auslösung, als das Geständnis daß sie über-
wunden sind. Allein unter allen findet sich in einem Jahrhunderte kein
einziger, der nicht lieber das Leben einbüssen, als nui* mit einem ein-
zigen Worte etwas von seinem unüberwindlichen Muthe nachgeben wollte.
Man findet keinen einzigen, der sich nicht lieber ermorden und fressen
lassen, als dieses verbitten wollte. Sie verstatten ihnen alle Freyheit,
damit ihnen das Leben desto lieber seyn soll; und drohen ihnen gemei-
niglich öfters mit ihrem zukünftigen Tode. Sie stellen ihnen vor was
für Martern sie dabey aus zu stehen haben, was für Anstalten man dazu
macht, wie sie zerfleischet werden sollen, und was für einen Schmaus
man auf ihre Unkosten halten wird. Alles dieses geschieht bloß in der
Absicht , um ihnen ein verzagtes oder kleinmüthiges Wort ab zu locken,
oder ihnen Lust zur Flucht zu machen: um den Vortheil zu erlangen
daß sie dieselben in Furcht geiagt, und ihre Standhaftigkeit zu Boden
geschlagen."
Wenden wir uns nun zu dem liebeslied. Es lautet in Goethes
bearbeitung im Tiefurter Journal also:
ZEITSCHR. P. DEUTSCHE PHILOLOQIR. BD. III. 31
478 BEINHOLD KÖHLER
Liebeslied eiues amerikanischen Wilden.
Schlange warte, warte Schlange,
Daß nach deinen schönen Farben,
Nach der Zeichnung deiner Ringe,
Meine Schwester Band und Gürtel
Mir für fneinc Liebste flechte.
Deine Schönheit, deine Bildung
Wird vor allen andern Schlangen
Herrlich dann gepriesen werden.
Hiev ist die abhängigkeit von der Montaigne -Übersetzung vonTitius
noch stärker als bei dem ersten liede.
Eine bearbeitung desselben liedes findet sich auch in Goethes Zeit-
schrift „Über Kunst und Alterthum," band V, heft3, s. 130, worauf
herr dr. Bnrkhardt nicht verfehlt hat hinzuweisen.
Brasilianisch.
Schlange^ halte stille!
Halte stille, Schlange!
Meine Schwester will von dir ab
Sich ein Must-er nehmen;
Sie will eifie Schnur mir flechten,
Reich und bunt wie du bist,
Dass ich sie der Liebsten schenke.
Trägt sie die, so wirst du
Immerfort vor allen Schlangen
Herrlich schöbt geprieseti.
Ob auch diese bearbeitung von Goethe herrührt, muss dahingestellt
bleiben. (Siehe v. Löper in Strehlkes ausgäbe der Goetheschen Gedichte
III, 370 und 371). Während die bearbeitung im Tiefurter Journal nach
der Übersetzung von Titius gemacht ist, lässt die in „Kunst und Alter-
thum'' in einigen werten benutzung des französischen Originals erken-
nen. Dafür dass dem Verfasser der zweiten bearbeitung die erste vor-
gelegen, könnte nur die ähnlichkeit der letzten zeile in beiden sprechen,
doch kann dies wol aucli zufälliges zusammentreffen sein.
Schliesslich mögen zur vergleichung noch aus Bodes Übersetzung
der Essais Montaignes (M. Montaigne's Gedanken und Meinungen Ober
allerley Gegenstände. Zweyter Band. Berlin 1793. S. 121 und 124) die
beiden lieder hier platz finden.
Kmnmt h^rbey mit lielleni Haufen,
Kommt, gelüstet Euch mein Fleisdi!
GOETHIAlfA 479
Wdlt Ihr Eure Väter fressen?
KamnU, sdiniedU deren Väter auch!
Ha / ihr aller Fleisch nährt mich scJwn lange !
Muskeln, Adern, Zasern und Gebein,
Sind aus ihrem Saft und Mark ereeuget
Damach lüstefs Eu4li, Ihr Gummen Hurule?
Nun so na{ft und freßt Eur eignes Mark.
Nehmt mir wieder, was ich Euren Vätern nahm!
Fleuch nicht, ScM^inge, schöne bunte Schlange,
Bleib! daß ineine Schwester eine Zeichnung
Nach der Schönheit Deiner Haut mir mache.
Und na^h der ein schönes Band fü/r Cora,
Meine Jugendfreundinn, die ich liebe!
So nennt jeder Dich die schöne Schlange,
Preiset auch dich mehr, als andre Schlangen!
Fleuch nicht, schöne Schlange; schöne Schlange, weile!
II.
Fräulein von Göchhausen schreibt in einem briefe vom 16. Septem-
ber 1782 an Knebel (abgedruckt in der Europa 1843, II, 314) mit bezug
auf das Tiefurter Journal : „ Der sogenannte christliche Roman ist aus
dem Munde einer sehr alten Frau in Ettem [Ottern] bei Belvedere nach-
geschriebeji worden/' Als ich vor jähren zum ersten mal diese stelle las,
war ich sehr neugierig zu erfahren, was das für ein „christlicher Roman"
sein möchte, den mau aus dem munde einer alten bauersfrau aufgeschrieben
und der aufnähme in jenes Journal wert erachtet hatte. Ich vermutete
ein Volksmärchen in prosa, fand aber, als ich bald darauf gelegenheit
hatte, Salomon Hirzels exemplar des Tiefurter Journals einzusehen, zu
meiner Überraschung im 28. stücke unter der Überschrift „Ein christ-
licher Roman" ein mir wolbekantes Volkslied. Es ist das lied von der
tochter des kommandanten zu Gross -Wardein, von dem ich vier ver-
schiedene drucke kenne: 1) Des Knaben Wunderhorn I, 64; neue Aus-
gabe I, 73. 2) Volks -Sagen, Märchen und Legenden. Gesammelt von
J. G. Büsching. Leipzig 1812. S. 163. 3) Fränkische Volkslieder, gesam-
melt von Fr. W. Freiherrn von Ditfurth, Leipzig 1855, I, No. 87. 4)
Braut - Sprüche und Braut -Lieder, auf dem Heideboden in Ungeni gesam-
melt von R. Sztachovics, Wien 1867, S. 276. (In letzterer samlung ist
das lied nach mehreren liederhandschriften mitgeteilt, deren älteste vom
jähre 1767.) Es bedarf kaum der ei^wähnung, dass diese fünf texte des
liedes öfters unter einander abweichen , wie dies texte eines und desselben
31*
480 REINHOLD KÖHLER, GOBTHL&.NA
Volksliedes, die zu verscliiedener zeit und an verschiedenen orten auf-
gezeichnet sind, ja immer tun. Was die dem texte des Tiefurter Jour-
nals eigentümlichen lesarten betrifft, so sind sie durchaus nicht der art,
dass man etwa eine Überarbeitung von der band des einsenders vermuten
müste, man darf vielmehr annehmen, dass er unverändert, wie er aus
dem munde der alten aus Ottern nachgeschneben worden war, in das
Journal übergegangen ist. Herr dr. Burkhardt hat (s. den oben citierten
aufsatz s. 289) auch von dem „christlichen roman" die originalhandsclirift
vorgefunden, und zwar ist sie von Goethes schreiber gescliriebeu. So
mag denn das lied durch Goethe in das Journal gekommen sein. Wenn
aber herr dr. Burkhardt sagt: „Ob Goethe die Erzählung in diese Reime
gebracht hat, darüber lässt sich kaum eine Vermuthung aussprechen," —
so ergibt sich aus dem obigen, was nicht als Vermutung, sondern als
gewissheit auszusprechen ist.
III.
In der abteilung der Goetheschen gedichte, welche überschrieben
ist „Sprichwörtlich," findet sich bekantlich der spruch:
Noch spncJct ehr Bahylon'sche Thnrm,
Sie sind nicht zu vereinen!
Ein jeder Mayiyi hat seinen Wurm,
C op e r n i k n s den s e i n e n .
In Jacob Baldes merkwürdigem gedichte „De vmütate mundi/'
worin gewisse lateiuisclie strophen immer auch frei deutsch widergegebeu
werden, lesen wir unter nr. LVI:
Copernici deliria
Sunt inrohicra (fypsi.
Quid hoc? iacet Coprrnicus,
2Wus sfaf, astra currunt.
Die Erden steht, cnd nit vmbgeht,
Wie recht die Glehrten meinen.
E i n j e d e r i s t s e i n s \V n r in h s r v r (/ w i s t ,
Copernicas deß seinen.
WKIMAK, ArUl'ST 1«71. REINHOLU KÖIILBK.
481
LITTEEATUR.
Rudolf von Baumcr, Gescliichtc der Gcrmanisclicu Philologie vorzugs-
weise in Deutsclilaiid. (Geschichte der Wissenschaften in Deutsch-
land. Neuere Zeit. Neunter Band.) München, R. Oldenbourg. 1870.
XL 743 8. 8. n. 3 thlr. 6 sgr.
Als die historische commission zu München in den plan der geschichte der
Wissenschaften in Deutschland auch die geschichte der germanischen philologic auf-
nahm , mochten manche fragen , ob es bereits an der zeit sei , eine Wissenschaft histo-
risch zu behandeln , deren anerkantes leben nach zwei oder drei menschenaltem zählt.
Das vorliegende buch Rudolfs von Raumer wird ihnen die antwort geben. Mit grosser
belesenhcit und anerkennenswertem gestaltungsvermögen , in voller und klarer über-
sieht über anfange, versuche und endliche ziele, lässt der herr Verfasser die germa-
nistisch-philologischen bestrebungen seit dem 16. Jahrhundert bis in das jüngste
geschlecht hinein an uns vorüberziehen , und beweist wie in dem Schreiber der inhalts-
reichen abhandlung „Der Unterricht im Deutschen" der richtige mann für jene auf-
gäbe getroffen war.
R. V. Raumer nimt die philologie in der beschränkteren bedeutung als Studium
der Sprache und litteratur. Er scheidet die geschichte der germanischen philologie
in vier perioden: die erste von widerbelebung des klassischen altertums bis zum jähre
1(565 ist die zeit der anfange, versuche und ahnungen. Die deutschen hunianisten
zeigen eine begeisterung für das deutsche altertum, die ihren heutigen nachfolgoru
meist abseiten liegt. Durch die kirchengeschichtlichen, juristischen und historischen
Studien werden verschüttete schätze der deutschen vorzeit ans licht gebracht, lingui-
stische neigungen spielen herein , und die neu sich festsetzende hochdeutsche Schrift-
sprache fordert zur grammatischen behandlung und lexikalischen Verzeichnung auf.
In einem besondern abschnitt werden uns dann die anfange germanistischer Studien
in den Niederlanden, in England und Skandinavien erzählt.
Das zweite buch berichtet über die periode von 1665 als dem jähre der her-
ausgäbe des codex argenteus durch Fr. Junius bis zum auftreten der romantikcr. Mit
recht sind hier die leistungen der Niederländer und Engländer vorangestellt, welche
nach zeit und bedeutung den Deutschen jenes abschnitts überlegen sind. Francis-
cus Junius, George Hickes und Lambert ten Kate treten hier auf: Junius, der zuerst
die kentnis des gotischen, althochdeutschen, sächsischen und nordischen in sich ver-
einte und als textherausgeber und lexicograph bewährte, ist das Vorbild des Hickes,
welcher zuerst eine granmiatik unserer alten dialecte versuchte. Auch ten Kate folgte
in seinen scharfsinnigen grammatischen arbeiten, welche den gemeinsamen bau aller
germanischen sprachen erwiesen, dem vorgange des Junius. Nun ist der gotische
schätz zugänglich, das angelsächsische wird gepflegt, und in Skandinavien erscheint
eine reihe altnordischer prosawerke im druck. Für die kentnis der skandinavischen
sprachen ist Ihre vornemlich tätig.
In Deutschland wirkt das Universalgenie Leibnitz auch fruchtreich für die
deutschen Sprachstudien. Unter seinem einfluss stehn zumal J. G. Eckhardt, der
Leibnitz persönlich verbundene historiker, antiquar und herausgeber wichtiger alt-
hochdeutscher denkmäler; ferner J. L. Frisch, der hochverdiente lexicograph und
geschätzte schulgrammaticus. An Eckhardt schlössen sich in Norddeutschland Diet-
rich V. Stade mit Palthen, in Süddeutschland Schilter, Scherz und Wächter an,
mit denen die übrigen herausgeber und freunde altdeutscher dichtung, wie Bodmer,
Müller u. a. zusammenhangen. Von einer der Sprachgesellschaften aus gewint Gott-
482 WEIMHOLD, ÜB. V. RAUMEB , GE6CH. D. GERM. PHILOLOGIE
sched weitreichenden einflnss auf dem gebiet der deutschen Sprachlehre, dessen erbe
J. Chr. Adelung ist, über den herr v. Räumer sehr ausführlich (8.210 — 241) han-
delt. Es äussern sich ferner die anregungen des aufstrebenden litterariscben und
moralischen Icbens der nation auf die gelehrten vaterländischen bestrebungen , nnd
so erscheinen nun auch Klopstock, Wieland, Gerstenberg, Lessing, Herder, Goethe,
J. Moser in unserm buche.
Die dritte periode, vom auftreten der romantiker bis zum erscheinen von
Grimms grammatik, 1797 — 1819, ist recht eigentlich die* zeit der cmpfangnis.
Herr v. Raumer behandelt zuerst die romantiker in ihrer stellang gegen den
classicismus , in ihrer neigung und den anlaufen zu altdeutschen studien, woran sich
eine Schilderung dieser studien im aufgang uusres Jahrhunderts anschliesst. F. H.
V. d. Hagen, Büsching, Docen, die bedeutsame einführung der indischen spräche und
litteratur durch Fr. Schlegel, ferner Kanne, Görres, Arnim und Brentano bilden die
einleitung zu den Jugendarbeiten der brüder Grimm , womit der eigentliche kern und
Schwerpunkt des Raumerschcn Werkes anhebt. Vortrefflich wird nachgewiesen, wie
die Grimms zwar von den romantikem angeregt werden, wie ihre ziele aber von
anfang an höhere und freiere sind. Mit den romantischen freunden teilt Jacob noch
das zügellose combiniorcn und dichterisclie phantasieren. Bei ausgebreiteten sprach-
kentnissen und seherblicken in das wesen der spräche entbehrt er noch durchaus der
sichern methode und der richtigen Stellung und behandlung grammatischer ftugen,
so dass W. Schlegel völlig berechtigt war, in der beurteilung der Altdeutschen Wäl-
der (1815) ihm unbekantschaft mit den ersten grundsätzen wissenschaftlicher sprach«
forschung vorzuwerfen. Diese mahnung blieb nicht unbeachtet. Ehe aber Jaeoh den
grossen schritt zu seiner grammatik tat, erschienen Benecke, Lachmann und Bopp
mit ihren ersten streng wissenschaftlichen arbeiten auf dem felde. Und in Däne-
mark erstund in Rask ein hervorragender forscher , welcher grosse entdeckongen machte
und dessen arbeitsieben sich mehrfach mit Grimms nahe berührt. Man liest Raumers
darstellung Rasks mit teilnähme und sieht hiemach die Streitfrage, ob Grimm oder
Rask das gesetz der lautverschiebung entdeckte, als gelöst an.
Das vierte buch hat vorzüglich die aufgäbe, die grossen arbeiten Jacobs von
1819 ab bis zu seinem tode mit gewissenhafter einflcchtung der leistungen Wilhelms
vorzufüliren. Es geschieht mit einer liebe, die doch auch die kritik nicht scheut,
und mit sichtlicher bevorzugung der sprachlichen studien. Daneben kommen die mit-
forschenden freunde Lachmann, Benecke, Schmeller, Uhland, ja auch v. d. Hagen
in seiner späteren zeit , Lassberg, Hoffmann, Massmann, Graff, Meusebach, W. Wacker-
nagel, Haupt und Simrock zu abgesonderter bcsprechung; Bopps unvei^gleicbliche
bedeutung für die germanistischen studien erfährt eine darstellung für sich. Die
schulmässige behandlung des Neuhochdeutschen, die litterargcschichtlichen arbeiten
erhalten ihr kapitel, und der namenreiche abschnitt „fortbau der germanischen Phi-
lologie in den neusten jahrzehnden" macht den schluss, wobei auch dor Niederlän-
der, Engländer und Skandinaven nicht vergessen ist.
Der gewinn zusammenfassender darstellungen weithin zerstreuter crscheinun-
gen liegt darin, dass der innere geistige Zusammenhang heraustritt und der mit-
lebende empfindet, wie er dor erbe einer tiefgegründeten tätigkoit ist. Ausserdem
zeigen sich die stellen deutlich, woliin die forschung ihre kraft vomemlioh lu wen-
den hat.
Wer für die geschichte der germanischen philologio tatige teilnamehegt, wird
überdies erkennen, wo er berichtigungen und nachtrage geben kann. Schreiber die-
JINICKE, üb. JAC. GBIMM, KLEUiERE SCHRIFTEN 483
ser Zeilen hofft in dieser art seinen dank für empfangene belehrung und manchen
genuBS künftig zu beweisen.
KIEL, IM JULI 1871. K. WEINUOLD.
Kleinere Schriften von Jaeob Orimni. I. Reden und abhandlungen.
412 8. 1864. U. Abhandinngen zur mythologie und sittenkunde.
462 8. 1865. III. Abhandlungen zur litteratur und grammatik. 428 8.
1866. IV. V. Receusionen und vermischte aufsätze, zwei teile, VIII.
467 und VII. 537 s. 1869, 1871. Berlin, Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.
n. 15 thlr.
Schon im jähre 1853 wollte J. Grimm, wie das vorwort des ersten bandes
sagt, seine akademischen abhandlungen gesammelt herausgeben; aber er verschob
diese arbeit immer wider bis der tod ihn überraschte. Bald nach seinem tode wurde
der plan wider aufgenommen und blieb nicht auf die akademischen schriften beschränkt,
es sollten vielmehr alle kleineren arbeiten, die in einer grossen anzahl von Zeit-
schriften zerstreut waren, vereinigt werden. Zuerst waren drei bände in aussieht
genommen, zwei andere wurden ihnen noch zugefügt, und so liegt jetzt die ganze
stattliche samlung vollendet vor , jedem , der die deutschen studien pflegt , erwünscht,
ja notwendig. Früher muste man die kleinen abhandlungen Grimms an vielen zum
teil versteckten orten aufsuchen und konte manches selbst hier in Berlin nicht erlan-
gen ; auch R. V. Raumer klagt in seiner geschichte der germanischen philologie s. 445
über die mühe, die ihm das zusammensuchen der schriften Grimms gemacht hat.
Jetzt findet man in diesen fünf bänden alles zum bequemen gebrauche vereinigt; wir
sind für die prompte Vollendung der ganzen samlung Müllenhoff, dem heraus-
geber der schriften, zu grossem danke verpflichtet.
Über das äussere der samlung ist wenig zu sagen. Die Schwierigkeit, in den
beiden letzten bänden eine richtige auswahl aus den ältesten schriften Grimms zu
treffen , ist vom herausgeber glücklich gelöst. Zu gründe gelegt sind überall die
handexemplare J. Grimms^ und seine zahlreichen zusätze sind mit recht aufgenommen
worden. Der wünsch, diese nachtrage noch zu vermehren, hatte den Verfasser selbst
dazu bewogen, die samlung der akademischen abhandlungen hinauszuschieben. —
Die ausstattung des Werkes ist gut; bei dem hohen preise hat man auch ein recht
das zu verlangen. Die Ungleichheit, welche durch den engeren druck der beiden
letzten bände entsteht, wird niemanden stören; die bcibelialtung des weiteren druckes
würde, zum nachteil der samlung, die zahl der aufzunehmenden arbeiten bedeutend
beschränkt haben.
Eine ausführliche besprechung von Grimms schriften muss an dieser stelle
unterbleiben. Denn davon abgesehen , dass diese den räum einer anzeige weit über-
schreiten würde , die mehrzahl der schriften dürfen wir bei den lesern als bekant vor-
aussetzen. Die vorliegende samlung hat auch schon viel zur eiofühi'ung der schrif-
ten in weitere kreise beigetragen; wir schlagen dies nicht gering an. Namentlich
hat sie auch in viele schulbibliotheken eingang gefunden , was bei den oft beschränkten
mittein dieser Institute wol zum teil dem allmählichen erscheinen der samlung zu ver-
danken ist. Fndlich haben uns die letzten jähre neben einer unzahl kleiner aufsätze
zwei ausführlichere arbeiten über Grimms leben und schriften gebracht; den betref-
fenden abschnitt in R. v. Räumers geschichte der germanischen philologie, und beson-
ders das buch von W. Scherer, das dadurch so bedeutend ist, dass es viel mehr bie-
tet als der einfache titel „Jacob Grimm'' verspricht.
484 JÄNICKE
Wir begnügen uns hier mit einer knrzen Übersicht des inhaltes — eine beschrän-
kung ist bei dem grossen reichtnm , den diese fünf bände darbieten , durchaus gebo-
ten — und knüpfen ein paar allgemeine bemerkungcn an.
Der erste band, reden und abhandlungen, enthält die arbeiten, durch
welche Grimm, abgesehen von den märchen, auch über den kreis der fachgenosaen
hinaus bekant geworden ist. Hier zeigt sich am deutlichsten seine Sprachgewalt in
eigenartigem, aber glänzendem stil, der, oft von hinreissender Schönheit, J. Grimui
zu einem unserer ersten prosaisten macht. Vorangestellt sind die beiden schrifton,
welche uns leben und sinnesart des grossen mannes mit seinen eigenen werten schil-
dern: die Selbstbiographie vom jähre 1830 und die schrift über seine ent-
lassung vom jähre 1838 mit dem stolzen motto „war sint die eide konien?** Auch
die rede auf Wilhelm Grimm gehört hierher. Leider ist ihr schluss verloren,
bei den märchen bricht sie ab. Nach meiner erinnerung erwähnte Grimm noch, dass
sein bruder in den letzten jähren die pflege der märchenforschungen übernommen,
dass er selbst aber jetzt eine umfassende abhandlung darüber veröffentlichen wolle,
in der auch die resultate von Wilhelms Untersuchungen dargestellt würden. Zur aus-
ftihrung ist diese arbeit nicht gekommen. — Hermann Grinmi'hat zu den drei erwähn-
ten arbeiten zusätze gegeben für die jeder leser dankbar sein wird. Sie vervollstän-
digen das bild von J. Grimm in der willkommensten weise und teilen auch einige
briefstellen mit , darunter die merkwürdigen werte , die er am 12. mai 1840 von Kas-
sel aus an Lachmann schrieb : „ der hinunel helfe und verleihe , dass Preussen einmal
das übrige Deutschland belebe und anfeuere, nicht hemme." Eine ergänzung zu den
Icbensnachrichten steht im fünften bände, der auszug aus Grimms antrittsrede in
Göttingeu, über das heimwoh. Eine andere brachte diese Zeitschr. 1, 489 fgg.:
einen gedrängten überblick seines lebens, von Grimms eigener band im jähre 1850
oder später geschrieben.
Auch andere stücke des ersten bandes zeigen uns Grimm im Verhältnis zu sei-
nen freunden: zwei Jubelschriften für Benecke (frau Aventiure klopft an Be-
neckes thür) und Savigny (das wort des besitzes) und die rede auf Lach-
mann. Wir werden dadurch zurückversetzt in die zeit, wo die deutsche philologio
von wenigen männem begründet wurde, die fast ohne ausnähme durch enge freund-
schaft mit einander verbunden waren. — Der anhang führt uns weiter zurück: er
enthält eine abhandlung , die Grimm für Arnims trösteinsamkeit 1808 schrieb : „Ge-
danken wie sich die sagen zur poesie und geschichte verhalten'*;
ausserdem die Übersetzung eines serbischen liedes und eine kritik von Jean Pauls selt-
samem vorschlage über die deutschen composita. Diese im jähr 1819 geBchriebcnc
kritik ist durch die überlegene Sicherheit und die lebendige darstellung äusserst inter-
essant und für gar manchen auch heut noch in eminentem massc belehrend.
Nicht übergangen werden darf die rede auf Schiller 1859, die gleich
damals, als allenthalben Schillerreden gehalten und auch durch den druck veröffent-
licht wurden, mit dem lebhaftesten beifall begrüsst wurde. Bedürfte es eines evi-
denten Zeugnisses dafür, dass Grimm über seinen tiefen stndicn des deutschen altor-
tums doch die ucuzeit keineswegs ausser acht Hess, so gibt es diese rede. Seine
leidenschaftliche liebe zum altertum ist bekant ; er selbst spricht oft davon , vielleicht
nirgend bezeichnender als im eingang der abhandlung über das pedantische in der
deutschen spräche 1, 337: „ich war von Jugend an auf die ehre unsrer spräche
beflissen und, wie, um mich eines platonischen gleichnisses «u bedienen, die hirtcii
hungerndem vieh einen grünen laubzweig vorhalten und es damit leiten, wohin sie
wollen,- hätte man mich mit einem altdeutschen buch durch das land locken können.'*
ÜB. JAC. GRIMM, KLEINEBE SCHBIPTEN 485
Grimms gäbe in die poesie der spräche einzudringen verglich G. Curtins in einem
vortrage vom 10. febr. 1871 schon mit der erzähluug der inärchen von den menschen,
welche die spräche der vögel verstehen. Kein wunder, dass er immer wider zurück-
kehrte zu den gegenständen, deren betrachtung ihm das liebste wür. Aber er ist in
seiner Vorliebe für das altertum nicht blind geworden gegen die Vorzüge der neuzeit
deren die alte zeit entbehrt. Indem Scherer die gegenwärtigen ziele der von Grimm
geschaffenen Wissenschaft scharf bezeichnet^ spricht er mehrere male es fast wie
einen Vorwurf aus , dass Grimm diese ziele nicht auch schon zu erreichen gestrebt
habe. Namentlich hebt er widerholt hervor s. 120 — 122. 126, dass Grimm die ver-
standestätigkeit der spräche in ihrer späteren zeit zu erfassen kein verlangen gehabt
habe. Dem entgegen ist zu bemerken, dass die abhandlung über den Ursprung
der spräche, die ihren gegenständ gar nicht gefördert hat und bei dem ignorieren
der forschungen W. v. Humboldts auch nicht fördern konte, sich über die entwick-
lung der spräche vom siulichen zum geistigen vollkommen klar und richtig ausspricht.
Es sind also einige von Scherers f orderungen nur ergänzungen von Grimms forschun-
gen in seinem sinne; andere, z. b. die der grammatik von der physiologie gestell-
ten Probleme, sind erst nach den grossen arbeiten Grimms aufgetreten, und diese
konte und muste Grimm — denn auch für einen so kühnen und grossen geist beste-
hen die schranken der endlichkeit — andern forschem überlassen.
Der zweite band, abhandlungen zur mythologie und sittenkunde,
enthält lauter akademische Schriften. Er wird eröfihet durch die abhandlung über
die beiden Merseburg er Zaubersprüche, deren facsimile beigegeben ist. Es
war Grimms erste akademische yorlesung. Man hört beständig die freude durchklin-
gen über den fund der beiden „allitterierenden gedichte, offen heidnischen Inhalts/*
Und diese freude war so berechtigt, wir empfinden sie noch heut nach dreissig jäh-
ren , wenn wir uns vergegenwärtigen , welchen unermesslichen wert diese beiden klei-
nen gedichte für die erkentnis unserer vorzeit gehabt haben. Welchen vorteil kön-
ten uns ähnliche fünde noch gewähren, wenn es eben keine künstlich fabricierten
altertümer sind! -- Den beschluss" des bandes macht die hier zum ersten male
gedruckte abhandlung über das gebet, die vielen theologen entgangen zu sein
scheint. Und doch behandelt sie ein thema, das bekant genug ist: die sage von der
legio fulminatrix unter Marc Aurel. Einen nachtrag zu diesen arbeiten gibt noch
am schluss des dritten bandes die erst später aufgefundene abhandlung: der träum
von dem schätz auf der brücke.
Von den andern arbeiten des zweiten bandes geben uns namentlich die deut-
schen grenzalterttimer, über schenken und geben und über das ver-
brennen der leichen wertvolle monographien aus dem lange beschlossenen, aber
nicht ausgeführten werke Grimms über die deutsche sitte. Wir glauben, hier zeigt
sich in besonders glänzender weise der geniale zug Grimms, durch liebevolles
versenken in den stoff und durch grossartige kühne combination zu resultaten zu
gelangen , die den leser nicht nur überraschen , sondern ihn geradezu blenden. Eine
andere eigentümlichkeit Grimms, dass er bestrebt ist den grossen kreis seines Wis-
sens immer noch zu erweitern und bis in die entlegensten gebiete vorzudringen , offen-
bart sich uns in den übrigen abhandlungen dieses bandes: in der über frauen-
namen aus blumen, über die namen des donners und über das fin-
nische epos. Das keltische, das er sonst nur vereinzelt anfuhrt, ist eingehend
betrachtet in den beiden arbeiten über MarceUus Burdigalensis. Er geht fast
immer aus von der Wortforschung, aus ihr entschliessen sich ihm dann die sachen.
Widerholt spricht er von seiner verliebe für die etymologie, z. b. 3, 115 „Wörter zu
486 jXnicke
klauben ist ebenso verfänglich als lockend/' vgl. 1, 22. 2, 373. 3, 170 und die
abhandlung über etymologie und Sprachvergleichung im ersten bände. Dass
er vor dem jähre 1819 oft sehr wilde etymologien aufstellte , ist bekant. In der zeit,
wo die grammatilf den mittelpunkt seiner arbeiten bildete , war er strenger gegen
sich und andere: über Schmids etymologien im schwäbischen Wörterbuch sprach er
5, 130 scharfen tadel aus^. Aber nach dem jähre 1840 hat ihn seine neigong zur
etymologie und namentlich das streben, durch kühne combinationen wenigstens die
möghchkeit neuer bezüge zu erweisen, vielfach zu Irrtümern geführt, wie Scherer
und V. Raumer s. 654 es auch aussprechen. Nicht nur im wörterbuche , sondern auch
in diesen akademischen abhandlungen sehen wir diese combinationslust : sie scheint
wesentlich bedingt zu sein durch die vorhin erwähnte beschäftigung mit sprachen
die ausserhalb des germanischen gebietes liegen. Denn nirgends hat er sonst neben
den deutschen sprachen auch slavisch , littauisch , finnisch und noch entlegenere spra-
chen herbeigezogen als hier.
Der dritte band, abhandlungen zur litteratur und grammatik, ent-
hält wie der zweite lauter akademische arbeiten aus den vierziger und fünfziger jäh-
ren. Voran steht die abhandlung: gedichte des mittelalters auf könig Frie-
drich I. den Staufer und aus seiner und der nächstfolgenden zeit. Nach-
dem Grimm den Beinhart Fuchs und mit Schmeller die lateinischen gedichte des
zehnten und elften Jahrhunderts herausgegeben, komt er hier noch einmal auf die
lateinische poesie des mittelalters zurück, von der er 5, 287 sagt: „sie läuft neben
unserer einheimischen wie ein canal zur seite eines natürlichen flussbettes. diesem
entzieht die künstlich gegrabene rinne wol einen teil seines gewässers, aber sie
bleibt ohne eigene quelle und mündung, und muss zuletzt wider versumpfen oder
versanden." Er fügt noch im verfolg dieses gleichnisses hinzu, dass wol auch „ein-
zelne nachen echter poesie '* auf diesen canal verschlagen würden. Echte poesie ist
es, die Grimm hier behandelt, die der vaganten. Er teilt zehn gedichte des Archi-
poeta, sowie ausführliche auszüge aus der Münchener handschrift mit. Bald ist
Schmellers vollständige ausgäbe dieser handschrift in den Carmina Burana gefolgt,
und Giesebrecht hat in der Kieler monatsschrift 1853 den gang dieser mittelalter-
lichen Vagantenpoesie schon entwickelt. Seitdom hat man sich verhältnismässig wenig
mit dieser litteratur beschäftigt. — Die abhandlung Jemandes und die Geten
1846 ist ein Vorläufer der „Geschichte der deutschen spräche,'* in welcher Grimm
seine hypothese , dass Geten und Gothcn identisch seien , weiter ausgeführt hat. Wem
fällt dabei nicht Wilhelm Grimms Vermutung über die Identität von Waltber und
Freidank ein? Beide brüder, wie sehr sie sich sonst von einander unterscheiden,
gleichen sich auch darin , dass sie eine combination , die sofort dem entschiedensten
Widerspruch der mitforscher begegnet, — J. Grinmi hat sich gegen des bruders
hy])othese ausgesprochen 3, 100 — mit grosser beharrUchkeit, ja mit einer gewissen
eigensinnigen Zärtlichkeit aufrecht halten.
Die grammatischen abhandlungen: über diphthongen nach weggefalle-
nen consonanten, über den Personenwechsel in der rede, über einige
fälle der attraction enthalten teils nachtrage zur formenlehre, teils sind es mono-
graphien über syntaktische kapitel, die im schluss der grammatik wären behandelt
worden. Diese syntaktischen arbeiten verbreiten sich auch über den griechischen and
lateinischen Sprachgebrauch, der im vierten bände der grammatik nur in einzelaen
andeutungen berührt wurde. Es ist kaum nötig hervorzuheben, dass Grimm auch
hier feine bcobachtungen bietet: wir heben nur ein beispiel hervor, die präcise art,
wie Grimm den unterscliied entwickelt, den die anrede der helden im homerischen
ÜB. JAC. ORIMM, KLEINERE SCHRIFTEN 487
epos, bei Virgil und bei Voss und Goethe zei^ Diese beobachtongen rerdienten
die aufmerksamkeit auch der klassischen philokgen, werden ihr aber wol entgehen.
Auch die neuhochdeutsche litteratur hat hier eingehende berücksicbtigung gefunden:
man sieht deutlich, dass diese abhandlungen in eine zeit fallen, wo Grimm fleissig
am Wörterbuch arbeitete.
Ein wichtiges kapitel der Sprachforschung, das im ganzen noch wenig pflege
gefunden hat, behandelt Grimm in der abhandlung von Vertretung männlicher
durch weibliche namensformen, die eigennamen. Nachdem er Förstemanns
uamenbuch und ähnliche samlungen in anderen sprachen erwähnt hat, fährt er s. 351
fort: „welchen reiz und welche anziehende kraft hat unter allen sprachlichen Unter-
suchungen eben die über eigennamen, wie geschäftig sein muss man um jede hier
aufsteigende frage zu behandeln ; ich werde zwar noch oft die eingänge finden , aber
nicht mehr den genuss haben bis in die mitte der forschung zu gelangen , geschweige
ihren ausgang zu ermitteln/* Darauf entwickelt er, welchen gewinn das Wörterbuch
und die grammatik aus der betrachtung der eigennamen ziehen könne, und verfolgt
männliche namen die weibliche form haben durch lateinisch, romanisch, griechisch,
keltisch, deutsch, littauisch und slavisch. Die deutung der eigennamen hat bekant-
lich auch für ungelehrte grossen reiz, wieviel mehr für den Sprachforscher. Nach
dem was oben über Grimms neigung zum etymologisieren bemerkt ist, begreift sich
leicht , dass er auch auf die betrachtung der Ortsnamen ¥de der personennameu immer
wider gern zurückkomt. 5, 297 steht eine abhandlang über hessische Ortsna-
men vom jähre 1840; 2, 353 fg. 399 sind deutsche beinamen gesammelt; auch über
die imperativnamen wollte er noch einmal schreiben 3, 353. Daraus, dass ihm die
namenforschung so am herzen liegt, erklärt sich auch sein allzu günstiges urteil über
Förstemanns ^tdeutsches namenbuch. Gewiss sind die Schwierigkeiten, die Grimm
hervorhebt, um die schwächen von Förstemanns arbeit zu entschuldigen, auf dem
ganzen gebiet der namenforschung gross. Die modernen familiennamen über die in
den letzten Jahrzehnten so viel geschrieben worden ist — wir erinnern nur an die
sorgfältigen arbeiten Andresens — setzen der deutung oft unüberwindliche Schwie-
rigkeiten entgegen, weil es in den wenigsten föllen möglich ist, den namen auch
nur etwa 300 jähre zurück zu verfolgen; und doch wäre bei ihrer bunten zusammen-
würfolung und ihren vielfältigen entstellungen dies das einzige mittel zur vollen klar-
heit zu kommen. Wo alte aufzeichnungen vorhanden sind^ bedürfte es erst auf den
verschiedenen gebieten ausgedehnter fleissiger samlungen, die noch kaum begonnen
sind. Das frisch und mit liebe geschriebene buch von L. Steub über oberdeutsche
familiennamen würde durch solche samlungen älterer namen von vielen Verstössen
frei geblieben sein, die sich jetzt bei den geringen hilfsmitteln des Verfassers aller-
dings leicht erklären und in gewissem masse auch entschuldigen lassen. Welchen
rcichtum gewähren allein die beinamen der althochdeutschen und besonders der mit-
telhochdeutschen zeit, die Haupt öfter, z. b. Zeitschr. 4, 578. 15, 249. 261 und in
den anmerkungen zuNeidhard für die feststellung und erklärung dunkler appellativa
sehr glücklich benutzt hat. Die örtlichen namen erfordern genaue kentuis der gegend
und des dialektes , sie müssen ebensowol aus dem volksmunde wie aus den alten loca-
len aufzeichnungen gesammelt werden: eine nützliche aufgäbe für unsere vielen
geschichtsvereine. Auch deshalb wären für eine solche samlung diese vereine am
geeignetsten , weil einzelne namen genaue kentnis der geschichte der landschaft erfor-
dern. Umgekehrt würde auch die specialgeschichte von der namenforschung manche
wertvolle aufschlüsse empfangen.
Doch wir kehren zu Grimm zurück. Die beiden letzten bände enthalten
recensionen und vermischte aufsätze. Ober die grundsätze, welche hier bei
488 jXnicke
der auswahl massgebend waren , spricht sich Miillenhofif im Vorwort zum 4. bände
aus. Hätten alle kleinen arbeiten aufgenommen werden sollen, so wäre nicht nur
der umfang dieser samlnng allzu gross geworden, sondern der leser hätte auch vie-
les bekommen, was ihm auch sonst leicht zugänglich ist. Es sind also mit recht
ausgeschlossen die in den fachzeitschriften enthaltenen abhandlungen , ebenso die klei-
nen juristischen arbeiten. Von dem was Grimm vor 1819 in verschiedenen Zeitschrif-
ten publicierte, ist eine auswahl gegeben: die stücke, welche tlir die entwickelung
Grimms und für die geschichte der deutschen philologie wichtig sind. Die recensio-
nen aus den Wiener Jahrbüchern und den Göttinger gelehrten anzeigen sind vollstän-
dig aufgenommen. „Sie zeigen," heisst es 4, VII, „Jacob Grimm in der besten,
glücklichsten und reichsten zeit seines Schaffens und geben zusammen ein unvergleich-
liches bild von dem umfang, der rührigkeit und rüstigkeit seines tuns und zugleich
von dem damaligen ersten aufschwunge der deutschen Studien, dem er selbst vor
andern bahn brach." Nur eine arbeit haben wir in der auswahl vermisst, die vor-
rede zur grammatik vom jähre 1818. Nach den allgemeinen principien der redactiou
war es allerdings richtig, sie nicht aufzunehmen; aber sie ist für Grimms damaligen
Standpunkt und für die geschichte der Wissenschaft von hohem werte, so dass audi
W. Wackernagel einen teil davon in sein deutsches lesebuch aufgenommen hat; und
die erste aufläge der grammatik war nur klein , die exemplare sind sehr selten gewor-
den. Diese erwägungen würden ein abgehen von dem allgemeinen grundsatze wol
gerechtfertigt haben.
Die notizen , die Grimm in seinen handexemplaren eingetragen hat, sind ebenso
wie bei den akademischen abhandlungen zugefügt worden. Die berühmte recension
von Klings ausgäbe der predigten Bertholds ist auch noch interessant durch die
angäbe der stellen, welche die Wiener censur gestrichen oder zugesetzt hat.
Grimms recensionen erstrecken sich auf ein weites gebiet: nicht nur die werke,
welche speciell die altdeutschen Studien behandeln , werden von ihm besprochen, son-
dern auch altfranzösische , slavische , historische und litterarhistorische Schriften. Für
die geschichte der deutschen philologie erhalten wir liier in gewissem sinne die docu-
mente. Die gotischen entdeckungen und Graffs Althochdeutsche Präpositionen sind
ausser Klings Berthold am ausführlichsten besprochen; manches unbedeutende komt
daneben vor, aber man wird kein stück finden, das nicht dazu beitrüge, das bild
der deutschen Sprachforschung in den zwanziger und dreissiger jähren zu beleben.
So empfangen z. b. die ungenügenden arbeiten des „ sassischen " Schellers den ver-
dienten tadel. Nicht ohne vergnügen kann man Schellers vermeintliche abwelir in
der vorrede zur chronik von Sassen lesen, wo er Grimm unkentnis der sassischen
spräche vorwirft und dazu eine reizende probe von seinem eigenen Verständnis dieser
„Ursprache" und davon zu hoffenden fruchten gibt: die Nibelungen gehen auf ein
sassisches original zurück, alle Schwierigkeiten des gedichtes rühren daher, dass der
süddeutsche Übersetzer sein original misverstand. Man sieht, die Nibelungen waren
schon damals ein beliebter tummelplatz für allerlei torheiten.
Grimms ganze art ist auch in diesen recensionen deutlich zu erkennen. Er
begrüsst mit freude gute leistungen, er erkent auch in massigen arbeiten gern an«
was sie nützliches bieten , und berichtigt verschen und inängel aus dem reichen schätze
seiner kentnisse. Gegen verfehlte oder dünkelhafte Schriften aber weiss er auch
scharfe werte zu finden , so z. b. gegen Schellers bücher, Zeunes Gotische Sprachfor-
men, Schotts Weifen und Gibelinge.
Aber wir können nicht wider anzeigen von anzeigen schreiben. Auch eine
anzahl der recensierten bÜcher zu nennen würde zu weit führen und von keinem
nutzen sein. Man muss Grimms werte selbst lesen, um in die vergangene zeit zu-
ÜB. JAG. GRIMM, KLBINBBB SCHRIFTEN 489
rückgeführt zu werden. Den beschluss bilden die abhandlungen aus den monatsberich-
ten der Berliner akademic und die beiden letzten anzeigen, die Grimm geschrieben:
von dem vierten bände der Weistümer und von Jonckbloets etudes sur le roraan de B^nard.
Der fünfte band enthält noch drei zugaben: ein chronologisches Ver-
zeichnis von J. Grimms sämtlichen Schriften, das wir dem gewissenhaften
fieisse F. Aschersons verdanken, ein schlusswort Hermann Grimms und ein
sorgfältiges regist er über die ganze samlung von Wilmanns. Über das schluss-
wort s. 503 — 506 , das von dem litterarischen nachlass J. und W. Grimms handelt,
ein paar bemerkungen.
Die bibliothek wurde an die Berliner Universitätsbibliothek verkauft, die in
folge dieses erwerbs im jähre 1869 eine grosse anzahl von doubletten veräusserte. £s
war verabredet, wie H. Grimm sagt, dass nicht die Grimmschen exemplare, sondern
die schon vorher der Universitätsbibliothek gehörigen verkauft werden sollten. H. Grimm
scheint zweifei zu setzen in die richtigkeit der angaben in dem katalog von Asher
und comp. , die eine grosse anzahl von büchem als Grimmsche exemplare , mit hand-
schriftlichen bemerkungen der besitzer versehen , zum verkauf ausboten. Ich weiss
es genau, da ich und meine freunde manche bücher dieses kataloges erworben haben,
dass Ashers behauptung richtig ist: es waren die Grimmschen exemplare, die zahl-
reiche notizen besonders von Jacobs band enthielten. Die Verwaltung der Universi-
tätsbibliothek hat es also vorgezogen, ihre alten exemplare zu behalten und die
Grimmschen zu verkaufen.
Zu einer sinnigen, dauernden erinnerung an W. Grimm haben die hinterblie-
benen die Märchen gemacht. Als die Göttinger Sieben vertrieben wurden , hatte man
eine namhafte summe für sie gesammelt. Der anteil W. Grimms wird, „da bei der
neugestaltung des Vaterlandes eine läge wie die der Sieben ein für allemal aus-
geschlossen blieb,'* jetzt so verwant, dass für die zinsen alljährlich 500 exemplare
der Märchen an deutsche kinder im auslande verschenkt werden. Man erinnert sich
unwillkürlich an das Vermächtnis Walthers von der Vogel weide, von dem uns die
sage berichtet.
In der vorrede zum vierten bände war gesagt, dass die kleinen juristischen
arbeiten von dieser samlung ausgeschlossen seien, weil sie vielleicht bei einer neuen
aufläge der rechtsaltertümer zu verwenden wären. Hermann Grimm stellt nur eine
unveränderte ausgäbe des buches in aussieht. Aber viel willkommener würde es sein,
wenn die erwähnten abhandlungen als anhang zugefügt würden. Wenige von seinen
werken hat Grimm umzuarbeiten zeit gefunden: nur die mythologie und einen kleinen
teil der grammatik. Bei den rechtsaltertümern war ihm das bedürfnis einer Umar-
beitung gleich nach dem erscheinen klar, als er die samlung der weisthümer begann,
und die herausgäbe dieser Urkunden hat ihn später immer wider daran erinnert,
aber sie unterblieb; 1854 erfolgte ein unveränderter abdruck des buches. Von einem
fremden kann jetzt die durchgreifende Umgestaltung desselben nicht unternommen
werden. Aber dass die germanisten unter den Juristen sich mehr mit der deutschen
spräche und umgekehrt die philologen sich mehr mit dem deutschen recht beschäf-
tigten , wäre zu wünschen. Über die Juristen hat etwas zu günstig geurteilt Scherer
s. 140: die verkehrten etymologien, ja die falschen auffassungen der einfachsten mit-
telhochdeutschen prosa sind noch keineswegs bei ihnen verschwunden. Es ist hier
nicht der ort darauf weiter einzugehen: wer belege für unsem tadel sehen will, fin-
det sie z. b. in Zöpfls altertümern des deutschen rechts und reichs. i
Erfreulich ist noch die nachricht Hermann Grimms, dass auch eine samlung
der kleinen Schriften seines vaters Wilhelm in aussieht genommen sei. Dann würden
490 SUPHAN
wir nur noch Lacbmftnns abhandlungen vermissen, deren einzelabdrücke man jetzt
so selten und nur zu enormen preisen erlangen kann. Hoffen wir, dass auch diese
bald gesammelt herausgegeben werden.
BERLIN. OSKAR JÄNICKB.
Herder als Theologe. Ein Beitrag zur Geschichte der protestanti-
schen Theologie von Augnst Werner, Pfarrer. Berlin 1871. Verlag von
F. Henschol. V. 422. n. 2V3 thlr.
Widerum ein beitrag zu der jungen Herderlitteratur , geliefert in der absieht,
„eine alte ehrenschuld ^' zu tilgen, von allen bisher gelieferten der wertvollste und
der bedeutung der person und des gegenständes angemessenste. Der herr Verfasser
hat es sich zur aufgäbe gemacht für Herder dasjenige zu leisten, was dieser selbst
in der zeit des ersten aufschwunges als einen tribut der dankbarkeit für lehrer und
Vorgänger in philosophischer culturgeschichte und theologie teils enla'ichtet hat, teils
zu entrichten sich vorsetzte: aus den schriftstellerischen productionen den geist des
autors zu fiideren und in ihnen das bleibende, trieb- und bilduugskraffcige abzuson-
dern und vor dem verkommen unter und mit dem ephemeren und veralteten zu
schützen. Dem zweiten teile der aufgäbe war nun das abgrenzen und ausschliess-
liche bearbeiten eines bestirnten gebietes ungleich günstiger als dem ersten, der
nur einer ebenmässigen betrachtung sämtlicher leistungen Herders gelingen kann.
Der herr Verfasser freilich glaubt mit Herders theologie dasjenige herausgegriffen zu
haben , was das eigentliche centrum seines lebens und strebens gewesen ist (s. lU.
s. 4) , und somit von seiner seite am tiefsten in die schriftstellerische und mensch-
liche persönlichkeit überhaupt eindringen zu können. Aber unverkenbar dient die
mehrzahl der leistungen Herders dem kosmologischen , nicht dem theologischen inter-
esse ; selbst von den in folge der unglücklichen dreiteilung seiner werke in der theo-
logischen section der gesamtausgabe untergebrachten schriften sind mehrere der cnl-
turhistorischen oder ästhetischen klasse zugehörig. Herders stand entscheidet über
die frage nichts. Es ist leicht zu ersehen: warum Herder theologe geworden und
bei dem stände verblieben, und was dies seinen schriften für eintrag gebracht hat.
Zunächst durch die zwingenden umstände auf das Studium der theologie angewiesen
hat Herder bald mit vollem bewustsein den geistlichen stand gewählt, weil er hier-
durch am sichersten zu seinem ziele zu gelangen hoffte, auf „die grossen*' und für
die cultur „des gemeinen mannes'' zu wirken. Die reihe der enttäuschungen , die
er sich durch diesen fehlgriff bereitet, schlicsst mit seinem bekentnisse: „er habe sein
leben verfehlt'* Die von dem herrn Verfasser (s. 88) bezweifelte „ echtheit dieser
Überlieferung" und die eben gegebene auslegung ist durch Herders nächste angehö-
rige verbürgt. (G. v. Herder im vorbericht des VI. bandes der Adrastea s. U). Das
streben sociale ideen zu verwirklichen, bis jetzt (wie Herders reges politisches Inter-
esse) wenig beachtet, hat also auf die standeswahl entschiedenen einfluss geftbt.>
(Bückeburger antrittsprodigt. 1771. W. z. B. u. Th. Y. pred. I). Geschichte ist der
1) Der herr Verfasser hat s. 24 selbst eins von den zahlreichen leugniBsen ange-
führt, legt aber s. 138 alles gewicht auf den grund: „Def bibel zu gefallen war Her-
der theologe geworden.*' Der wichtigen stelle in den ProvinzialbUittem Ab Predigtr
s. 80 — 82 , über den lebensgang eines theologischen freundes , hat er nicht angemerkt,
dass sie zum grossen teil ein verhülltes selbstbokentnis ist. Zu beachten ist auch Her-
ders Äusserung über standeswahl und geistlichen stand im „ Kenotaphium des dichters
Jacob Bälde." Terpsiohore III, 19 fg. 37 fg.
ÜBBB WISRNER, HBBDEB ALS THB0L06B 491
begriff, dem sieb die haupteumme der Herderschen arbeiten unterordnen lässt; dem
streng theologischen verbleibt, abgesehen von zünftigen arbeiten (predigten, cate-
chismus u. a.) ein erheblich geringeres capital.
Der herr Verfasser hat umgekehrt von solchen Schriften, die nur in entfernter
beziehung zur theologie stehen, möglichst viel herangezogen, und heterogenes (z. b.
Herders ästhetisch -kritische arbeiten in abschnitt I. s. 5 — 44) berücksichtigt Andrer-
seits ist ihm (eine folge der unvorteilhaften anordnung der gesamtausgabe) einiges
näher zugehörige aus dorn bereiche der beiden andern sectionen^ (Zur Pbilos. und
Gesch.; Zur schönen Litt, und K.) entgangen. £s wäre z. b. durch die aufgäbe des
buches bedingt gewesen , ^e gedanken Herders von der eidstenz nach dem tode dar-
gestellt zu finden. Der herr Verfasser hat sich die Untersuchung erlassen, bei der
vorzüglich sich herausgestellt haben würde, dass Herder in exoterischer darstellung
(Z. R. u. Th. y. pred. XIX) sich dem kirchlichen begriffe anbequemte, mit welchem
seine philosophische Überzeugung sich kaum noch berührte (Gespräche über die See-
lenwanderung u. a.), ein verfahren, zu dem er sich überhaupt für berechtigt und
verpflichtet hielt (pred. lY). Der herr Verfasser hat nicht beachtet, mit welcher
wärme und in welchem sinne Herder, Lessing beipflichtend, Leibnitz verteidigt, des-
sen „begriffe von der Wahrheit so beschaffen waren, dass er nicht vertragen konte,
wenn man ihr zu enge schranken setzte." „Wegen dieser grossen art zu denken,
sich gern allem anzuschmiegen, damit er alles nutze und für sich gebrauche," „hielt
er ihn wert." (Herder, Gott. I. ausg. s. 142 f.). Dies anbequemen an das herge-
brachte ist an Herders theologischer vor- und darstellungsart nie ausser acht zu las-
sen. Hieraus erklärt sich die Unklarheit in seiner Christologie. Statt scharfsinnig
Widersprüche aufzusuchen muss man in diesem falle die schwierige sonderung von
kern und hülse vornehmen.
Wir erblick^n also in dem buche zwar nicht den centralen, aber doch einen
hochwichtigen best^ndteil im gesamtbilde Herders, das ohne eine eingehende kent-
nis . und prüfung seiner theologischen Schriften immer so mangelhaft und unrichtig
ausfallen wird , wie wir es bis jetzt in den bedeutendsten litteraturgeschichten finden.
Es ist einmal unmöglich Herder in einen ästhetischen philosophen, philosophischen
historiker und theologen zu zerlegen, und nach einer (meist auch nur unvollkomme-
nen) Prüfung der beiden ersten selten den ganzen mann zu beurteilen. Durch dies
verfahren eben sind in die Charakteristik Herders irrtümer eingeschleppt, zu deren
Widerlegung es nur der objectiven gegen überstellung des noch unberücksichtigten
matcrials bedurfte. Der herr Verfasser berichtigt also viel schiefe und willkürliche
urteile,^ die, durch einen gewichtigen nameu sanctioniert (314 f. 414. 422), weiter-
gesprochen und geschrieben werden. Man ist ihm also sogar da zu danke verpflich-
tet, wo er seine grenzen überschreitet
Andrerseits ist auch in der geschichte der protestantischen theologie eine
empfindliche lücke durch das buch des herm Werner ausgefüllt. Man wird ihm recht
geben, wenn er zusammenfassend (s. lY) Herder als „den prophetischen typus der
gesamten modernen theologie" kenzeiehnet und damit sein buch „einer einleitung
in die geschichte der theologischen neuzeit" gleich stellt. Dass er auch in der theo-
logischen litteratur mancherlei halbrichtiges und unrichtiges zu beseitigen gefunden
hat, zeigt fast jeder der neun abschnitte (besonders HI. VIIL IX). Seinen eigenen
1) Der anhang (s. 419 fgg.) beweist, dass der herr vetfiisser die Schriften dieser
sectionen zum teil erst während der arbeit genauer kennen gelernt hat.
2) So Ilettners sonderbare ansieht von einem nacbbaltigen einlTusse RousseauB auf
Herder, s. 24.
492 8UPHAK
theologischen Standpunkt lässt er unbillig hervortreten , wenn er einerseits Juden und
katholiken verwehren will aus Herders theologischen (und den davon untrennbaren
philosophischen) ideen zu entnehmen, so viel ihnen zusagt, und andrerseits ihn ,,der
(doch) kein mann der parteien ist,** als Schutzpatron allein für die frei protestantische
richtung in anspruch nirat (III f.).
Dem verständigen grundsatze, „mehr auf eine vollständige objektive darstel-
lung; als auf eine kritik des Hcrderschen Standpunktes** auszugehen, ist der herr
Verfasser fast überall treu geblieben-; auch darin, dass er „oft Herders worte und
Wendungen eingeweht** hat (s. IV), und während er glaubt hierin des guten etwas zu
viel getan zu hahen, finden wir, dass er hierin noch freigebiger mit Herders, noch
karger mit seinem material hätte wirtscliaften sollen. Niemand wird, wenn es sich
um ein wissenschaftliches referat handelt, die Sorgfalt verkennen, der es gelun-
gen ist , sich gerade an die stelle des autors anzulehnen , die den adaequatesten aus-
druck seiner ideen enthält ; mit paraphrasieren und transfigurieren des sinnes ist nie-
mandem gedient. Auffällig ist es bei der sonstigen wissenschaftlichen treue, dass der
herr Verfasser sich überall mit dem texte der Cottaschen ausgäbe begnügt, ohwol
es ihm nicht unhekant ist, dass derselbe vom Originaltexte nicht selten erheblich
abweicht. ^
Die einteilung des stoffes ist etwas bequem' und hat widerholungen nötig
gemacht. Während die drei ersten abschnitte historisch fortschreitend Herders, des
theologischen Schriftstellers, entwicklung darstellen, suchen die fünf folgenden seine
wissenschaftlichen ansichten und grundsatze unter sammelnden gesichtspunkten zusam-
menzustellen. In folge dieser anordnung ist besonders im dritten abschnitte (Herder
als theologischer schriftsteiler s. 93 — 194), wo nach aufstellung einer chronologischen
Ordnung 2 der Inhalt der Schriften ausführlich angegeben wird, mancherlei, was in
den folgenden capiteln wider erseh^nt, anticipiert, und widerum sind in den späteren
teilen manche historische einleitungen und Verknüpfungen angebracht, die meist in
den zweiten teil zurückgreifen (137 fgg. 3 fgg. 154. 120. 368. 385. 85. 347. 355).
Ein vorteil indessen ist hieraus dem ganzen erwachsen: „gegenüber weitverbreiteten
anschauungen ** (s. 42 fgg. 93 fgg.) gibt der erste hauptteil die objective darstellung
einer schriftstellerischen persönlichkeit, die sich consequent und nach festem plane
(vgl. s. 284 fg.) , wie selten eine andre , entwickelt. Ebenso objectiv setzt der zweite
hauptteil vornehm absprechendem, meist oberflächlichem und parteiischem urteil ein
in den hauptgliedem harmonisch zusammenstimmendes system entgegen, und zeigt
(IV, 169 fgg. VII , 284 fg. 295 fg. 301 fgg.) den engen Zusammenhang desselben mit
den übrigen gebieten , die Herders universaler geist beherschte. Der letzte teil (der
Prediger 377 — 418) und teilweis schon das vorletzte capitel (354 fgg. 359 fg. kircl»e
und kirchliche reformgedankeu) gibt historisch und systematisch ein anziehendos bild
der hohen bedeutung, die Herder als praktischem theologen gebührt.
Auf den Inhalt im einzelnen einzugehen müssen wir uns versagen ; neues und
treffliches zu sammeln und zu sagen ist dem herrn Verfasser, der auf seinem felde
1) S. 55 wird der Originaltext der Fünfzehn (nicht zwölf, wie 8. 128 steht) Pro-
vinzialt>lätter An Prediger, wie eine verlorene handschrift behandelt.
2) Der herr Verfasser bemerkt (s. 128) selbst, dass die „meisten der letzten theo-
logischen arbeiten'* schon Vorjahren, theilweise noch in Bückeburg geschrieben seien.
Er hätte daher , statt sie einfach der letzten pcriodo samt und sonders einzureihen , versuchen
sollen (wie es bei vielen ästhetisch -historischen Aufsätzen möglich ist) früheres und spä-
teres zu sondern und das erstere mit den Schriften der vorweimarischen periode zusam-
menzustellen.
ÜBER WEBNER, HERDER ALS THEOLOGE 493
fast keinen Vorarbeiter hatte,' häufig gelungen. In den specifisch theologischen
stücken wird jeder von ihm lernen , da er hier über das material die unbedingte her-
schaft hat. . Ohne für seinen autor zu günstig eingenommen zu sein, bisweilen sogar
mit etwas zu hoher Schätzung des heutigen wissenschaftlichen Standpunktes (277.
106 f.), hat er das entwertete ausgesondert, und es ist daher der beachtung ausser-
ordentlich wert, wenn er z. b. von Herders „letzten theologischen arbeiten" (Vom
' geist des Christentums. Von religion, lehrmeinungen und gebrauchen) sagt: „sie
Verdienten als ein classfsches zeugnis des theologen unter den classikern unserer zeit
produciert zu werden" (s. 128); — wenn er es beklagt, dass nur sechs und zwanzig
predigten Herders gedruckt sind' (s. 379) ; die briefe über das Studium der theologie
als „eine ausgezeichnete einleitung in das Studium ... zum teil heute noch" bezeich-
net (s. 120 fg.); Herders katechismus „ein werk nent, das jeder unbefangene und
urteilsfähige leser getrost dem lutherischen an die seite stellen wird ," da „ in dem
büchlein mehr Weisheit, mehr demuth, mehr pädagogik steckt, als in zehn neueren
katechismen."
Wo herr Werner sich auf das gebiet der nicht theologischen litteraturforschung
begibt , ist sein urteil weniger zuverlässig. Nach Hettners Vorgang zieht er dem ein-
flusse Hamanns auf Herders entwicklung ungebührlich enge grenzen (18fgg. 105).
Irrig ist die bemerkung: „nur theologisches befinde sich unter der menge von arbei-
ten, die von Herder in Königsberg vorbereitet und begonnen seien" (s. 21). In der
richtigen annähme von frühen Spinozastudien Herders hat sich Werner von Hett-
ners auf sehr unvollständiger kentnis der zugehörigen quellen ruhender meinung frei
gemacht (s. 38); doch ermittelt er über zeit und fortgang dieser Studien nichts genaue-
res und versucht nicht die spinozistischen lehren in den frühen theologischen Schrif-
ten Herders (sogar in den Bückeburger predigten) nachzuweisen. Er vermutet (s. 38)
hierbei eine von Lessing persönlich ausgehende anregung und bringt doch (s. 58)
selbst die briefstelle, durch welche diese Vermutung sich widerlegt. Eigentümlich
contrastiert die bemerkung (s. 48), „Herder sei in der polemik zu mild und friedfer-
tig gewesen " mit der behauptung (s. 94) : „ mit der Herderschen Individualität sei
notwendig verbunden die leidenschaftlichkeit der spräche," zwei urteile, die in sol-
cher allgemeinheit gleicherweise falsch sind. Über den wechselverkehr zwischen Her-
der und Goethe wird (s. 61) ungenügend abgeurteilt. Misraten, indem irrige und
richtige beobachtungen sich mengen , ist die beschreibung Herder3chen stils (94 fg.
103. 111); scharfe Charakteristik mit sparsamen, streng zugemessenen und knapp
anschliessenden prädicaten würde sich überhaupt an mancher stelle (s. 113) vorteil-
hafter ausnehmen als tautologische Schilderungen.
Hierbei (da nach Herder „ muttersprache der landesehre fuhrwerk ist; und man
über sie schärfer halten , über ihre reinigkeit mehr eifern muss , als über der zarte-
sten liebsten ehre") eine beschwerde über einige verunglückte Wortbildungen des Ver-
fassers: s. 178 geordnetheit. 64 zugeknöpftheit. 194 nichtlügenhaftigkeit. 347
(modernes) Tetzeltum. 83 egocentrische moral. 360 erziehlich; dazu (334) der gal-
licismus „es ist — dass" (c'est — que).
Wir wünschen , dass das buch sich und dem trefflichen manne , dem es geweiht
ist, bahn brechen möge durch den schwall der ephemeren tageslitteratur , und glau-
ben es auf Goethes wort hin : „Was in der zeiten bildersaal Jemals ist trefflich gewe-
sen, Das wird immer einer einmal Wider auffrischen und lesen."
BERLIN, 23. AUGUST 1871. B. SUPHAN.
3) Nicht berücksichtigt ist die monographie von J. E. Dibbits: Herder beschouwd
als theolog inzonderheid als verklaarder van der bybel. Utrecht 1863.
ZE1T8CHR. P. DEUTSCHE PHILOL. BT>. III.
32
404
NAOHTBÄOL. BEMEBKÜKGEN ZÜB ABHANDLÜITO ÜBEB DIE EDDALIEDEB.
G. Zu s. (> z. 24. In dun werten: .,. . indem sowol die Isländer als Saxo die
^('Siunt-o «liinisdio Ha^eii^esclnditc mit sachsonkrio^cn , englandszü^en und nordliuni-
l>risdh«n orob«Tniif(on durrliwobcn sein lassen, ein beweis, dass die dänische sagen-
»,'eschichto auf «Ifin wejyc durch die eigentliche sogenanb» Wikingszeit (c. 850 — 103*»)
<'ine j^iinzliehe uni^estiiltung durchlebte *' ist das wo moplioh noch schlagendere Ver-
hältnis unerwähnt geldieben, dass diese sachsenkriego zugleich kriege mit .«sächsi-
schen" (ileutscheu) ., königen** sind. Vor Karl dem Crossen hatten die Sachsen
keine könige. Eine solche gestaltung der sagen. .ist also jünger als seine zeit. — Da
der Norweger (Htar (Ohthere) in dem von könig Alfred bewahrten berichte seine reise
nach dem Hiarmalande (am weissen meere) offenbar als eine erste entdeckun^reise
durch bisher unbekante gewässer darstellt, dürfen wir folgern; dass die sa^^n von
WikingszQgen nach dem ßiarmalande erst nach dieser entdcckuugsrcise entstanden
sind. Dieselbe wurde aber erst zur zeit Harald Schönhaars, in der letzten hälfte
des iK Jahrhunderts, unternommen.
7. Zu s. 17 z. H. 13. Guttormr: Godomar bleibt jedenfalls hieher gehöriges
s|>rachlichcs indicium, nämlich auch wenn Guttormr ein acht norröncr name sein
sollte. Denn da er jedenfalls von Godomar divergiert, und dennoch hier dieselbe
person bezeichnet, haben wir einen wenigstens ebenso beweisenden fall vor uns wie
in Sigurdr (o: Sigwart): Sigfrid. — In der norrönen spräche hatte man einen eigen-
namen .Tarpr (Flateyjarbok 111, 567), welcher es also um so wahrscheinlicher macht,
dass Erpr eine aus «lem deutschen entlehnte form ist
8. Zu 8. 2(), z. 20 — 21. Die worte „Winge ^ und" nebst der anmerknng 3
sind durch versehen hineingekommen, und sind zu streichen.
0. Zu H. 22, anm X Ich bin, seit ich dieses schrieb, zu der fiberzeugung
gelangt, dass die authentie der in sagas citiertcn Skaldcnlieder in weit bedeutende-
rem umfange zu läugnen ist, so auch der in dieser notc genanten, am entschieden-
sten der dem Egill Skallagrimsson zugeschriebenen. Es wird aber diese frage eine
weitläufigere erörterung erheischen, die sich besser in anderem zusammenhange wird
geben lassen. — Die authentie des Ynglingatal habe ich schon in der abhandlung
aufs entschiedenste geläugnet. Zu bemerken habe ich noch, dass sich dasselbe zum
teil auf dänische konigssagen gründet, was ja auch schon daraus erhellt, dass es
jedesmal die Schweden den Dänen unterliegen lässt; die dänischen konigssagen wer-
den ja aber erst nach der zeit des vorgeblichen Verfassers des licdes nach Norwegen
gelangt sein (vgl. oben s. 20).
10. Zu s. 72 z. 1.'). Der satz „Einem Christen würde es [das lied VoluspaJ
nicht zuzuschreiben sein" ist viel zu bcstimt hingeRt4dlt. Ausser der verdächtigen
stelle hrcrär munu herjask usw. , haben wir auch noch die über die höllenstrafcn , wo
besonders die bestrafung der Verführer (panm annars glcpr eyrarüuü) unheiduisch
und unn(>rdisch scheint, und dann noch vollends das munu systnnigar sifjum sinJla,
welches nur aussagen kann , man werde in verbotenen graden heiraten. Doch ninss
man natürlich einräumen, dass eben solche stellen interpoliert sein könten.
11. Zu s. 7i» — 80. Was ich über Vcdel Simonscns (hier in Kopenliagen wol-
bekante) ])riorität in der lehre vom „stein-, bronze- und eisenalter" schrieb, wurde
im „Ausland*' nr. 18 unter dem titel „ein vergessener archäologe'* abgedruckt. Am
13. mai d. j. sante ich darauf folgende erklärung an das „Ausland," wo sie in nr. 21
gedruckt steht:
„Vedcl Simonsen war ausserhalb der Kopenhagener archäologischen kreise ver-
gossen ; hier in Kopenhagen freilich , wie ich bereits andeutete , nicht eigentlich ver-
gessen. Was mir aber bis vor wenigen tagen ganz unbckant war, ist, dass schon vor
mir <;in junger Däne, W. Hom, in einer wenig gelesenen, nach kurzer existenz erlo-
schenen Zeitschrift {Tulskn'ft for TJirorie 0(f Praxia, I, 18()<>, p. 322) die prioritat
V. Simonscns (kurz und zicndich zunlckhaltend) öffentlich erwähnt hat. Doch ist
W. Homs erwähnung meines Wissens wirkungslos und fast unbckant geblieben, so
dass es hicmit ganz wie in dem von mir in Zachcrs undHöpfners zeitschr. III, p. 80,
notc 3 be8])rochenen verhältni.sse gegangen ist."
Es erscheinen hier jährlich so viele archäologische abhandlungen, die alle
wesentlich ein und dasselbe enthaltim, dass es nicht zu erwarten ist. daas jemand
sie alle lesen würde. Also wäre es vielleicht noch möglich, dass die lierren Worsaae
und Flngelhardt W. Horns erwähnung nicht erfahren hätten , und dass man ihr myste-
riöses stillschweigen solcherweise zu erklären hätte.
KOI»KNIIA0EN . Iß. SEPTRMBKR 1871. R. JESSEN.
I. SACHKEGISTEK.
Albrecht v. KemoDaten. Charakteristik 240.
S. Alexis, hss. 212. 5.
alHtteration s. metrik.
altfranzösisch, i und j 92. s. Guil-
lauine le clerc.
altnordisch, lautlehre: anlautend
j und V vor o u y ö od ü y nirgends
erhalten , auch nicht in der Edda, zeit
des abfalls unsicher 26 f. anlautend v
vor r archaistisch erhalten 27 ff. —
formenlehre: postposit. artikel in
den Eddaliedern selten , häufig nur im
Härbardsl. 31. — stil: kenningar
nur in den reimversen (drottkv. und
rünhenda) u. d. jungem foruyrdalag
eigentümlich und häufig 41. in die
Edda erst aus den Skaldengedd. ein-
gedrungen 42 ff. abgeschmackte ken-
ningar 43 a. 1. in verschiednen lie-
dern verschieden häufig 42 f. kennin-
gar in der Skidarima 228. — prophe-
tierende und memorierende darstellung
der sage un volkstümlich 55 ff. 71. —
s. Edda, norroen.
angelsächsisch, spräche, decom-
posita 405. composita mit dem part.
praet. 405. singular des verbs nach
plur. des subj. 394. ge- ge- ge- 401.
pe relativ 401. on adverbial 402.
seoddan causal 403. genitiv instru-
mental 405. constructiou von helpan
411. — litteratur. behandelt nicht
einheimische sagen 4. zeit der ein-
führung 6. — geldverhältnisse
415. — . s. Beovulf , metrik.
Aude s. Gerh. v. Viane.
Benoit de Ste. More. 372 ff. vgl. Heinr.
V. Veldeke.
Beovulf. Sage nordisch 4. gestalt und
alter derselben 4. G. erwähnung der Ni-
belungensage 18 f. 400. Völkerverhält-
nisse 400. begrenzung des 2. liedes 40G.
Bjarkamäl 22.
Bürger, epigr.: Die list Penelopens 371.
conjunctionen. also = ebenso 361.
als nach dem comparativ 362. bis =■
so lange als 362.
consonanten. assimilation der denta-
len und gutturalen in süddeutschen
diall. 316. tw und dw wechseln im
nd. 323. Wechsel von dw, tw mit qu,
w 326. auslautendes h und w gehen
in n über 356. Wechsel von 1 und n
350. ud. bb 357. — lautver Schie-
bung bei tw und dw nicht streng fest-
gehalten 323.
Cramer. Ode beim abschied der gebrü-
der Stolberg 371.
cretinen 331 f. schutzgeister des hau-
ses 332. 336. landschaftliche benen-
nungen 333 ff. alter des Übels 337 f.
durch feen verursacht 332 f. Stellung
im bürgerlichen recht 338 f.
Dänisch, sage, vor der Wikingszeit
in England , nach derselben in Norwe-
gen eingeführt 6 f. hier willkürlich
geändert 7. 20. Starkadsage urger-
manisch 70 a. 2. Nibclungensage mehr
nach deutscher als nordischer form 23 f.
Kräka und Ragnar norrcen 70. Ermen-
richsage bei Saxo 23. 45. Helge Hun-
dingstötersage 22. 45. Ragnar Lod-
broksage6f. entstehungszeit21. Rolfs-
sage 4. 22. Gudfred 20. — litte-
ratur. rest eines altdän. liedes von
der Braavallaschlacht 7 f. — Kämpe-
viser z. th. norrcßu beeinfiusst 23 a. 3.
69 f. namensformen zeigen isländischen
einfl. 61» a 5. — Saxo hat norrcene
specialsagen 70.
Dänemark ein reich 4. 20 a. 4. erwäh-
nung in der Nibelungensage 13 f.
dialecte. Schaffliausen 104. grenze
zwischen alem. und schwäb. 164. 167.
496
I. 8ACUREGISTBR
»amen für den aleniaun. dial. 163. 165.
gau- diöcesan- dialcctgrenzen nicht zu-
sammenfallend 166. 196. — bedeutung
des übergeschriebenen e in bair. hss.
173. — fränkisch und mitteldeutsch
(binnend.) identisch 185. ausdehnung
des fränkischen 188. Siebenbürger Sach-
sen haben fränk. dial. 188 f. — thürin-
gisclier dial., verhältn. zum fränk. u. and.
mitteldeutschen 186 ff. Ruhlaer mund-
art 196 f. — mitteldeutsch (binnen-
deutsch), begriff und umfang 184 ff.
mitteldeutsche schriftspr. im MA. 198.
mhd. schriftspr. seit dem XIV. jh. local
gefärbt 198.
Eckenlied, recensionen 243.
Edda Saemundar. heldensage süd-
germanisch 3. 47. 49. galt auch im
norden stets als deutsch 8. quellen der
nordischen fassung 9. quellen der deut-
schen fassung 9. unterschiede beider
10 f. kriterien für die heimat der sage
12 ff. geographische Verhältnisse in
beiden sagen gleich ; localisierung in
Deutschi. 12. ethnographische verhältn.
12 ff. die historischen personennamen
deutschen Ursprungs 15. form der namen
desgl. 16 f. 19. 83. 252. einwanderungs-
zeit der sage 17 ff. 19. 22. 81. Nor-
roene zutaten 22 f. 46 f. 62 f. — göt-
ters age. christliche einflüsse 24. ur-
germanisches 68 f. in der Edda jüngste
raythenentwicklung 77. — lieder
norrcen u. verhältnismäss. jung, sprach-
liche kriterien: reste v. anlautendem j
und V vor o u y usw. nicht erhalten 26 f.
vr anlautend dialectisch und archaistisch
27 ff. postpositiver artikel vermieden
31. junge fremd Wörter 31 f. — lan-
desuatnr norwegisch u. isländisch 32 ff.
35. 44. 72. — - anklänge an das Chri-
stentum 38. beziehung auf die Vikings-
züge 38. 45. Norrcene geogr. anschau-
ungen 38. sociale Verhältnisse in Hä-
vaniäl und Rigsmal norwegisch 39. —
metrische anzeichen jüngeren alters 40.
stilistische 40. anhäufen von kennin-
gar 41 ff. — Verknüpfung mit der Helge
Hund, und Ermenrichsage 46. 63. mit
der Dietrichsage 47. Grönländische lie-
der 50 f. bczeichnung „inforua" 51 f.
absichtliche nichtbenutzung einzelner
lieder durch die Völsungasaga 54. —
form und darstellung nnprimitiv und
unvolksttimlich 55 ff. erzeugnisse eines
litterarischen christlichen Zeitalters 57 f.
Überreste älterer dichtung 58 ff. ästheti-
scher wert der einzelnen gedichte 58 ff.
Vermutung über den Inhalt der lücke in
der hs. 57 a. 1. 59. 60. Vollständigkeit
der samlung 60 f. götter lie-
der. Verhältnis zur Snorra Edda 49.
reste älterer , echt volkstümlicher lieder
in derselben 64 ff. alt sind prymskv.
und Skimismäl 68. die andern auf Island
entstanden 71 ff. einfluss deutscher hel-
densage 72. — einzelne lieder:
Alvissmal samlung von heiti in ironi-
schem ramen 77. dem Vaff)rudnismäl
nachgebildet 76. — Atlamäl spät 40.
45 f. christl. anklänge 38. grönlän-
disch 50 f. 59 f. — Atlakvida spät 40.
grönländisch 50 f. 59 f. — brot af BrjTi-
hildarkvidu wol jung 59. ursprüngliche
gestalt 60. — Fäfnismäl spät, islän-
disch 48. 59. ursprüngliche gestalt 49.
anklänge an Hävamäl 48. reste alter
dichtung 59. — Grimnismäl gelehrt,
isländisch 74. norwegische sage 5. —
Güdrunarhvöt jung, isländisch 45 f. 57.
59. jünger als Hamdismäl 53. — Gii-
drünarkvida I isländisch , jung 59. ruht
auf Gudr. II und Sigurdarqu. III 52 f.
Gudr. n jung 47. 57. 59. Gudr. III
junge isländische erfind. 59. — Ham-
dismäl spät 40. 45 f. grönländisch 50 f.
— Härbardsljod spät 31. 40. gelehrt,
isländisch , XIII. jh. 75. — Hävamäl
norwegisch 29. drei teile 77 f. — Hel-
gaquida Hiörvardssonar , norweg. sage ;
spät 5 a. 1 7. 44. -— Hclgakvida Hun-
dingsbana I Überarbeitung von U 51.
58 f. Verfasser 59 a. 1. beide norrani
45 f. in II ältere reste 58. — Hel-
reid Brynhildar. junges lied 57. 59.
ursprüngliche gestalt 48 a. 1. — Hy-
miskvida isländisch 34. jung 40.
70 f. — Hyndluljod zwei liedor, islän-
dJBcbe getehrBanilceitsprodacto ans christ-
licher zeit 63. ~ Lokasenna. ketzeri-
Bche kritik dea mythoa 72 f. jung 71. —
Oddrunargrätr sehr jung 46. — Biga-
mäl. norwegiache Btandesverhältnissc
39, — Signrdarkvid^a I ruht auf Sigr-
drifumäl u. Fafa., iat jung, iBländisch,
thrisÜich 45 f. 50. 56. S9. Sigurdarkv. II,
altere reste 59. Sigurdarkv. III jung
und ästhetJBch wertlos 57. 59. — Sigr-
drifumäl junges isländ. lied 59. christ-
liche anklänge 38. nachahmung dea
Hävamdl 48. arsprüngl. gestalt 48 a. i.
— Skirnisför alt t>8. — prymskrida
alt 68 f. einllnas auf die dan. d. schwed.
käinpeviaer 69. — Vaffiriiduiamäl. ui-
ajirüngliche form 73 f. — Vegtams-
kvida stützt Hieh auf Völnspä and
prjraakrida 76. der mythos nicht echt
75. — VülsnDgakvida in foma in Hei-
gakv. Hund. JI alter als Helg. Hund. I
51. — Völundarkvida, alter Charak-
ter 44. — Völuspä jong, isländisch,
X jh. 17. 2^. 37. 40. 71 f.
Edda Snorra. Verhältnis zur Edda
Saem. 49. 60. 69. 70. 75. 76. teste
älterer götterlieder 64 tl.
ciseiialter, dänische theorie 78 f. 80.
Encit a. Veldccke.
herzog Ernst, recensioucn 244.
fabliau de la fillc a la borgoise 220.
Tonuclu: den unde läteu 306. toben und
tollen 325. epische, ags. 406. 407.
allittcricrende , altu. 20.
feenglanbe in der Schweiz 232.
Garin 450 f.
Ganten 4.
gebrauche s. sagen,
Qerard de Viaiie, roman de. Inhalt
424 ff. histor. bcstaudteile 42Ö f. 428 f.
die sagestamt aus bui^nndischer gcgond
430 f. 433. 435. 443. 448, töS ff, Ro-
land und Ollivier. EOnuner- und winter-
gott. Baldr and Hödr 430 f, 438. 440.
445. 457. Aude (Alda) befreite oder
verjüngte lenzgöttin 431 ff. 433, 436.
440. 444. kriegerische lenigöttin 441.
Quintaine — RolandBrciten — kämpf von
Sommer und winter 438 ff. Ulingei und
497
Anneli ^^ Ollivier und Aude 445. Gui-
bnrg identisch mit Aude 446 ff. Ger-
hard identisch mit Ollivier 449. 454.
Garin oder Gnerin ein lenzgott 449 ff. —
alte coltstätten bei Vienne 4^. lenz-
göttin christianisiert als Maria 435. 443.
451. Pilatuslegcnde 455 ff. Loheran-
grin 451.
Gisl lUngason viell. vt. v. Helg. Hund. I
59 a. 1.
Goethe, ver&Bser von „der weit lohn"
372. nicht von „der autor" 372. „to-
deslied eines gefangeneu " und „ lic-
beslied eines amerikauischen wilden"
nach Montaigne 475 ff.
Oottachec. stammangehSrigkcit u. spräche
182 ff
Grönlandisohe dichtung 50 f,
Guillaumc 1e clerc, le bcsant de dicti.
quellen 214 ff. 218. spräche 221 ff.
handschr. .222 auin. textkritik 223 f.
accentuation 226. — roman de Fregns
219 a. 1, hestiaire, hsl. überliefemDg
219 f. ta fiUe a la borgoise 220.
handelswege, nordische, im HA, 38a 4.
heldonbnch, Dresdner, entstehungszeit
241. Verhältnis zu den andern recen-
aionen 242 ff. verschiedene Verfasser
243 f.
heldensage. bild Sigurds anf bractea-
ten zweifelhaft 81. 251. isländisches
von Theodorich 81. 25a. s. Edda, dä-
nische, schwedische sage, Virginal.
helme der Angelsachsen 393.
Heinrich v. Veldeke a, Veldekc.
Helge Hundingstötorsage 22. 45.
Herder, einflüssc des aufenthalts in Riga
367. sein stil 369, — znr teitkrltik der
Volkslieder 458 ff. entwürfe Herders für
eine anders geordnete samlung 463.
464 ff. ändcrungen des herausgebers
J. V. Maller 459. 460 ff 467. 468, 470ff
H. als theologe 490 ff,
Hermans (Guillauine ?) de Tassomption
nostre danie (adieui de Jusns Christ ä
notre dame). handschr. 211 f. name
des dichters 212.
bermaphroditen 320,
498
I. SACHBBGISTBA
hölle, clirisÜiche, and antike Unterwelt im
MA. 131 f.
Hanaland in der nordischen sage 13.
Jesus, geschichte von Jesus and seinen
Passionen, französisch 214. 28.
de Johan l'evangeliste , prosa, hs. 213, 6.
Jngement de dieu, sermon en vers 213, 11.
Juten , angelsächsische namensfomi 400 f.
isländisch, sprachform der neuem zeit
(seit d. XIV. jh.) 229 f. — jüngere litte-
ratur: die Skidarima 227 ff. kenningar
228 f. sprachform 229 ff. vocalismus,
consonantismus 229. flexion, syntax 230.
wortscliatz 231.
Kämpeviser s. Dänische litteratur.
Kaspar von der Koen nicht vf. des Dres-
dener heldenbuchs 241 f.
kenningar s. altnordisch.
Laurin , recensioucn 242 f.
lautverschiebung, s. consonanton.
leichenbestattung im MA. 134 ff.
Loherangrin s. Gerard de Viane.
Ludwigslied, hs. u. hsl. text 308 ff.
S. Magdaleine 213, 14.
Manderscheidt, hss. der grafcn v. M. 96.
Margaretenleben 213, 21.
Ste Marie Egiptienne, hss. 212, 4.
du möpris du siecle 213, 13.
metrik. althochdeutsche: tactver-
hältnis der verse 208. 302. silbenmes-
sung 303. — mitteldeutsche im
Rother: hebung: hochtonig 256. tief-
tonig 264. verschleifung, clision, Unter-
drückung des ticftonigen e vor liqui-
den 265. schwebende betonung 270. —
Senkung, doppelte: nach hochtoni-
ger hebung 256. nach tieftoniger 264.
nur tieftonig 257. selbständige werte
in dopp. Senkung 257 ff. 265. jede von
beiden Senkungen kann zweisilbig sein
266 ff. verschleifung 266. synaloephe
267. — - mehrsilbiger auftact 270. —
gruppen von drei reimzeilcn 268. —
in anderen mitteldeutschen ge-
dieh ten des XII. jh. (Hartmann v.
geloub., Lampr. AI., nrh. Tundalus, nrh.
herzog Ernst, gr. Rudolf, Karl u. Galie)
269 ff. doppelte Senkung tieftonig 27 1 f.
selbständige werte in der Senkung 272 ff.
Verhältnis dieser verskunst zur reim-
prosa 276 f. räumliche und zeitliche
ansdehnung 276 ff. Im XTTL jh. all-
mählich durch den mhd. versbau ver-
drängt 277 f. taucht wider auf im neuem
deutschen volksliede 278 f. — nie-
derdeutsche seit dem XIV. jh. mit
der mitteldeutschen stimmend 279. —
altsächsische. Verschiebung des hoch-
tons in einem wort 288. mitteltonige
Silben 292. die silbe hinter der ticfto-
nigen hat in einfachen Wörtern nie den
accent 291. haupthebung, stelle im
verse 284. stärker betont als nebenhe-
bung 287. Verhältnis zur nebenhebung
293 f. haupthebung auf tieftoniger silbe
290. schwebende betonung von haupt-
zu nebenhebung 288 ff. zwischen hobung
und Senkung 305. — nebenhebung
kann fehlen 283. auf verbalpräfixen
292. — zwei hebungen auf einer silbe
vereinigt 282. 288. 289 f. 292. — sen-
ku ng fehlt nach kurzer hoch- oder tief-
toniger silbe 284. 285."" 288. 294. —
doppelte nie nach tieftoniger silbe
295. nicht zulässig zweite teile von
compositen u. mehrsilbige praefixe 295.
selbständige werte in doppelter senkg.
296 f. verschleifung in hebung vor dop-
pelter Senkung 297. in der senkg. 297.
synaloephe, synkope 298. — auftact,
mehrsilbiger 284. klingender versscbluss
284. 30O. — verse, steigende u. sin-
kende 286. zweitactige und viertactige
298. — Silben m essung 304. congruenz
zwischen wort- und versaccent 305. —
allitteration mussauf die haupthe-
bung fallen 284. 285. einzelne lied-
stäbe 285. niclit alle allitterierenden
Wörter gelten als stäbe 285. 289. —
angelsächsische, tactverhältuis der
verse 299 f. pd als hebung ohne fol-
gende Senkung 382. vier stabe im vers
387 f. praepositionen können vor feh-
lender Senkung nicht hebung sein 892.
altnordische, tactverhältuis
der verse 299. ^faldralag 40 a. 8. jün-
gere mctra 40. — allitteration,
freiheiten 27 a. 2. 8. alte allitteriorende
I. 8A0HBBGISTEK
499
formeln auch in jungen gedichten 29. —
reime, unreine, in der Skldarima 229.
mystische litterator in der Lausitz und
Schlesien 197.
mythologie, nordische. Skadi 69.
Skadi und Nanna 444 f. Baldr und Hödr
430. 445. Wffirir 453. üller 444. 454.
cultus von Odinn und Thor 74 a. 2. —
angelsächsische: riesen 398 ff.
mythos. kämpf des sommer- und win-
tergottes im herhst 430. 445. im früh-
ling 431. 438. 440. 445. die lenzgöttin
im Winter schlafend oder alternd, im
frühling geweckt oder neu geboren 431 ff.
aufnähme dieser Vorstellungen in das
langob. recht 432. lenzgöttin im aquae-
duct in der cifel 434. paradies als glas-
berg 435 f. raubvögel = wind 436 f.
papagei, lenzvogcl 437. lenzgöttin als
kampfjungfrau 441. entflieht aus der
macht des wintergotts zum sommergott
444. der wintergott ihr vater oder bru-
der oder gatte 444.
«amen aus der heldcnsage als Personen-
namen gebraucht 16. 17. 19. 82 f. Orts-
namen 84. namenforschung seit Grimm
487.
Nibelungen sage s. Beovulf , Dänische sage,
Edda.
Norrcenn. dialectische unterschiede 27.
— littcratur: Ynglingatal erst nach
dem X. jh. entstanden 20. Ragnars-
drapa Lodbrokar desgl. 21. Bjarkamäl.
die Strophen in der Skälda a]>okryph
22. Krakumal 28. — skaldengedichte
vor 900 nicht authentisch 20 ff. Thjo-
dolfr hinn hvinverski 20. Brage Skald
der alte mythische person 21. lieder
apokryph 28. 51. — Grönländische
dichtung 50 f. — s. Edda.
Norwegisch, einheimische hei-
den sage (Halfss., Pridpiofss. , Orva-
rodss., Helg. Hiörv., Grimnism., Yngl.
s., Hcrvarars.) 5. 44. das meiste ver-
loren, einführung und Umformung dä-
nischer königssage frühstens im XI. jh.
6 f. 20. 62 f. alle diese sagen urspr.
auch in liederform 7. — geschichtc
erst seit ende des IX. jh. zuverlässig 19
Ortnlt, recensionen 242.
Ortsnamen, mythische in der Eifel 434.
Arnsburg, Arnstadt 437. Bolandsquelle,
Baldersbrönd , Tisveld, Tyburn, Roes-
küde 445.
passion s. Jesus.
de SS. Pierre et Paul, prosa, hs. 213, 9.
Pilatus 8. Gerard de Viane.
Bagnar Lodbroksage 6 f. 21. 70.
rechtsaltertümer. erbunfähigkeit ge-
brechliächer oder misgestalteter 317 ff.
mythische Vorstellungen im langobard.
recht 432.
reim s. metrik.
Bichmodis 433.
Roland s. Gcrard de Viane.
romans des romans , hss. 214 , 22.
Rosengarten , recensionen 243.
Roth er. textüberlieferung 254 ff. 278 a.
metrik 256 ff. emendierungsvorschläge
267 ff.
runeninschriften enthalten keine skandi-
navische Ursprache 26.
sage, nordische bei den Angelsachsen 4.
sächsische in Island 314 f.
sagen und gebrauche, wallen, herr
Ameil 432. 448. aus dem Scheintod
erwachende frauen 432. 433. 444. alte
oder hindin im frühjahr verfolgt 432.
433. Wasserleitungen Schlupfwinkel von
feen 434. glasberg 437. schlafende
königstochter 432. 437. waffenspiele als
frühlingsfest 437 ff. Rolandsreiten 438.
Irmenreiten in England 439. Verbren-
nung des winters als Strohpuppe 439.
zersägung der alten 441. sagen von
Garin 450 f. Richmodis 433. frühlings-
bären 452.
Saxo s. Dänische sage und litt.
Schwedische sage 4. ohne einfluss
I auf die norrcene 5. 32. durch norroene
) beeinflusst 69. — schwed. sprach-
i forschung 233. — altschwed.
spräche, charakterist. unterscliiede
vom altnordischen 235 f.
Seeland in Schweden 5 a. 2.
Sigenot, recensionen 243.
Sprichwörter in Hävamal , Sigurdarkv. U,
Fäfnism. 48.
500
U. WORTBEQISTEB
SuUy, Morisses de, biscliof v. Paris,
predigten 214. predigt in I. dorn. sept.
215 ff. quelle des Guillaume le clerc 218f.
Tobie 213, 20.
Turpins chronik enthält burgundische sage
431.
ülinger und Anneli 445.
Umlaut im mitteldeutschen 199.
Veldecke, Heinr. v. , Eneit. verhältn.
zum roman d'Eneas des Benoit de S.
More lOÜf. 112 f. 115. 118. 122. 12.3.
125. 138. 143. Inhalt und vergleichung
mit Virgil 110 ff. behandlung der anti-
ken mythologie 129 ff. verhalten gegen-
über den antiken gebrauchen 134 ff.
der antiken geographie 137 ff. Übertra-
gung der deutscheu Standesverhältnisse
auf das altertum 139 ff. ästhetische
wiirdigung der Eneit gegenüber Virgil
158 f.
Vilhjälmr saga Sjods 315.
Virginal. ungenau igkeiten und Wider-
sprüche 238 ff. Charakterisierung der
dichtung 240. spräche 240. bcarbei-
tungen 240 f. besserungsvorschläge 244.
vocale. diphthongische ausspr. von got.
ai aü vor h und r 195. quantitat der
gotischen vocale 195 f. — dialcctische
Schwächung und beilaut 193 f. — au
in deutschen dialecten 342 ff. für a
342 ff. für e 340. für i 346. für o
347 f. für u 348. für ü 349 f. für i
351. für ö a51. für ü 352. für iu
353. für ie 353. für au, ou 353 ff.
für aü 355. für uo 355.
Volkslied , neueres , metrik 278 f.
Yölsungasaga , Verhältnis zur EddaSaem.
54. 60.
Wandsbecker Bote 370 f.
wechselbälge 232.
Wielandsage deutsch 16.
Wikingszüge, cinfluss auf die dichtung 6.
21. 38.
Wittenweiler ein Baier 179.
Wolfdietrich, recensionen 242.
Wunderer, recensionen 242.
IL WOETEEGISTEK.
1. GothJsch*
afdaujau 325. 327 f.
dvalitha 328.
dvalmön 324.
dvals 328.
sauil 344.
skohsl 237.
2. Althochdeutsch.
agi 192.
langob. aldia 432.
dawalon 325.
egi 192.
egisüt 192.
manuduiliger 329.
quelan .326.
Tallo 342.
towjan 325 anni.
twalm 328. 340.
twalön 340.
twelan 323. 324. 327.
wäram 452.
widello 320.
wio 436.
zwitarn 320.
3. Mittelhochdeutsch.
md. altvil 319. 339.
md. andelagen 191.
Angelburg 447 f.
ertwelen 327.
getwel 325.
twalmtranc 329.
twelcn 327.
zwidom 320.
4. Neuhochdeutsch
I nebst dialecten.
I aducht 434.
j altwilisch 329.
Arnsburg, Arnstadt 437.
' schmalk. ausegrad 192.
schmalk. ausemer 192.
alem. bära 169.
Burgfey 434.
butze 333.
dalap 340.
dalen 328. 340.
dale watsch 340.
dalk 340.
dalken 340.
Deutschland 363.
dildap 330. 340.
dill 330.
dilledelle 330.
dilledellen 340.
swz. dilli, dildcri 340.
dilpc 340.
dolc 326.
md. döU 340.
dollfuss, -Schenkel, -einen
' 325.
I dolmtrank 32^K
U. WOBTREOISTBS
501
dölp, dölpel 329.
kärnt. dost 334.
dulkezen 340.
dalms, dolms 329.
dwaler 328.
dwalicht 328.
8 WZ. fayer 332.
Feie 438.
feig 332.
feks , fex 331 f.
kärnt. härscherle 334.
Katzfey 434.
bair. kühfenster 179.
Nandl, Nannchen 445.
swz. noi, neil, nölgg 336.
Palette 177.
bair. partecken 178.
bair. politten 178.
bair. tachensclireiber 178 f.
bair. tahe 179.
swz. täU 340.
tallen 340.
sohl, tallsack 340.
scbl. talltail 340.
talmiger 329.
tälsch 340.
Teil 340.
bair. teuchein 179.
tül 341.
tillen, tillazen 340.
TiUmann 341.
toll 340.
tollpatsch 340.
tölpel 340.
steierm. troddel 334.
swz. tschaule 335.
swz. tschörgen 335.
warm 452.
Wechselbutte 333.
welle 326.
bair. ge-zwolen 323.
5. Altsäehsiseh.
dwahn 326.
dwelan 326.
6. Nlederdeutscli.
adncht 434.
altvil 317 ff. 339.
älwatisch 329.
mnd. am 356.
südwf. arn 356.
nhess. Balhom 192.
mwf. baug 356.
bröddig 358.
dalen 328.
dalmerig 329.
daudeln 325.
danein 325.
nhess. dd, de 192.
diu, tili 329 f.
nl. doel 324.
nrh. dol 324.
nl. dol 324.
dole 324. 326.
dolf , delf 329.
nrh. dölhüf 327.
dolwitt 324.
doU, dull 329.
nl. doUe 324. 325.
doUf 324.
doli -körn, -bime, -kirsche,
-würz usw. 329.
dreckdwalger 327.
dudeldop 330.
dukdallen, dukdoUen 324.
duUen 325.
nl. dwaelinghc 324.
dwal 328.
dwalerie 327.
dwaljen 327.
dwälke 329.
dwallen 328.
dwallies 329.
dwalsch 328.
dwälsk 328.
nl. dweelre 327.
dwel 329.
dwelen, dwalen, doien, doe-
len, dalen, dailen 323 ff.
dwelgam 327.
dwelhaffcich 327.
dwelich 329.
dwellecht 327.
dwelling 327.
dwclsch 329.
dwelwech 327.
dwerg 317.
afr. dwila
dwilsk 329.
ostfr. ebengeschmäh 198.
elvisch 321.
nhess. extern 192.
feiig 193.
mnl. int 306.
kobbe 356.
krut 357.
ükemere 258.
mnd. lüter 358.
afr. naut 351.
quillen 326.
spauk 348.
talraen 328.
talmke 329.
TUkappe 330.
fr. tirreltop 330.
toUen, dullen 324. 325.
twalen 324.
twalsch 329.
twele 319.
twelich 329.
twil 319.
twiUen 319.
twUlet 319.
twilsch 329.
mnd. vele stan 357.
welle, wellen 326.
7. Angelsäehsiselu
aerist 405 f.
ägend 415 f.
attorcoppa 356.
on bearm dön 396.
böh 356.
coppa 357.
egl 391.
Ellengäst 383.
cotenas 398 ff.
fiele 193.
feorm 386 f.
firen ondrysne 402.
fisc 388.
forvyrnan 396.
frätve 413 f.
I freme 402 f.
i getav 386.
' gevendan 385.
502
II. WORTKKd ISTER
glädman 38H.
guilrec 395.
hands])oru 3(M).
helpan 411.
hcoro- 4<)8.
hondslyht 414.
hygcmaxl 413.
lenge 382.
niägcnes 411.
rnod 402.
mundgripe 403.
nicor 388.
ünd8l3'ht 414.
scotcn 392.
8eo<tdan 403.
svegle 411.
sveorfan 412.
vala 392 f.
valu 393.
voroldrajden 39(i.
8. Enirlisch.
cob 357.
dial. dwaule 32H.
dwell 32G.
fale 193.
fellow 193.
9. Altnordisch.
iilpa 231.
aoH 231.
bar<tr 231.
Brede 82.
brjöt 231.
brumla 231.
brüiii 231.
bupp 231.
bynluin 231.
byst 231.
danga 231.
dreki 31 f.
drukklangr 23 f.
fin 233.
! flür 231.
I forsnia 233.
Godpjod IG a. 1. 17.
I Guttormr 17.
I gylla 231.
I Hamdir 17.
I harki 231.
baust 344.
herra 231.
I Hlödver IG.
I hrakföll 231.
! Hreidgotar 72 a. 1.
I breingälku 34.
brodr badmr 7G a. 2.
Hünaborg 84.
Jonakr 17.
! jökull 37.
jötunii 398.
jungr 233.
' kaklast 232.
kalkr 31 f.
kampa-sidi 232.
kciigr 232.
kingr 232.
kista 31 f.
' kratti 231.
I krippa 232.
i kvittr 2133.
I lif 232.
I loppa 232.
! hiiun 232.
liikka 232.
nialir 232.
: neyta 232
' iiistill 229.
1 par 233.
piii 232.
rakna 2.32.
Kata 29.
roidigangr 232.
ruigja 30.
-sag 229.
sjäfar-rok 229.
Sigfrödr 19 f.
Sigurdr 17.
sjoli 232.
SiiifjötU 17.
skoltr 232.
skrökkva 232.
skrüdi 232.
slangi 233.
siiitT 232.
stüta 232.
Süd 2:J2.
tciga 232.
teiiii 232.
totr 232.
Imsnar-vers 229.
iiriiiatii 232.
vii 52.
var 452.
Vasrir 453.
! vajrr 453.
I vatua 233.
; vers 233.
Völundr IG.
Yiiiir 37.
i yiigisineiiii 233.
: yiiki 2;J3.
10. Dttnisch.
' giiausliiig :^14.
' llattsgaard G9.
i Locke G9.
' Loio, lA'io G9.
liallv, Ilurhiliiii'kt n.i ilvh W «imiiiIwumw.
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